Schlagwort-Archive: Wolfgang Zwander

Die Fantasien der Vorstadtkrieger

Aus dem FALTER 1–3/2015

In Paris haben Islamisten eine Zeitungsredaktion ausgelöscht. Droht auch in Österreich Gefahr?

BERICHT: JOSEPH GEPP, WOLFGANG ZWANDER

Der Sprecher des Innenministeriums sagt, wir dürften dem Islamismus nicht zu naiv entgegentreten. Die Psychologin sagt, die erste Verteidigungslinie gegen den Terror müsse die Familie sein. Der Islamforscher sagt, die Dschihadisten würden an den Moscheevereinen vorbei agieren. Der Politologe sagt, es gehe nicht um Islamisierung, sondern um Heldenfantasien. Die Innenministerin spricht von einer „Sicherheitsoffensive“, für die sie einen dreistelligen Millionenbetrag ausgeben will.

Nachdem am vergangenen Mittwoch Islamisten die Pariser Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo gestürmt und einen jüdischen Supermarkt überfallen hatten -dabei starben insgesamt 20 Menschen -, wurde schnell klar: Das Verhältnis zwischen Europa und dem Islam hat sich geändert. Es war bislang schon eine angespannte Beziehung zwischen der Religion aus dem Orient und dem Alten Kontinent. Doch seit dem Terrorangriff auf einen der wichtigsten symbolischen Bausteine Europas, die Pressefreiheit, bedarf das Verhältnis womöglich einer generellen Neuüberprüfung.

Warum berufen sich junge Männer auf den Islam, um zu morden? Wie reagieren die Muslime auf diesen Missbrauch ihrer Religion? Welche Gefahr geht vom Islam aus -beziehungsweise von seinen wirren und radikalisierten Interpreten?

Antworten auf diese Fragen betreffen jetzt nicht nur Paris und Frankreich, sondern ganz Europa. Gerade auch Wien, wo sich seit Jahren ebenfalls Islamisten tummeln. Wie sieht die Lage in Österreich aus? Besteht hier konkrete Terrorgefahr?

Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums, sagt: „Es gibt derzeit keine Informationen über konkrete Gefährdungssituationen. Wir dürfen dem Phänomen der islamistisch begründeten Gewaltbereitschaft aber nicht naiv entgegentreten.“ Österreich sei in puncto Radikalisierung für den Dschihad keine Insel der Seligen.

Wien, Graz, Linz, Ende November 2014: Rund 900 Polizisten rücken zur Razzia gegen Dschihadisten aus. Sie durchkämmen Wohnungen, Gebetsräume und Vereinsbüros. 14 Personen werden dabei festgenommen. Von einem der „größten Einsätze in der Geschichte des Staatsschutzes“ spricht Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Die Aktion soll verhindern, dass radikale Kräfte weiterhin Frauen und Männer aus Österreich für den Syrienkrieg anwerben. Bisher haben 170 Personen von Österreich aus den Weg ins syrisch-irakische Kampfgebiet gefunden. 30 davon sind dort laut Innenministerium gestorben, 60 sind inzwischen wieder zurückgekehrt. Gerade von den Rückkehrern, die der Krieg verroht und militarisiert hat, geht hohes Risiko aus. Wer sind diese Leute?

Wenn man die heimische Lage mit der von Frankreich vergleicht, offenbaren sich jedenfalls große Unterschiede. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich führt Krieg gegen islamistische Kämpfer im Irak, in Libyen, in Mali und in Syrien. Dazu kommen interne Probleme in einem Ausmaß, das Österreich fremd ist.

In Frankreich hat die deklassierte vorstädtische Jugend, vielfach Abkömmlinge nordafrikanischer Auswanderer, den Islam neu für sich entdeckt. Weil ihnen fast jede Perspektive auf sozialen Aufstieg verwehrt bleibt, folgen viele von ihnen radikalislamischen Hetzpredigern. Religion vermischt sich dabei mit jugendlicher Rebellion zu einer Art antiwestlicher Popkultur. Das Problem schwelt schon lange. Frankreichs ExPräsident Nicolas Sarkozy sprach von diesen Problemjugendlichen einst als „Gesindel“, das man „wegkärchern“ müsse.

Dass der Extremismus der französischen Unterschicht aber nicht exklusiv mit dem Islam zu hat, sondern generell mit der sozialen Benachteiligung afrikanischstämmiger Franzosen und der Kolonialgeschichte, zeigt niemand besser als Jean-Paul Sartre, wahrscheinlich wichtigster Philosoph Frankreichs des 20. Jahrhunderts. Er echauffierte sich über die Ungerechtigkeit, mit der die „Grande Nation“ ihre Kolonialvölker behandelte, mit harschen Worten: „Einen Europäer zu töten“, schrieb Sartre, „heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“

Österreichs Vergangenheit hingegen stellt keine so große Bürde dar. Die heimischen Hauptprobleme mit dem Islamismus resultieren aus zwei viel jüngeren Konflikten: dem Bosnienkrieg (1992-1995) und den zwei Kriegen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien (1994-1996 und 1999-2009). Flüchtlinge aus diesen beiden Regionen haben radikalislamistische Strömungen nach Österreich importiert. Von den 170 österreichischen Syrien-Kämpfern stammt laut Innenministerium rund die Hälfte aus Tschetschenien, der Rest hat zu großen Teilen Wurzeln auf dem Westbalkan.

Bei der Großrazzia gegen Islamisten im November zum Beispiel holte die Cobra Mirsad O. aus einer Gemeindebauwohnung in der Donaustadt, einen serbischen Muslim. Der Ex-Imam einer Kellermoschee im Stuwerviertel, Kampfname Ebu Tejma, soll 64 Kämpfer für den Syrienkrieg angeworben haben. Die Staatsanwaltschaft nennt ihn einen „Hauptideologen des globalen dschihadistischen Islamismus“. Wien dient den Radikalen vom Balkan gern als Rückzugsort, wie offizielle Vertreter des bosnischen Islams oft beklagen. Die serbische Zeitung Večernje novosti schrieb unter Berufung auf Geheimdienstquellen erst Anfang Dezember von „Al-Qaida-Zellen“ in Wien.

Wie bei den Bosniaken hat der Islamismus auch bei den Tschetschenen mit ihrer Kriegsvergangenheit zu tun. In Wien gibt es eine der größten tschetschenischen Exilgemeinden Europas, eine Folge der hohen Asylanerkennungsquote zu Beginn der Nullerjahre. Die Tschetschenen, viele vom Krieg traumatisiert, ziehen laut Verfassungsschutz eher aus politischen denn aus religiösen Gründen in den Syrienkrieg. Sie wollen dort auf Umwegen ihren Erzfeind, den russischen Präsidenten Putin, bekämpfen -ein wichtiger Verbündeter des syrischen Präsidenten Assad, der im Bürgerkrieg gegen Islamisten kämpft.

Kommende Woche etwa beginnt in Krems ein Strafverfahren gegen den Syrien-Rückkehrer und gebürtigen Tschetschenen Magomed Z., dem vorgeworfen wird, sich im Nahen Osten dem islamistischen Terror angeschlossen zu haben.

Zu Tschetschenen und Bosniaken kommen noch „homegrown terrorists“. Das sind Jugendliche, die sich oft noch im Kinderzimmer im Internet selbst radikalisieren. So war es bei Mohamed Mahmoud, der einen Anschlag auf die Fußball-EM 2008 plante. Später wurde er wegen des „Bildens und Förderns einer Terrorvereinigung“ zu vier Jahren Haft verurteilt. Nachdem er 2011 freigelassen worden war, tauchte Mahmoud in Deutschland unter. Heute wird er in Syrien oder dem Irak vermutet, wo er sich laut Medienberichten dem Islamischen Staat angeschlossen haben soll.

Zahllose Vertreter des Islams in Europa distanzierten sich nun von der Bluttat. Aber was können islamische Organisationen gegen den Terror tun? Kaum etwas, meint der renommierte französische Politologe Olivier Roy. Unberührt von klassischen islamischen Organisationen „erfinden“ sich die jungen Leute ihren eigenen Islam. „Sie streben nicht etwa eine Islamisierung ihrer Gesellschaft an, sondern allein die Realisierung ihrer wirren Heldentumsfantasien.“

Auch für den Wiener Soziologen und Szenekenner Kenan Güngör agieren die Dschihadisten „an klassischen Moscheevereinen vorbei“. Trotzdem, sagt Güngör, brauche es eine andere Diskussion: „Bislang beharrt der größte Teil der Muslime darauf, dass der Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Aber wir brauchen auch eine textkritische Auseinandersetzung mit dem, was die Terroristen als ihre religiösen und geistigen Quellen angeben, was in ihren Augen die Gewalt legitimiert. Wir brauchen eine inhaltliche, theologische Debatte.“

Davon abgesehen ließe sich die Terrorgefahr in Europa auch mit sozialen Maßnahmen eindämmen. Die Soziologin Edit Schlaffer, Gründerin der internationalen NGO „Frauen ohne Grenzen“, hat in von Terror betroffenen Ländern wie Pakistan, Indien und Kaschmir sogenannte „Mütterschulen gegen Extremismus“ gestartet – „ein Konzept, das man eins zu eins auf Europa übertragen könnte“, wie sie sagt.

Die erste Verteidigungslinie gegen den Terror müsse die Familie sein. In zehnwöchigen Kursen lernen die Mütter, wie sie die Gefahr erkennen können und rechtzeitig reagieren, wenn ihre Kinder in Gefahr geraten, Ideologien und Verlockungen von Rekrutierern zu folgen. Was genau dort gelehrt wird?“Selbstvertrauen, um mit den Heranwachsenden zu debattieren und sich einzumischen und einzusetzen. Sie müssen Frühwarnsignale registrieren und in die richtige Richtung kanalisieren. Dafür müssen Mütter sensibilisiert werden. Außerdem sollen sie Wendepunkte in den Biografien der Kinder erkennen können
-das sind oft enge Zeitfenster, an denen sie gefährdet sein könnten, in den Radikalislamismus abzugleiten.“ Schlaffers Fazit: „Dschihadisten treffen Jugendliche immer während einer absoluten Identitätskrise. Dann geben sie den Jungen erstmals das Gefühl, wichtig zu sein.“

Im Moment jedoch dominiert in Europa die Diskussion über Sicherheit. Tage nach dem Anschlag debattierten in Paris die Innenminister der EU-Staaten über neue Maßnahmen. Für Österreich etwa spricht Mikl-Leitner von einer „Sicherheitsoffensive“ :mehr gepanzerte Fahrzeuge, größere Hubschrauber und stärkere Kontrollen auf Autobahnen. Auch eine neue Form der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene ist im Gespräch, wiewohl Frankreich über eine solche ohnehin verfügt – zwecklos, wie sich herausgestellt hat.

Überhaupt stellt sich die Frage, inwiefern mit Sicherheitsmaßnahmen dem Problem beizukommen ist. Die Attentäter von Paris waren polizeibekannt. Geholfen hat das nicht, im richtigen Moment stand niemand bereit, um den Anschlag zu verhindern. Alle rund 3000 Rückkehrer aus Syrien in Europa zu überwachen wäre personalmäßig und finanziell nicht zu bewältigen.

Es scheint, als bliebe als Lösung nur jener Weg, wie ihn etwa Schlaffer vorschlägt: terroristische Karrieren zu unterbinden, ehe sie entstehen. Mit der Hilfe von Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern, Sozialarbeitern, Lehrern und Imamen. Die Schlacht um die Köpfe der Problemjugendlichen wird nur gewinnen, wer ihnen eine bessere Perspektive gibt. Sonst werden einige von ihnen auch weiterhin mit der Waffe ihr eigenes Land angreifen.

Werbung

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Migranten, Minderheiten, Religion, Soziales

„Wien hat stärker profitiert als jede andere Stadt im Westen“

Aus dem FALTER 43/2014

Vor 25 Jahren fiel der Eiserne Vorhang. Der Historiker Philipp Ther zieht Bilanz über das, was danach geschah. Ein Gespräch über Polenmärkte, neoliberale Schocktherapie und Putin in der Wirtschaftskammer

INTERVIEW: JOSEPH GEPP, WOLFGANG ZWANDER

Philipp Ther ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Gerade erschien sein Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“.

Falter: Herr Ther, wie hat sich Osteuropa in den vergangenen 25 Jahren seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft verändert?

Philipp Ther: In Osteuropa hat sich nach 1989 vollzogen, was im Westen bereits in den 1980er-Jahren begann: die Durchsetzung des Neoliberalismus. Dieser wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel geht auf den Thatcherismus und die „Reaganomics“ zurück. Nicht nur der Staatssozialismus, auch die westeuropäischen Wohlfahrtssysteme zeigten immer stärkere Krisensymptome. Das blieb unter östlichen Wirtschaftsexperten nicht unbemerkt. Nach dem Systemwechsel folgten die Eliten in vielen Staaten des Ostens dem neoliberalen Denken in Großbritannien und den USA.

Wie konnte es passieren, dass Staaten so schnell von Kommunismus auf Neoliberalismus umschalteten?

Ther: Trotz des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs waren Ost und West immer kommunizierende Gefäße; einige östliche Wirtschaftsexperten hatten in den USA oder in England studiert, man war informiert über die Lehren und Rezepte der Chicago School. Spätestens nachdem Michail Gorbatschow mit seiner Perestroika und der graduellen Reform des Systems gescheitert war, waren radikale Reformen eine Option. Zudem hatten die Eliten im Osten den Staat ja überwiegend als gängelnd und ineffizient kennengelernt.

Aber es gab doch im Osten auch Anhänger eines Dritten Weges: Intellektuelle, die gegen die Diktatur waren, aber auch keine Rückkehr zum Kapitalismus wollten.

Ther: Das Potenzial eines Dritten Weges wird oft überschätzt. Dieses Schlagwort war mit keinem konkreten Wirtschaftsmodell verbunden, das man schnell hätte umsetzen können. Ein Teil der Demonstranten in Prag und Ostberlin forderte im Herbst 1989, einige Errungenschaften des Sozialismus zu bewahren, aber bald darauf folgten die neoliberalen Schocktherapien. Man kann am Beispiel der Tschechoslowakei auch sagen, Václav Klaus hat sich gegen Václav Havel durchgesetzt.

Wie fällt nun, ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Ihre Bilanz dieser Übergangsphase aus?

Ther: Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man den Blick über Osteuropa hinaus richtet. Neoliberale Reformen gab es in den vergangenen 25 Jahren nämlich in ganz Europa – und in Staaten wie Deutschland, Schweden und in mancher Hinsicht Österreich kann man geradezu von einer Ko-Transformation sprechen, die durch den Umbruch im Osten angestoßen wurde. In Osteuropa selbst fällt die Bilanz gemischt aus.

Osteuropahistoriker Philipp Ther (Foto: Gepp)

Osteuropahistoriker Philipp Ther (Foto: Gepp)

Inwiefern gemischt?

Ther: Man sollte dort nicht nur nach einzelnen Ländern differenzieren, sondern etwa auch nach Regionen oder dem Unterschied zwischen Stadt und Land. Vergleicht man Staaten miteinander, kann man beispielsweise Polen als Erfolgsbeispiel nennen. 22 Jahre lang gab es dort teils sehr hohe Wachstumsraten, die nicht einmal von der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 unterbrochen wurden. Auf der anderen Seite fällt die Bilanz in manchen Staaten sehr negativ aus, in wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht, etwa in Russland und der Ukraine. Dazu muss man allerdings wissen, dass die Krise von 2008/09 die Situation in fast allen Staaten Ostmittel-und Osteuropas massiv verschlechtert und die Bilanz stark eingetrübt hat.

Wo am stärksten?

Ther: Die lettische Wirtschaft zum Beispiel schrumpfte in der Krise um 18 Prozent. Die Regierung reagierte mit eisernen Sparmaßnahmen, zum Beispiel Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst um 25 Prozent. Im Gesundheitsbereich wurden nur noch absolut überlebensnotwendige Operation durchgeführt, die Arbeitslosigkeit verdreifachte sich. Infolge der Krise verloren Länder wie Lettland, Litauen oder Rumänien durch Auswanderung bis zu zehn Prozent ihrer Bevölkerung, unter ihnen viele hochqualifizierte Menschen. Das sind Verluste, die an die gesellschaftliche Substanz gehen.

Zurück zu den Umbrüchen der 90er-Jahre: Wenn man die Lage zusammenfasst, wer waren die Gewinner und wer die Verlierer?

Ther: Die Gewinner waren sicher die Jungen, die sich selbstständig machen oder gute Stellen finden konnten, denen der Staat nicht mehr vorschrieb, wie sie ihr Leben gestalten sollten. Der Verlierer war nach 1989 vor allem die Landbevölkerung, noch mehr als die Industriearbeiter. Die Kolchosen und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gingen massenweise bankrott. In vielen Dörfern gab es dann über Jahre nichts, außer Alkohol. Es war kein Staat da, der etwas getan hätte. Kein Wille, Regionalpolitik zu betreiben. Kein Investor, weil auf dem Land das Kapital fehlte und es wenig Aussicht auf Gewinne gab.

Aber was hat zum Beispiel ein Land wie Polen richtiger gemacht als etwa Russland?

Ther: In beiden Ländern gab es ein vergleichbares Reformprogramm, nicht zuletzt unter dem Einfluss des US-Ökonomen Jeffrey Sachs, der in Polen und Russland als Berater tätig war. In Polen hat es einigermaßen funktioniert, in Russland überhaupt nicht. Der Grund liegt wohl darin, dass es in Polen noch einen funktionierenden Staat gab. Entgegen der Staatsskepsis der Chicago School ist ein funktionierender Staat eine Voraussetzung für den Erfolg neoliberaler Reformen. In Polen wurde der Staat außerdem erfolgreich reformiert, etwa durch Selbstverwaltung. In Russland hingegen wurde die Privatisierung selbst privatisiert, indem man sie von undurchsichtigen Banken durchführen ließ. Russische Oligarchen nutzten die zerfallende Ordnung, um den Staat auszuplündern. Es gab aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt, mit dem sich der Unterschied im Erfolg zwischen Polen und Russland erklären lässt.

Der wäre?

Ther: Es geht um die Frage, inwiefern die Gesellschaften auf den Wandel vorbereitet waren. Also wie die „Transformation von unten“ funktionierte. In Polen haben die Kommunisten als Reaktion auf die Krise des Staatssozialismus, wie etwa auch in Ungarn, relativ früh private Unternehmen zugelassen. Es gab viele Händler, außerdem einen blühenden Schwarzmarkt. Viele Polen und Ungarn waren daher mit Formen der Marktwirtschaft vertraut, bevor diese offiziell ausgerufen wurde. In Russland war das ganz anders, aber auch in der DDR. Diese Länder waren stärker reguliert, auch die Eigeninitiative der Menschen wurde viel mehr eingeschränkt. Mein Buch ist der Versuch, diese Entwicklung mit einer längeren historischen Perspektive und wie gesagt „von unten“, also mit einem sozialhistorischen Blickwinkel auszuleuchten.

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich auch mit der Rolle Wiens. Sie schreiben, Wien habe die Transformation viel besser genutzt als etwa Berlin. Wie denn das?

Ther: Die Revolutionen von 1989 haben nicht nur den Osten, sondern auf die Dauer ganz Europa verändert. Wien hat vom Umbruch im Osten stärker profitiert als jede andere Stadt im Westen. Berlin hingegen verzeichnete eine lange Phase der Stagnation, die von Mitte der 1990er-Jahre bis 2005 andauerte. Nach der EU-Erweiterung ließen auch ostmitteleuropäische Hauptstädte wie Prag und Warschau Berlin beim kaufkraftbereinigten BIP pro Kopf, also etwas vereinfacht gesagt der Wirtschaftskraft, hinter sich. Der Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass in Berlin die Transformation von unten nicht so gut funktionierte, etwa im Bereich des Klein- und Einzelhandels. Es gab dort 1989 einen riesigen Polenmarkt, der aber schnell überwacht, behindert und schließlich ganz zugesperrt wurde. Berlin war wegen der Teilung der Stadt sehr stark auf den Westen orientiert und verschlossen gegenüber dem Osten. Obendrein wurde das frisch wiedervereinigte Berlin bald zur nationalen Hauptstadt, auch deshalb ging man weniger auf die damals noch armen Nachbarn aus dem Osten zu.

Und Wien?

Ther: In Wien ist man mit den Veränderungen offener umgegangen. Die Wiener Geschäftsleute haben auf die Öffnung des Eisernen Vorhangs recht geschickt reagiert, was sich etwa an kleinen Details wie der Anzahl fremdsprachiger Beschriftungen ablesen ließ. Die polnischen Händler am Mexikoplatz ließ man gewähren, und die Geschichten von der „Magyarhilfer Straße“ sind ja inzwischen bereits ein Stück Stadtmythologie. Nach Finnland hatte Österreich von allen westlichen Staaten den höchsten Außenhandelsanteil mit dem Ostblock.

Aber die FPÖ hetzte doch sofort nach dem Ende des Kommunismus gegen die Nachbarn in Ost- und Südosteuropa.

Ther: Es gibt natürlich immer gegenläufige Tendenzen. Selbstverständlich riefen die Umbrüche auch Angst hervor und verstärkten den Fremdenhass. Andererseits gab es aber auch, teils noch aus der k.-u.-k.-Zeit, Kontakte in den Osten, sodass man an eine lange gemeinsame Geschichte anknüpfen konnte. Die Nachbarn im Osten sahen Wien immer als ein wirtschaftliches Zentrum. Und Wien war während des Kalten Krieges eine Drehscheibe zwischen Ost und West, ob nun auf politischer Ebene oder für viele größere und kleinere Geschäfte. Politisch verlor Wien nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich an Bedeutung, doch etwa 300 Firmen eröffneten hier ihre Osteuropa-Zentralen. Die Banken expandierten früh in den Osten, auch hier gab es ältere Traditionen. So konnte man in Wien schon vor 1989 Westwährungen in Ostwährungen tauschen, allerdings nicht zum staatlich festgesetzten Kurs, sondern beinahe zum Schwarzmarktkurs. Natürlich war es verboten, mit diesem Geld zurück in den Osten zu reisen, aber der Schmuggel blühte.

Warum stehen Staaten wie Bulgarien oder Rumänien wirtschaftlich viel schlechter da als etwa Polen oder Tschechien?

Ther: In Südosteuropa gab es nach dem Systemwechsel eine schlechtere Ausgangslage. Rumänien war eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft, die sich erst von Ceaușescus Gewaltherrschaft erholen musste. Hinzu kommt, dass sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Postkommunisten bei den ersten freien Wahlen durchsetzen konnten; es gab also eine viel stärkere politische Kontinuität, die einen Neuanfang blockierte und im Zeichen von Korruption und Bereicherung stand. Durchgreifende Reformen gab es daher erst Mitte und Ende der 1990er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt hatten die westlichen Investoren ihr Kapital schon in anderen Ländern angelegt und dort Produktionsstätten aufgebaut. Obendrein destabilisierte der Jugoslawienkrieg in den 1990ern Südosteuropa, was auch kein Vorteil für Rumänien oder Bulgarien war.

Heute droht der Konflikt in der Ukraine Osteuropa zu destabilisieren. Wie beurteilen Sie das?

Ther: Der Konflikt in der Ukraine ist der Ausdruck einer neuen Systemkonkurrenz. Russlands Präsident Putin hat zwar einige neoliberale Reformen und eine prinzipiell marktwirtschaftliche Ordnung beibehalten, sie aber mit einem autoritären System ergänzt. Dieser autoritäre Staatskapitalismus ist eine handfeste Systemkonkurrenz zum Westen. Die Ukraine ist ein Lackmustest dafür, inwieweit der Westen für seine Werte steht. Das Beispiel Ungarns und die dortigen autoritären Tendenzen zeigen, dass diese Systemkonkurrenz inzwischen auch in der Europäischen Union angekommen ist. Ich habe den Eindruck, man ist sich im Westen dieser Herausforderung noch nicht genügend bewusst. Wäre das anders, wäre Putin bei seinem Besuch in Wien in der Wirtschaftskammer nicht mit Standing Ovations begrüßt worden.

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Suhrkamp, 432 S., € 27,70

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Suhrkamp, 432 S., € 27,70

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Osteuropa, Wien, Wirtschaft

ÖIAG-Chaos: Was ist los beim Staatskonzern?

Aus dem FALTER 42/2014

Wie viel Politik braucht die Verstaatlichte? Soll man weiter privatisieren? Oder feiert der Staat sein Comeback? 18 Antworten rund um die ÖIAG

Fragen und Antworten:
Joseph Gepp,
Wolfgang Zwander

WIRTSCHAFT

Jeder österreichische Staatsbürger ist Unternehmenseigentümer. Zumindest formell. Vielen ist das Ausmaß dieses Hab und Guts gar nicht klar, aber die Republik besitzt, verwaltet und betreibt auch im Jahr 2014 noch zahllose Wirtschaftsbetriebe.

Wie kommt es dazu?

Das ist eine lange Geschichte, sie reicht zurück bis zum Zweiten Weltkrieg. Aber Sie haben sicher vom Kürzel ÖIAG gehört.

Ja, davon liest man doch oft in den Medien. Meistens im Zusammenhang mit Streit und Chaos. Was hat es damit auf sich?

Die Österreich Industrieholding AG verwaltet im Namen der Republik Staatsanteile an Betrieben wie etwa der OMV oder der Telekom. Ihre Zentrale liegt in der Wiener Brigittenau, ihr Chef heißt derzeit noch Rudolf Kemler, Ablösegerüchte wurden in den vergangenen Tagen aber immer lauter. Der Eindruck ist durchaus richtig, dass der Name ÖIAG oft in einem Satz mit Zwist und Zank fällt. Eigentlich wird um die ÖIAG gestritten, seit es sie unter ihrem heutigen Namen gibt. Und auch als sie noch ÖIG hieß oder man schlicht von „der Verstaatlichten“ sprach, war sie fast immer Gegenstand heftiger Konflikte.

OIAGlogo

Worüber wird denn jetzt gerade gestritten?

Puh, da wären wir gleich mehrere Dinge. Beginnen wir einmal bei der derzeit aktuellsten Causa, dem Energieriesen OMV. In Österreichs größtem und wichtigstem Industriebetrieb, an dem die ÖIAG ein Drittel hält, toben schon seit längerem Kämpfe um die künftige Konzernausrichtung. Prestigeprojekte wie die Pipeline Nabucco sind gescheitert, ehemals hochlukrative Sparten wie der Gashandel entwickeln sich aufgrund der Weltmarktlage zu Problemkindern. Nun hat der Konflikt Generaldirektor Gerhard Roiss und Gasvorstand Hans-Peter Floren die Jobs gekostet. Nachfolger sind noch keine in Sicht. ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling stellte der OMV nun gar ein Ultimatum, er wolle endlich wissen, wie es mit dem Konzern weitergehen wird.

Warum mischt sich die Politik in diesen Konflikt so direkt ein?

Na ja, 31,5 Prozent der OMV gehören den Österreicherinnen und Österreichern, weshalb die Politik nicht einfach zusehen kann, wenn dort Chaos herrscht. Die OMV-Aktie hat jüngst um ein Viertel nachgegeben. Damit sinkt natürlich auch der Wert des ÖIAG-Anteils. Leider ist die OMV auch nicht das einzige Problem, mit dem sich die ÖIAG derzeit herumschlagen muss.

Wo brennt’s noch?

Auch bei der Telekom Austria gibt’s schlechte Stimmung. Hier liegt der Anteil der ÖIAG bei 28,42 Prozent. Dies aber möglicherweise nicht mehr lange, wie im vergangenen April vielfach und scharf in der Öffentlichkeit kritisiert wurde. Der mexikanische Milliardär Carlos Slim stieg bei der Telekom ein; die ÖIAG-Führung habe für den Investor aus Übersee viel zu günstige und zu schwammige Bedingungen geschaffen, die den Standort Österreich mittelfristig gefährden, lautete der Vorwurf. Der Deal mit Slim fiel noch dazu in einer höchst chaotischen Aufsichtsratssitzung, zu der eigens Mitglieder eingeflogen werden mussten, um die Beschlussfähigkeit des Gremiums sicherzustellen.

Was sagt die ÖIAG zu alldem?

Diese Frage führt uns auch schon zum nächsten Problem. Das Gesprächsklima zwischen Politik und ÖIAG ist aktuell vergiftet. Im Aufsichtsrat der Holding hat eine Clique von Millionären rund um die Industriellenvereinigung die Kontrolle erlangt, die womöglich weniger auf die Interessen der Republik achten als auf ihre eigenen. Diese Kritik kommt nicht nur von Kritikern aus der linken Reichshälfte, also etwa von SPÖ und Arbeiterkammer, sondern auch beispielsweise vom ÖVP-nahen Nationalbankpräsidenten Claus Raidl, der von einer Insiderclique und „einer Art Selbstbedienung“ im ÖIAG-Aufsichtsrat spricht. Im Sommer wählte der ÖIAG-Aufsichtsrat den Manager Siegfried Wolf zum Chef, der wegen seiner Nähe zu Frank Stronach und Wladimir Putin umstritten ist. Eine Personalentscheidung gegen den Willen der Regierungsparteien.

Warum schaut die Politik dabei zu?

Die Regierung hat formal keinen Einfluss auf die Besetzung des Aufsichtsrats. Denn auf Basis des in der schwarz-blauen Ära novellierten ÖIAG-Gesetzes erneuert sich der Aufsichtsrat aus sich heraus; soll heißen, die Mitglieder nominieren ihre eigenen Nachfolger. „Einen Fehler“ nennt diesen Modus etwa Karl Aiginger, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts. „Die Republik als Eigentümer delegiert Entscheidungen an eine Personengruppe und verliert durch die Selbsterneuerung immer mehr die Möglichkeit, Ziele festzusetzen.“ Den Fehler will die jetzige Regierung korrigieren: Jüngst beschlossen SPÖ und ÖVP, dass sie als ÖIAG-Eigentümer nicht auf eine Repräsentanz im Aufsichtsrat verzichten können. Die Regierungsparteien wollen also in Zukunft bei der Bestimmung der ÖIAG-Aufsichtsräte wieder entscheidend mitbestimmen.

Was ist von dieser Repolitisierung zu erwarten?

Es bedeutet, dass die gesamte ÖIAG neu aufgestellt werden könnte. Während der Amtszeit von ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel wurde die ÖIAG von der Politik als reine Ausverkaufsgesellschaft verstanden, das oberste Credo lautete Privatisierung. Es gibt mittlerweile aber auch wieder andere Ideen, was die ÖIAG leisten könnte: Zum Beispiel kann sie als Instrument dafür dienen, dass der Staat auch künftig als Unternehmer auftritt und im Sinne seiner Bürger und des Allgemeinwohls handelt und wirtschaftet.

Der Staat als Unternehmer, ist das nicht ein Konzept von vorgestern?

Ganz so einfach ist es nicht. Es ist richtig, dass die verstaatlichte Industrie in den 70er-Jahren unter SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky in eine massive Krise geriet. Als Reaktion folgte eine Privatisierungswelle, die auch von vielen Linken als alternativlos betrachtet wurde und die bis heute nicht verebbt ist. Doch spätestens seit der Finanzkrise 2008 gilt auch die Politik der Liberalisierung und Privatisierung in einigen Bereichen als gescheitert. Denn als die Wirtschaft in der Krise krachte, waren es erst wieder die Staaten, die für die Crashfolgen bezahlen mussten. Dass also der Staat unter allen Umständen ein schlechterer Eigentümer ist als ein Privater und dass die Masse von Privatisierungen ausnahmslos profitiert, dieses Dogma steht nun wieder infrage.

Was waren denn die Probleme der verstaatlichten Industrie in den 70er-Jahren?

Um das zu verstehen, muss man begreifen, was in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Damals wurden in Österreich Industriebetriebe im heute unvorstellbaren Ausmaß verstaatlicht, vor allem um einer Enteignung durch die Sowjets zuvorzukommen. Noch 1957 arbeitete fast ein Drittel der österreichischen Beschäftigten in Unternehmen, die direkt oder indirekt Staatsbetriebe waren – indirekt heißt, dass sie beispielsweise im Besitz verstaatlichter Banken waren. Ein Viertel der heimischen Exporte und ein Drittel der Industrieproduktion stammte von Staatsbetrieben.

Das waren ja sozialistische Verhältnisse.

Aus heutiger Sicht wirkt das so. Doch damals entsprach es dem Geist der Zeit, auch vonseiten vieler Konservativer. Der österreichische Staat war ihnen als Besitzer willkommener als etwa die Sowjetunion. Außerdem hatten die Menschen noch die Weltwirtschaftskrise von 1929 im Hinterkopf, die von Exzessen auf weitgehend unregulierten Märkten ausgelöst worden war.

Nun, offenbar hat dieses Konzept nicht funktioniert.

Lange Zeit funktionierte es durchaus. Bis in die 1970er-Jahre arbeiteten Österreichs Staatsbetriebe profitabel und spülten sogar Geld in die Staatskassen. Danach jedoch häuften sich die Probleme. Dafür gab es mehrere Ursachen: zunächst ein internationaler Strukturwandel, der dazu führte, dass große Grundstoffindustrien wie der Stahlmarkt weniger bedeutend und profitabel wurden – also genau jene Bereiche, auf die sich die Verstaatlichte spezialisiert hatte. Andererseits durften Staatsbetriebe aber auch nicht immer im Sinne ihrer Wirtschaftlichkeit arbeiten. Zu oft wollten die Parteien auf den Kommandobrücken der Betriebe mitregieren. Landesregierungen blockierten Reformen, oft mit Unterstützung der Betriebsräte; es gab Kompetenzstreitereien zwischen ÖIAG (vormals ÖIG), Bundespolitikern und Landesfürsten. Hinzu kommt, dass die Regierung mithilfe der verstaatlichten Betriebe begann, Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, um die Arbeitslosenzahlen in der Krise in den 1970er-Jahren nicht in die Höhe schnellen zu lassen.

Das klingt, als ob das alles nicht lange gutgehen konnte.

Genau. Aus all diesen Gründen verloren die Betriebe an Wettbewerbsfähigkeit, ihr Eigenkapital schrumpfte. Dies führte zu großen Pleiten, etwa der des damals staatlichen Stahlriesen Voest in den 1980er-Jahren.

Woraufhin die Privatisierungen begannen …

Richtig. Unternehmen von Simmering-Graz-Pauker über Böhler-Uddeholm bis zur AUA wurden verkauft. Im großen Ausmaß wurden die Privatisierungen zuletzt von der schwarz-blauen Regierung Schüssel betrieben. Die ÖIAG wurde unter Schüssel sogar per Gesetz als Privatisierungsagentur definiert. „Das Privatisierungsmanagement ist eine wesentliche Aufgabe der Gesellschaft“, steht auf ihrer Website.

Sind die Privatisierungen denn erfolgreich gewesen?

Hier lässt sich schwer ein Gesamtbefund erstellen. Betriebe wie Voest-Alpine, Vamed oder die teilprivatisierte OMV konnten als wichtige Player am internationalen Markt reüssieren. Bei ihnen wurde darauf geachtet, dass die Wertschöpfung weiterhin in Österreich stattfindet. Andere wanderten aus Österreich ab oder wurden unter ihrem Wert verscherbelt, etwa der Reifenhersteller Semperit oder die Austria Tabak. Privatisierungsskeptische Organisationen wie die Arbeiterkammer weisen darauf hin, dass dem Staat durch Privatisierungen Milliarden an Konzerngewinnen entgangen seien. Dem jedoch kann man entgegenhalten, dass man ja nicht weiß, wie sich Gewinne entwickelt hätten, wären die Betriebe nicht privatisiert worden. Außerdem zahlen lukrative Betriebe ja Steuern auf ihre Gewinne – sofern sie in Österreich bleiben.

Gehören heute alle Betriebe, die noch in Staatshand sind, zur ÖIAG?

Wenn es so einfach wäre. Wichtige Betriebe wie die Casinos Austria, die ÖBB und die Bundesforste gehören etwa zur Nationalbank oder zu Ministerien, etwa dem für Infrastruktur oder dem für Landwirtschaft. Und auch die Länder besitzen noch große Unternehmen, vor allem im Energieund Finanzbereich. Welcher Betrieb zu welchem Bereich des Staates gehört, das hat jeweils spezifische historische und politische Gründe. Als quasi unfreiwilliger Staatsbesitz gehört zur ÖIAG die Fimbag, die Finanzmarktbeteiligungsgesellschaft. Diese enthält etwa die Hypo Alpe Adria und die Kommunalkredit, also jene Banken, die in der Krise notverstaatlicht wurden.

Wie geht ’s jetzt weiter mit der ÖIAG?

Ihre Zukunft ist unklar. Von einer Auflösung bis zu einer Vergrößerung, etwa durch die Einbeziehung von Betrieben wie Verbund und ÖBB, ist alles denkbar. Auch eine Fusion von Verbund und OMV haben einige im Hinterkopf. Die Regierung plant seit 2006 eine ÖIAG-Reform. Klar scheint jedenfalls, dass der Staat weiterhin die strategische Hoheit über Kernbereiche wie Energie, Verkehr und Wasser behalten muss.

Und wo steht sie derzeit?

Bei der jüngsten Regierungsklausur hat man sich auf besagte Repolitisierung des ÖIAG-Aufsichtsrates geeinigt. Weiters wird in einer regierungsinternen Arbeitsgruppe an weiteren ÖIAG-Reformen gearbeitet. Es gibt Pläne, die ÖIAG in zwei Gesellschaften zu teilen: eine für Infrastruktur wie ÖBB und Asfinag, die zweite für andere Unternehmen. Dann hätte nicht nur das (schwarze) Finanzministerium auf die ÖIAG Einfluss, sondern auch das (rote) Infrastrukturministerium. Auch soll laut Kurier der derzeitige Verbund-Finanzvorstand Peter Kollmann als neuer ÖIAG-Chef im Gespräch sein. All diese Reformen stehen jedenfalls im Zeichen der Frage, inwieweit sich der Staat künftig noch als Unternehmer betrachtet – oder eben nicht.

Was gehört alles zur ÖIAG?

OMV 31,5 %
Telekom Austria 28,42 %
Post 52,85 %
IMIB Immobilien- und Industriebeteiligungen 100 %
FIMBAG Beteiligungen an Problembanken 100 %
GKB stillgelegte Bergbaureviere 100 %
APK Pensionskassa 29,95 %

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Innenpolitik, Wirtschaft

Das ist ein ÜBERFALL!

Aus dem FALTER 29/2013

Die Stadt fürchtet sie, die Polizei jagt sie, der Boulevard braucht sie: Räuber. Der große Wiener Raub-Report


Bericht: Philip Gaspar, Joseph Gepp, Birgit Wittstock, Wolfgang Zwander

Im Leben von Linas S. muss sehr viel falsch gelaufen sein. Am 5. Juli um zwölf Uhr Mittag lag die Leiche des litauischen Räubers am Gehsteig auf der Äußeren Mariahilfer Straße. Die Polizei wickelte sie in goldenes Glitzerpapier ein.

Kurz zuvor hatte er mit zwei Komplizen ein Juweliergeschäft überfallen. Die maskierten Täter stürmten den Laden, sprangen über den Verkaufstisch, zerschlugen Vitrinen. Ladenbesitzer Günther K. stand mit seiner Ehefrau im Geschäft, zog eine Pistole, drückte ab. Ob einmal, zweimal oder noch öfter ist unklar und muss vor Gericht geklärt werden. Ebenso, ob der Juwelier aus Notwehr handelte oder ob er dem Räuber bei dessen Flucht in den Rücken schoss. Wenige Meter vom Überfallsort entfernt brach Linas S. jedenfalls tot zusammen. Die Ermittler fanden bei ihm eine Spielzeugpistole.

Verhasstes Faszinosum

Räuber erleben gerade schwere Zeiten in Wien. Erst vor wenigen Wochen erschoss ein Taxifahrer einen jungen Pakistani, der den Fahrer von hinten in den Schwitzkasten nahm und ihn ausrauben wollte. So hart das für die Räuber ist, die Öffentlichkeit kann gar nicht genug von diesen Bluttaten bekommen. Der Boulevard liebt es, wenn beim Raub die Kugeln fliegen. Das steigert die Auflage. Auch im Internet wird gegeifert. „Wenn die Regierung versagt, muss sich die Bevölkerung selber schützen“, plädiert etwa ein Krone-Forum-User für Selbstjustiz. Sein Eintrag steht für einen von Tausenden dieser Art. Auch Ex-Presse-Chefredakteur Andreas Unterberger schrieb auf seinem Blog: „Ich habe mich sehr gefreut, dass ein Wiener Juwelier einen Räuber erschossen hat.“ In der Krone war beim Kolumnisten Michael Jeannée zu lesen, Linas S. habe die Kugel verdient.

Doch wer wird in Österreich überhaupt Räuber? Warum fasziniert das Thema die Öffentlichkeit in einer perversen Mischung aus Abscheu und Neugier? Und nicht zuletzt: Warum riskiert es jemand, für relativ wenig Geld erschossen oder für viele Jahre eingesperrt zu werden?

Räuber in einem Juweliergeschäft in der Schweiz

Räuber in einem Juweliergeschäft in der Schweiz

Das Thema Raub ist im ersten Wiener Bezirk an fast jeder Ecke präsent. Wer über die Luxusmeile Kohlmarkt schlendert, sieht vor den Banken und Juwelier- und Uhrgeschäften gelangweilt blickende Männer mit schwarzen Uniformen. Sie tragen Sonnenbrillen, manche von ihnen auch Pistolen, und erinnern daran, dass es irgendwo da draußen Menschen gibt, die sich mit Gewalt nehmen wollen, was ihnen die Gesellschaft verwehrt. Die Securitys haben zwar nicht mehr Rechte als jede Privatperson, doch sie sollen abschrecken – und außerdem zahlen die Geschäftsleute geringere Versicherungsprämien, wenn sie Sicherheitspersonal beschäftigen. Die Kohlmarkt-Juweliere wollen über ihre Schutzmaßnahmen nicht sprechen. Zu groß ist ihre Angst, eine mögliche Sicherheitslücke auszuplaudern.

Im Jahr 2012 gab es in Österreich 685 Verurteilungen wegen Raub, viele davon betrafen allerdings Jugendliche, die anderen das Handy wegnahmen. Auf Juweliere gab es im Vorjahr 31 Raubüberfälle, davon 26 in Wien. Auch wenn durch die Medien ein gegenteiliger Eindruck entsteht, sind diese Zahlen seit Jahren leicht rückläufig. Der überwiegende Großteil der Juwelierüberfälle wird laut Polizei von Banden aus Ost- und Südosteuropa ausgeführt. Es sind Täter aus der armen Peripherie Europas, die sich etwas vom Reichtum des Zentrums schnappen wollen.

„Das Dümmste, was man tun kann“

Sinnvoll sei das meistens nicht, meint Andreas Hautz, Richter am Wiener Straflandesgericht. „Aus Sicht des Täters ist ein Raubüberfall das Dümmste, was man machen kann.“ Es ist eine Hochrisikoaktion, die sich selten lohnt und hart bestraft wird. Sobald eine Waffe verwendet wird, beträgt das Strafmaß für den dann „schweren Raub“ mindestens fünf Jahre Gefängnis.

Warum riskieren die Täter es trotzdem? „Auf diese Frage habe ich in 15 Jahren Berufserfahrung noch keine vernünftige Antwort erhalten“, sagt Hautz, der vor allem über jugendliche Räuber richtet.

Von Profis und Verzweifelten

Es gibt zwei Gruppen von Tätern. Neben den Profis aus Ost- und Südosteuropa gibt es die heimischen Verzweiflungstäter, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, als kriminell zu werden. Nicht zuletzt aufgrund übervoller Spielhallen, die immer mehr Spielsüchtige hervorbringen, die dringend Geld brauchen. Oder wegen Drogenabhängigkeit, wie bei Herbert Schmidt (Name von Red. geändert), 29 Jahre alt. Er sitzt im Gefängnis Hirtenberg in Niederösterreich südlich von Wien wegen schweren Raubs ein.

Schmidt überfiel keine Juweliere, das wäre ihm zu waghalsig gewesen. Stattdessen finanzierte er sich seine Drogensucht, indem er rund um die Meidlinger Längenfeldgasse schwarzafrikanische Drogendealer ausraubte. „Die trauen sich nicht zur Polizei zu gehen“, sagt Schmidt. Zusammen mit zwei anderen Suchtkranken cruiste er mit dem Auto durch die Gassen auf der Suche nach seinen Opfern. „Wenn wir einen ausgemacht hatten, ließen wir ihn zu uns in den Wagen steigen und bedrohten ihn mit der Schreckschusspistole.“ Schmidt saß als Komplize auf dem Beifahrersitz, ausgeführt hat die Überfälle ein anderer, der bis heute auf der Flucht ist: „Ich konnte den Männern einfach nicht die Pistole vorhalten.“

Schmidt lächelt ein unsicheres Lächeln. Seine dunklen kurzen Haare sind stark graumeliert; unüblich für einen 29-Jährigen. Die ganze Geschichte belastet Schmidt sichtlich. Nervös zupft er am Kragen seines beigen Poloshirts, während er erklärt, wie leid es ihm täte. „Irgendwie bin ich fast froh, dass sie mich erwischt haben: Ich bin jetzt endlich clean und hole meine Meisterprüfung für Elektrotechnik nach. Das hätte ich draußen wahrscheinlich nicht geschafft.“ Von seinen sieben Jahren hat er erst zwei abgesessen.

Ein Buch blockiert das Türschloss

Für Robert Klug, 50, Ermittler bei der Sonderkommission Raub der Wiener Polizei, stellen Leute wie Schmidt keine große Herausforderdung dar. Klug beschäftigt sich vor allem mit professionell geplanten Coups. Der Zivilpolizist mit dem karierten Hemd und dem konzentrierten Blick fungiert auch im Fall des erschossenen Linas S. als Chefermittler. Klug sagt: „Oft liefert uns schon die Art und Weise, wie ein Tetra-Pak oder ein Buch den Schließmechanismus der Tür eines Juweliers blockiert, die ersten Hinweise auf die Täter.“

Rund zwei Drittel der Wiener Juwelierraube gingen allein aufs Konto der berüchtigten Pink Panthers. Diese Bande hat ihre Zentralen in den serbischen Städten Belgrad, Užice und Cacak. „Die Täter reisen für den Überfall meist aus dem Ausland an und verlassen danach Österreich wieder schnellstmöglich“, sagt Klug. Oft schlafen die Räuber bei Bekannten, die vom wahren Zweck ihres Aufenthalts nichts ahnen.

Das Diebesgut – bei den Pink Panthers handelt es sich bevorzugt um teure Markenuhren – werde im Ausland verkauft. Wie genau die Wege der Hehler verlaufen, weiß die Polizei nicht, oder will es nicht verraten. Nur selten lässt sich eine Hehlerroute rekonstruieren: Zum Beispiel ließ vor einigen Jahren ein rumänischer Lokalpolitiker in Wien eine teure Uhr reparieren, erzählt Klug. Es stellte sich heraus, dass sie ursprünglich bei einem Juwelier in der Schweiz geraubt worden war. Der Lokalpolitiker hatte sie in Rumänien in einem Casino gewonnen, weil sein Gegenspieler kein Bargeld mehr bei sich trug.

In Sechsergruppen ermitteln Klug und seine Kollegen die Raubüberfälle, eine Untersuchung kann schon mal ein halbes Jahr dauern. „Die Kooperationen mit der Polizei in anderen Ländern helfen uns sehr“, sagt der Polizist. Die Aufklärungsquote könne sich deshalb sehen lassen, bei Juwelierrauben liege sie bei rund 70 Prozent.

Bislang wurden heuer 13 Juweliere in Wien überfallen, zehn Fälle davon klärten Klug und seine Kollegen auf. Bei Juwelieren gehen Überfälle oft mit viel Brutalität und Radau ab, erzählt der Beamte. Da stürmen drei Männer ins Geschäft, einer davon meist bewaffnet, manchmal haben sie auch Äxte dabei. Sie zertrümmern Vitrinen, räumen Kästen aus. „Viele Geschäftsinhaber werden davon schwer traumatisiert“, sagt Klug.

Alfred Römer, Juwelier und Obmann der Berufsinnung, hat lange überlegt, wie er mit dieser Gefahr umgehen soll. Über die Vitrine mit den Swatch-Uhren gelehnt, erzählt er in seinem kleinen Laden in der Wiener Alserbachstraße vom Berufsrisiko der Juweliere.

Rollenspiele für Juweliere

Seitdem er das Geschäft führt, wurde bereits dreimal eingebrochen, einmal wurde der Laden ausgeraubt. Das war 1977, und Römer, der damals noch ständig eine Schusswaffe mit sich führte, ist heute froh, dass er sich gerade nicht im Geschäft aufhielt – er hätte geschossen, um seine Verkäuferin zu schützen. „Wenn jemand meine Angestellten angreift, greift er mich an und in dem Fall wäre ich der Schnellere gewesen“, sagt Römer heute. Er hätte dann wohl „mannstoppend“ gehandelt, wie es im Polizeijargon genannt wird, wenn ein Krimineller bei der Tat erschossen wird. Doch was wäre danach gewesen? „Ich wäre mit dem Tod eines Menschen konfrontiert gewesen, mit trauernden Angehörigen. Das zahlt sich für kein Geld der Welt aus.“ Römer sperrte seine Waffe in den Safe, wo sie bis heute liegt.

Im Jahr 1998 wurde der Geschäftsführer des Wiener Nobeljuweliers Haban, Siegfried Goluch, mit einem Kopfschuss ermordet, seit damals lädt Römer seine Juwelierkollegen mehrmals im Jahr zu einer Schulung ein: Beamte der Wiener Polizei erklären den Juwelieren nicht nur die rechtliche Lage, in Rollenspielen wird auch das richtige Verhalten bei Raubüberfällen trainiert.

Das gebe Sicherheit, sagt Römer. „Natürlich verhält man sich im Ernstfall sicher anders, aber man ist im Vorteil, wenn man die Situation bereits einmal durchgespielt hat“, sagt er, rückt das Drahtgestell seiner Brille zurecht und fährt sich mit der Hand durch die kurzen grauen Haare.

Immer mehr Juweliere würden sich vor Überfällen schützen, erklärt Polizist Klug. Zum Beispiel durch bauliche Maßnahmen wie Drehtüren, die Räuber am Stürmen des Geschäftslokals hindern sollen. Das würde auch die Arbeit der Securitys erleichtern, sagt Martin Wiesinger, Chef von Securitas, einem der weltweit größten Dienstleister im Sektor privater Sicherheitsunternehmen.

„Es geht um Prävention, um die Demonstration von Sicherheit und darum, die Hemmschwelle für etwaige Täter größer zu machen“, sagt Wiesinger, „außerdem wollen wir das subjektive Sicherheitsempfinden des Verkaufspersonals erhöhen.“

Dass die Wiener Innenstadt, vor allem der Kohlmarkt, mehr und mehr einer schwerbewaffneten Sicherheitszone gleicht, sei nicht die Schuld der Sicherheitsdienstleister, rechtfertig sich Wiesinger. Die Kunden, also Banken oder Juweliere, würden entscheiden, wo die Securitymitarbeiter stehen und ob diese bewaffnet sind oder nicht. „Bei solchen Kriterien sind meist internationale Konzernvorgaben ausschlaggebend.“

„Bei einem Raubüberfall muss man immer von einer scharfen Waffe ausgehen“, sagt der Juwelier Alfred Römer und nimmt einen Schluck von dem Espresso, den er sich gerade aus seiner kleinen Kaffeemaschine hinter dem Verkaufspult heruntergelassen hat. „Mit einem Beinschuss kann der Räuber immer noch schießen, es ist also eine Alles-oder-nichts-Situation. In der möchte ich nicht stecken.“ Günther K. – jener Juwelier, der Linas S. auf der Äußeren Mariahilfer Straße erschossen hat – kennt Römer als Obmann der Wiener Juweliere persönlich. „Eine solche Sache verkraftet man nur schwer“, sagt er.

„Plötzliche, archaische Gewalt“

Raub, dabei handelt es sich auch immer um eine Geschichte, die sich um Anerkennung und Respekt dreht, sagt der Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl: „Die Täter rekrutieren sich aus den Gedemütigten der Gesellschaft.“ Egal, ob es sich um den Wiener Drogensüchtigen Herbert Schmidt oder den Profiräuber Linas S. aus Litauen handelt. Raub ist immer auch eine Form der Selbstermächtigung der scheinbar Ohnmächtigen, der Randfiguren und Außenseiter. Ihre plötzliche, archaische Gewalt erinnert daran, dass es sie und ihre Probleme überhaupt gibt. Ihre unmittelbare Körperlichkeit stellt für einen Augenblick die Machtverhältnisse auf den Kopf.

Wahrscheinlich können deshalb viele Menschen nicht genug bekommen von Figuren wie dem erschossenen Linas S.

Grillparzer über Räuber

Denn selbst der Bösewicht will nur für sich
als einzeln ausgenommen sein vom Recht,
die andern wünscht er vom Gesetz gebunden,
damit vor Räuberhand bewahrt sein Raub.
Die andern denken gleich in gleichem Falle,
und jeder Schurk
ist einzeln gegen alle;
die Mehrheit siegt, und mit ihr siegt das Recht

(Ein Bruderzwist in Habsburg)

Räuber in der Literatur

„Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre“

Friedrich Schiller, Die Räuber

„Der Räuber ist Bürger im Herzen. Seine Seele sehnt sich nach Plüsch und Kristall“

Hans Kasper

„Einen Nackten lässt der Straßenräuber vorbei, auch auf einer belauerten Straße hat der Arme Frieden“

Seneca

Richtiges Verhalten bei einem Raubüberfall
Dem Räuber nicht mit vorauseilendem Gehorsam zuvorkommen, auch das kann ihn aggressiv stimmen, und man verliert am Ende eventuell mehr Wertsachen als notwendig. Seinen Anweisungen Folge leisten und die Ruhe bewahren. Keinesfalls den Helden spielen und versuchen, den Täter zu überwältigen

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Reportagen, Wien

Hippo Nimmersatt

Aus dem FALTER 28/2013

Der Milliardenkrimi Hypo Alpe Adria: Was Sie schon immer über den größten Skandal der Zweiten Republik wissen wollten


Fragen & Antworten: Joseph Gepp, Wolfgang Zwander

Die Geschichte der Kärntner Hypo-Alpe-Adria-Bank ist der wahrscheinlich größte Skandal der Zweiten Republik. Bei der Staatsaffäre rund um die marode Bank geht es um rund fünf Mal so viel Geld, wie Österreichs gesamte Eurofighter-Flotte gekostet hat. Die Hypo sei ein „Fass ohne Boden“, wie Finanzministerin Maria Fekter (ÖVP) einmal sagte. Zwei Milliarden Euro Steuergeld sind in ihm schon verschwunden, bis zu acht weitere Milliarden könnten folgen. Das ist weit mehr als die Hälfte der Summe, die die Republik Österreich pro Jahr für sein gesamtes Bildungswesen ausgibt.

Der Fall um die ehemalige Kärntner Landesbank zeigt wie unter einem Brennglas, wie mafiose Seilschaften aus Politik und Finanzwirtschaft im großen Stil Volksvermögen plündern.

Moment, schön langsam. Was ist da eigentlich passiert, im Fall Hypo?

Wenn man so will, kann man das Hypo-Drama in drei Akte unterteilen. Erstens geht es um Jörg Haider und seine Freunderln aus Politik und Wirtschaft, die die Bank für ihre Privatinteressen missbrauchten. Sie verordneten dem Geldhaus einen Hochrisikokurs, der es viel zu schnell wachsen ließ und an den Rand des Abgrunds führte. Zweitens geht es um eine Notverstaatlichung der Bank im Jahr 2009, deren Notwendigkeit heute höchst umstritten ist. Drittens geht es um den Umgang des Staates mit der Hypo seit dieser Verstaatlichung. Das unstrukturierte und zögerliche Vorgehen des Finanzministeriums hat die Kosten für die Hypo weiter nach oben getrieben.

Das klingt ja wild. Aber bitte der Reihe nach

Jahrzehntelang war die Hypo Alpe Adria die kleine, konservativ aufgestellte Hausbank des Landes Kärnten. In der Ära Haider jedoch stieg sie unter Bankchef Wolfgang Kulterer zu einer der am schnellsten wachsenden Bankengruppen Europas auf. Die Hypo expandierte vor allem auf dem Balkan. Im Jahr 2007 verkaufte sie Haider an die Bayrische Landesbank und prophezeite: „Kärnten wird reich.“ Kurz darauf jedoch kollabierte das Hypo-Imperium wie ein Kartenhaus. Unzählige kriminelle Betrügereien wurden publik, Kredite fielen aus, viele Millionen Euro waren einfach verschwunden. Die Neo-Besitzer aus Bayern mussten feststellen, dass „man sich in Klagenfurt nicht mehr auf die Richtigkeit der Finanzdaten verlassen“ könne, wie es im Gutachten des renommierten Sachverständigen Fritz Kleiner heißt, der im Sommer 2012 den Zustand der Hypo Alpe Adria untersuchte.

Was bitte hat Haider gemacht, dass es so weit kam?

Der 2008 verstorbene Landeshauptmann ließ die Bank zuerst künstlich aufblasen und nutzte sie dann als private Portokasse für seine Brot-und-Spiele-Politik. So besuchte Haider beispielsweise ab dem Jahr 1999 hochrangige kroatische Politiker, um den fahrlässigen Expansionskurs der Hypo einzufädeln. Dafür erwartete er sich später Gegenleistungen von der Bank, der er zu lukrativen Geschäften verholfen hatte. Diese hat Haider auch bekommen.

Was waren das für Gegenleistungen?

Nehmen wir zwei besonders schräge Beispiele, die für eine Unzahl ähnlicher Fälle stehen: Im Jahr 2005 befahl Haider der Hypo, 500.000 US-Dollar an das Formel-1-Team Minardi zu überweisen, um damit dem Kärntner Rennpiloten Patrick Friesacher einen Startplatz zu kaufen. Oder, noch kurioser: Ebenfalls 2005 überwies die Hypo an die später pleitegegangene Fluglinie Styrian Spirit – ohne jede Sicherheit – zwei Millionen Euro, weil Haider dies zuvor in einem Mail an Kulterer gefordert hatte.

Kulterer – wer ist das noch einmal?

Wolfgang Kulterer, ein Bauernbub aus St. Veit an der Glan, war langjähriger Chef der Hypo. Gegen Kulterer wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Strafprozesse geführt. Erst vor wenigen Tagen bestätigte der Oberste Gerichtshof ein Urteil im Umfang von dreieinhalb Jahren Gefängnisstrafe, weil 2004 mit seinem Wissen ein Bilanzierungsbetrug betrieben worden ist.

Als der Kärntner 1992 Chef der Hypo wurde, nannte er als sein Motto: „Sterben oder expandieren“. Nun stirbt die Bank ironischerweise deshalb, weil sich Kulterer fürs Expandieren entschied. Wie krass die Expansion der Hypo ablief, zeigt ein Blick auf ihre Bilanzsumme: 1992 betrug sie noch 1,9 Milliarden Euro, 2004 lag sie bei 17,8 Milliarden, dem mehr als Neunfachen.

Wo konnte die Hypo so stark wachsen?

Das geschah vor allem in Kroatien. Dort zählte die Kärntner Bank in den 1990er-Jahren zu den First Movern nach Kriegsende. In Kroatien finden sich die meisten der Hypo-Korruptionsfälle; zu den Geschäftspartnern zählten etwa der höchst umstrittene Kriegsgeneral Vladimir Zagorec. Die Kärntner spezialisierten sich auf Immobilien-und Leasinggeschäfte.

Wenn die Bank unter Haider so schnell wuchs und angeblich so erfolgreich war – warum wurde sie dann 2007 an die Bayern verkauft?

Ganz einfach: Haider-Kärnten war so runtergewirtschaftet, dass das Land akut von der Pleite bedroht war. Obendrein wussten die Kärntner von den Leichen im Keller der Hypo – sie wollten das Geldhaus einem Dummen um den Hals hängen. Die Bayern wiederum drückten beim Kauf beide Augen zu, weil sie von der Gier auf das scheinbar hochrentable Südosteuropa-Geschäft der Hypo getrieben waren.

Hypo-Hauptquartier in Klagenfurt

Hypo-Hauptquartier in Klagenfurt

Wie lief die Privatisierung ab?

Ziemlich undurchsichtig. Als Mittelsmann zwischen Kärnten und der BayernLB fungierte etwa Tilo Berlin, ein deutsch-kärntnerischer Geschäftsmann. Berlin verdiente 2007 mehr als 150 Millionen Euro damit, seine frisch erworbenen Hypo-Anteile an die BayernLB zu verkaufen. Sein Geschäft tätigte der Investor mit prominenten Partnern. In seinem Boot saßen etwa Veit Sorger, Ex-Chef der Industriellenvereinigung, und Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, der mit 500.000 Euro beteiligt war. Kritiker sprechen von Insiderhandel, weil Berlin bereits sehr früh gewusst haben soll, dass die BayernLB seine Anteile kaufen wird.

Wie, auch Grasser spielt eine Rolle in der Affäre Hypo?

Ja, wobei er später aussagte, er habe nur das Geld seiner Schwiegermutter veranlagt.

Und was hatte Haider von all dem?

Haider nutzte seine Hausbank auch beim Verkauf wie einen Bankomaten. So gab der Landeschef etwa gemeinsam mit Josef Martinz, dem mittlerweile in erster Instanz zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilten Kärntner Ex-ÖVP-Chef, beim Villacher Steuerberater Dietrich Birnbacher ein Gutachten in Auftrag. Birnbacher sollte das Land Kärnten beim Verkaufsprozess beraten, sein Gutachten war aber nur acht Seiten dick. Ursprünglich sollte er zwölf Millionen Euro dafür erhalten, letztlich gab er aber einen „Patriotenrabatt“ von 50 Prozent. Inzwischen gesteht der mittlerweile verurteilte „Birni“, dass Haider und Martinz jeweils ein Drittel der Honorarsumme abzwacken wollten.

Und die Bayern haben bei diesen Machenschaften einfach zugesehen?

Die Bayern waren zuerst vom vermeintlichen Potenzial ihrer neuen Kärnten-Tochter geblendet – und hatten bald darauf andere Sorgen: Nach 2007 kamen zunehmend die Hochrisikogeschäfte der Hypo ans Licht. Kreditausfälle stiegen exorbitant; Leasinggeschäfte erwiesen sich als Betrügereien. 2008 betrug der Hypo-Konzernverlust eine halbe Milliarde Euro. Bald darauf – als gerade die Weltwirtschaftskrise einsetzte – musste die Bank am Balkan knapp 1,7 Milliarden Euro abschreiben. Vor dem Hintergrund all dessen begannen zwischen der BayernLB und Österreichs Politik Verhandlungen über eine Verstaatlichung. München wollte das marode Geldhaus loswerden.

Halt! Was hat denn nun Österreichs Politik mit einer Bank in mehrheitlich deutschem Besitz zu tun?

Wenn eine Bank pleitezugehen droht, bedeutet das auch eine Gefahr für ihren Standort. Volkswirtschaften können kollabieren, wenn Unternehmen plötzlich vom Geldkreislauf abgeschnitten werden. Eine Hypo-Pleite hätte zudem das massive Engagement anderer österreichischer Banken in Osteuropa international ins Gerede gebracht – schließlich befand man sich gerade am Höhepunkt der Bankenkrise, zu dessen Zeitpunkt permanent neue Leichen in den Kellern großer Geldhäuser auftauchten. Zudem wären bei einem Hypo-Bankrott möglicherweise die Haftungen des Landes Kärnten für die Bank schlagend geworden.

Welche Landeshaftungen?

Die Landeshaftungen sind ein zentraler Punkt der Causa. Kärnten haftete zum Zeitpunkt der Notverstaatlichung mit 19 Milliarden Euro für die Hypo. Diese Haftungen hatte Haider seiner Hausbank einst gewährt, um riskante und verantwortungslose Deals abzusichern. Die Steuerzahler waren zu Bürgen von Haiders und Kulterers Hasardgeschäften geworden. Heute heißt es oft, dass Österreich die Hypo verstaatlichen musste – sonst wäre Kärnten wegen des hohen Haftungsvolumens pleitegegangen und die gesamte Republik in Turbulenzen geraten. Aber stimmt das auch? Faktum ist: Die Hypo war vor der Notverstaatlichung eine Bank in mehrheitlich bayrischem Besitz und die Haftungen wären erst schlagend geworden, wenn, wie es in Paragraf 1356 des ABGB heißt, „über den Hauptschuldner das Insolvenzverfahren eröffnet wurde“. Der Finanzplatz München wäre also mindestens so sehr ins Trudeln geraten wie Wien. Den Bayern ist es aber gelungen, den Österreichern das Bummerl zuzuschieben.

Was passierte in der entscheidenden Nacht der Notverstaatlichung?

Das ist umstritten und wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen. Jedenfalls scheint die ganze Angelegenheit ziemlich chaotisch abgelaufen zu sein. In einem Einvernahmeprotokoll der Staatsanwaltschaft Klagenfurt vom Jänner 2010 werden Mitarbeiter des Finanzministeriums zitiert: Es sei „aufgrund der Dringlichkeit der Angelegenheit – anders etwa als im Fall Bawag – nicht möglich gewesen, die HGGA (Hypo, Anm.) vor der Verstaatlichung längerfristig zu prüfen und die Ursachen, die diesen Schritt notwendig machten, detailliert zu analysieren.“ Die Hypo-Verstaatlichung war demnach also seitens der Republik ein Unterfangen mit unkalkulierbaren Milliardenverpflichtungen. Die Bayern waren besser vorbereitet: Sie hatten bereits ein Jahr vor der Hypo-Verstaatlichung beschlossen, sich von ihrer Kärntner Tochter zu trennen.

Das klingt ja so, um es mit einem Vergleich aus dem Fußball auszudrücken, als wäre Bayern München auf den Wiener Sportklub getroffen.

Ja, ein bisschen so war das wohl. Die Verhandlungsposition von Österreichs damaligem Finanzminister Josef Pröll war schlecht, nicht zuletzt auch wegen der nervösen Raiffeisen-Gruppe.

Was hat die denn mit der Hypo zu tun?

Die heimischen Hypo-Landesbanken, nicht nur jene in Kärnten, sind über einen Haftungsverbund aneinandergekettet. Geht eine Landes-Hypo pleite, müssten alle zusammen mit bis zu einer Milliarde Euro geradestehen. Und welches Unternehmen ist an vielen Landes-Hypos beteiligt? Richtig, die Raiffeisen-Gruppe. Möglicherweise – ganz geklärt ist das bis heute nicht – wurde Raiffeisen mit der Hypo quasi mitgerettet. Pröll hat übrigens, worauf politische Gegner der ÖVP hämisch hinweisen, nach seinem Ausscheiden aus der Politik einen Job im Raiffeisen-Reich gefunden.

Das Hypo-Hippo führte die Hypo 2011 als Logo wieder ein - zur Image-Korrektur (Foto: HGAA)

Das Hypo-Hippo führte die Hypo 2011 als Logo wieder ein – zur
Image-Korrektur (Foto: HGAA)

Und was sagt Pröll heute dazu?

Gar nichts. Er schweigt beharrlich.

Apropos Pröll und Hypo-Landesbanken: War da nicht auch etwas mit der Hypo Niederösterreich?

Ja, dort verspekulierten sich Politiker und landesnahe Banker mit den Wohnbaudarlehen der Niederösterreicher. Der Schaden soll knapp eine Milliarde Euro betragen. Aber die niederösterreichische Bank hat mit ihrer Kärntner Namensschwester rein gar nichts zu tun.

Von wie viel Geld sprechen wir eigentlich bei der Rettung der Kärntner Hypo?

Wir sprechen von rund 2,2 Milliarden Euro Staatshilfe, die seit der Notverstaatlichung Ende 2009 in die Hypo geflossen sind. Hunderte Millionen werden alleine dieses Jahr dazukommen – wie viel genau, hängt davon ab, wie sich der Wert einzelner Beteiligungen entwickelt. 5,4 bis 5,5 Milliarden könnten folgen, bis die Bank zur Gänze abgewickelt ist. Im Jahr 2013 etwa kostete Österreichs Bankenrettung 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Aber hat Josef Pröll nicht einmal gemeint, Österreich werde an der Bankenrettung sogar Geld verdienen?

Ja, das hat er. Aber das hat sich inzwischen als gehöriges Schönwetterkonzept erwiesen. Der österreichische Weg der Bankenrettung während der großen Finanzkrise 2009 waren Milliarden an sogenanntem Partizipationskapital (PS-Kapital). Dieses bekamen nicht nur die Hypo, sondern auch Erste Group, Volksbanken AG, Raiffeisen und Bawag-PSK. Die Banken berappen dafür in Gewinnjahren circa acht Prozent Zinsen pro Jahr. Sobald sie über genug eigenes Geld in ihren Bilanzen verfügen, geht das PS-Kapital zurück ins Bundesbudget. Das Problem daran: Bei drei geretteten Banken – der Kommunalkredit, der Volksbanken AG und vor allem eben der Hypo – erwies sich die Situation als derart schlecht, dass sie notverstaatlicht werden mussten. Hier sieht der Staat weder das PS-Kapital noch etwaige Zinsen jemals wieder. So wurde Prölls „beinhartes Geschäft“ zum Milliardengrab.

Zurück zur Hypo: Wie geht es jetzt weiter mit der Bank?

Die Balkan-Töchter der Hypo sollen bis 2015 verkauft werden, die Italien-Tochter tätigt seit Jahresbeginn keine Neugeschäfte mehr, die Österreich-Tochter wurde Ende Mai verkauft. So sieht es der Restrukturierungsplan vor, den Österreich Ende Juni an die EU übermittelt hat.

EU? Was hat die denn damit zu tun?

Den Restrukturierungsplan muss Österreichs Regierung dem EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia vorlegen. Almunia will wissen, wie lange die Hypo noch mit Staatsgeld unterstützt werden muss. Die EU-Kommission wertet es nämlich als Eingriff in den Binnenmarkt, wenn notverstaatlichte Banken über lange Zeit von den Regierungen gestützt werden. Einer der Grundpfeiler der Union ist der ungehinderte Handel über innereuropäische Grenzen hinweg. Dieser soll nicht von staatlichen Beihilfen verzerrt werden. Erst vergangene Woche äußerte Almunia etwa gegenüber Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ), er sei „sehr verwundert“ über die Dauer der österreichischen Entscheidungsfindung in der Causa Hypo.

Ist es denn gut, dass sich die EU in die Angelegenheit einmischt?

Auf diese Frage gibt es, man muss es so sagen, zwei Antworten. Einerseits zwingt der EU-Druck die Österreicher, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Bisher argumentierten heimische Politiker stets, man müsse nur lange genug auf ein besseres Marktumfeld warten, sodass man die Hypo zu einem vernünftigen Preis reprivatisieren kann – doch die Wertsteigerung der Hypo tritt und tritt nicht ein, obwohl immer mehr Geld an die Bank fließt. Andererseits zwingt der EU-Druck Österreichs Regierung aber auch zu Ramschverkäufen. So ging die Österreich-Tochter der Hypo im Juni um mickrige 66 Millionen Euro an den indischen Investor Sanjeev Kanoria – als Signal an Brüssel.

Sanjeev Kanoria? Wer ist das jetzt schon wieder?

Ein indischer Chirurg mit Schwerpunkt Lebertransplantationen, der bis dato rein gar nichts mit Banken am Hut hatte. Offenbar kaufte er die Österreich-Tochter der Hypo im Auftrag seines Bruders Hemant Kanoria, der in Indien das Finanzunternehmen SREI Infrastructure leitet. Warum Sanjeev Kanoria mutmaßlich als Strohmann seines Bruders auftritt und warum die Familie Kanoria den Österreich-Teil der Hypo kaufte – und damit eine Banklizenz erwarb -, das ist bis heute vollkommen unklar.

Es scheint, als hätte sich die Republik insgesamt in eine ziemlich missliche Lage gebracht

Das kann man wohl sagen. Das Rezept der österreichischen Regierung und insbesondere von Finanzministerin Maria Fekter lautete bisher: stillhalten und aktuelle Verluste möglichst klein halten. Nicht wenige Kritiker glauben, dass diese Strategie am Ende die Republik teuer zu stehen kommen wird. Denn immer ungeduldiger zeigt sich Brüssel – was den Preis für die Hypo weiter drückt. Oppositionelle wie Werner Kogler oder Stefan Petzner werfen Fekter vor, viel zu lang untätig geblieben zu sein angesichts des wachsenden Drucks der EU.

Kogler und Petzner, diese Namen fallen oft in der Causa.

Ja, der Grüne und der BZÖ-Politiker gelten als wichtigste Kritiker im Fall Hypo. Petzner allerdings geht es wohl auch darum, den Ruf Kärntens und seines verstorbenen Lebensmenschen Haider zu retten, weshalb er den Fokus seiner Kritik vor allem auf die BayernLB und die Umstände der Notverstaatlichung richtet. Petzner und Kogler kritisieren aber gleichermaßen die Untätigkeit Fekters – beispielsweise, dass die Finanzministerin die Einrichtung einer Bad Bank bis heute verweigert.

Bad Bank, was ist das?

Das ist eine Auffanggesellschaft, in der die Verlustgeschäfte der Hypo gebündelt werden könnten. Dann hätte die Hypo mehr Zeit zur Sanierung. Der Druck der EU würde geringer; die Verkaufschancen würden ebenso besser wie rechtliche Rahmenbedingungen. Für eine Bad Bank spricht sich neben Kogler und Petzner etwa auch das Hypo-Management aus. Die Idee hat aber einen großen Nachteil: Milliardenverluste der Hypo würden flugs von der Bankbilanz ins Staatsbudget wandern, und das in einem Nationalratswahljahr. Deswegen lehnt Fekter die Bad Bank als „Verlustmaximierung für den Steuerzahler“ ab. Die Frage führte zum Zerwürfnis zwischen Fekter und den Hypo-Managern Johannes Ditz und Gottwald Kranebitter.

Ditz und Kranebitter, die sind kürzlich zurückgetreten, oder?

Richtig. Ditz war Aufsichtsratschef der Hypo, Kranebitter ist – noch bis August – Vorstandschef. Letzterer gilt als Experte für schwierige Sanierungen; er managte etwa die Libro-Insolvenz in den 1990er-Jahren. Vergangene Woche erklärte Kranebitter seinen Rücktritt, weil er den Radikalabbau und die „undifferenzierte Kostenspekulationen“ nicht mehr mittragen wollte. Ganz ähnlich klingen die Gründe für Ditz’ Rücktritt Anfang Juni: Die Politik fuhrwerke in die Geschicke der Hypo hinein und rede die Bank kaputt, sagt der ehemalige ÖVP-Wirtschaftsminister und Chef der Verstaatlichtenholding ÖIAG.

Oben Alpen, unten Adria: Logo wie auch Namen der einstigen Landesbank sollen für den überregionalen Anspruch der Hypo stehen

Oben Alpen, unten Adria: Logo wie auch Namen der einstigen Landesbank sollen für den überregionalen Anspruch der Hypo stehen

Wer folgt auf Ditz und Kranebitter?

Kranebitters Nachfolger steht noch nicht fest; auf Ditz folgt als Aufsichtsratschef Klaus Liebscher. Bei diesem handelt es sich um einen wichtigen Protagonist in der Causa. Liebscher, Ex-Chef der Nationalbank, leitet die Fimbag („Finanzmarktbeteiligung des Bundes“), in der die notverstaatlichten Banken gebündelt sind. Liebscher gilt als Vertrauensmann der Regierung, aber auch er votiert für eine Bad Bank.

Puh, das war jetzt ganz schön viel. Was war jetzt nocheinmal der Kern des Hypo-Skandals?

Der Kärntner Grünen-Politiker und Hypo-Aufdecker Rolf Holub sagte es einmal so: Die Affäre sei „eine riesige Geldumverteilung von unten nach oben“. Eine Verhaberung von Politik und Wirtschaft sei da im Gange gewesen, um mehrere Volkswirtschaften auszurauben. Treffender ist es wahrscheinlich nicht zu formulieren.

Wem die Hypo gehört(e)

1992
100% Land Kärnten

2005
49,4% Land Kärnten
48% Grazer Wechselseitige
2,6% Mitarbeiterstiftung

2007
44,91% Land Kärnten
41,45% GraWe
9,09% Thilo Berlin & Partner
4,55% Mitarbeiterstiftung

2008
67,08% Bayern LB
20,48% GraWe
12,42% Land Kärnten
0,02% Mitarbeiterstiftung

2009
100% Republik Österreich

3 Kommentare

Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Wirtschaft

Sturm auf Fekters Festung

Aus dem FALTER 16/2013

Der Kampf ums Bankgeheimnis zeigt, wie in Österreich die Banken die Politik beherrschen

Bericht: J. Gepp, B. Tóth, W. Zwander

Warum werden Österreichs bürgerliche Politikerinnen zu Raubkatzen, wenn sie das Land verteidigen wollen? „Wie eine Löwin werde ich um das Bankgeheimnis kämpfen“, verkündete Finanzministerin Maria Fekter am Rande des informellen EU-Finanzministertreffens vergangene Woche in Dublin. „Wie eine Löwin“ hatte sich auch Benita Ferrero-Waldner im Jahr 2000 in Szene gesetzt, damals ging es um die Aufhebung der Sanktionen gegen die Wenderegierung Wolfgang Schüssels. Anders als Ferrero-Waldner wird Fekter scheitern. Österreichs Bankgeheimnis steht vor dem Fall.

Wer in der vergangenen Woche Fekters Werben für eine Steuersonderlösung für den heimischen Bankenplatz verfolgte, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nicht Österreichs Finanzministerin ihren Auftritt hatte, sondern Österreichs oberste Bankenlobbyistin.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Bankeninteressen die heimische Finanzpolitik dominieren. Vor dem Crash 2008 hatten Banken ein immer größer und komplizierter gewordenes Verschuldungslabyrinth errichtet, in dem auch österreichische Geldhäuser Milliarden von Euros verloren.

Offiziell war die Branche nun diskreditiert, de facto führte die Krise aber zu einer noch engeren Verflechtung zwischen Politik und den Geldhäusern, gerade auch in Österreich. In Krisenzeiten müssen die Politiker sich um die Banken besonders stark kümmern, könnte doch ihr Zusammenbruch ganze Volkswirtschaften in den Abgrund reißen. „Too big to fail“, zu groß zum Scheitern nennt man dieses Erpressungsverhältnis.

Hohe Ministerialbeamte und Politiker, Nationalbanker und die Chefs der großen heimischen Geldinstitute saßen in den Wochen und Monaten nach 2008 nächtelang zusammen und verhandelten Unterstützungspläne für den Bankensektor. Trotz Krise und verheerendem Image konnten Erste Bank, Raiffeisen und Co dabei mit viel Selbstbewusstsein auftreten, wussten sie doch, dass sie am Ende ohnehin von der Politik gerettet werden mussten. So kam es ein weiteres Mal dazu, dass nicht die Politiker die Banken, sondern die Banker die Politik regulierten.

In Österreich hat das Tradition. So klein und auf Wien konzentriert das Machtgefüge des Landes ist, so sehr waren Politiker und Banker in der Zweiten Republik auf Du und Du. Bis in die 1990er-Jahre war der gesamte Bankenapparat fein säuberlich zwischen der SPÖ und der ÖVP aufgeteilt; der Bund war der Hauptaktionär der drei größten Geldhäuser des Landes, die von den Kartellgesetzen ausgenommen waren.

Während die SPÖ sich von „ihren“ Banken, der Bank Austria Creditanstalt und der ehemaligen Gewerkschaftsbank Bawag, trennen musste, konnte die ÖVP vor allem Raiffeisen und mit Abstrichen auch die Erste Bank in ihrem Einflussbereich behalten. Den Roten wird nun – nach großkoalitionärer Logik – der Versicherungssektor zugerechnet und die Nationalbank, deren Chef Ewald Nowotny eine Schlüsselrolle als Stichwortgeber der Politik einnimmt.

Die enge Verflechtung zwischen Banken und Politik in Österreich zeigt sich überhaupt gut anhand der Karrieren von denen, die in Österreich etwas zu sagen haben: Franz Vranitzky war Chef der Creditanstalt und der Länderbank, bevor er für die SPÖ in die Politik ging und Bundeskanzler wurde; Hannes Androsch war nach seiner Zeit als SPÖ-Finanzminister Chef der Creditanstalt; Ex-ÖVP-Vizekanzler Josef Pröll arbeitet seit seinem Ausstieg aus der Politik für Raiffeisen; Michael Ikrath ist Generalsekretär des Sparkassenverbandes und ÖVP-Nationalrat.

Am 30. Oktober 2006 öffnete sich für einen Moment ein Fenster, das einen kurzen Blick auf das Knäuel der rot-weiß-roten Interessenverflechtungen zwischen Geld und Macht gewährte. An diesem Tag beschlossen SPÖ, Grüne und FPÖ einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss betreffend „Finanzmarktaufsicht, Bawag, Hypo Alpe-Adria und weitere Finanzdienstleister“.

Finanzministerin Fekter kämpft allein gegen Brüssel - ihre Lieblingsrolle

Finanzministerin Fekter kämpft allein gegen Brüssel – ihre Lieblingsrolle

Möglich wurde diese ungewöhnliche rot-grün-blaue Zusammenarbeit nur, weil nach der Nationalratswahl 2006 politisches Chaos herrschte. Die ÖVP hatte für viele überraschend die Wahl verloren und musste den Kanzlerposten an Alfred Gusenbauer abgeben, der sein Amt erst 2007 antrat. In dieser herrschaftsfreien Zwischenphase stimmten Rot und Blau in einer Nacht-und-Nebel-Aktion für den von den Grünen geforderten Untersuchungsausschuss.

Der Grünen-Finanzsprecher Werner Kogler, der den Untersuchungsausschuss damals als „Überraschungsgeburt“ bezeichnete, erzählt, dass nach dem Beschluss bei SPÖ und ÖVP sofort die Alarmglocken läuteten: „Wir erhielten bald nur noch weitgehend geschwärzte Akten, und noch bevor wir heikle Punkte wie Geldwäscheverdacht und Osteuropageschäfte wirklich behandeln konnten, wurde der Ausschuss von der großen Koalition wieder abgedreht.“

Die Parlamentarier haben mit ihrer Arbeit ein ehernes Gesetz gebrochen, das zwischen Politik und Banken gilt. Es lautet: Wenn es Probleme gibt, dann lösen wir sie möglichst im Stillen zwischen uns, ohne Begleitmusik und Trommelwirbel. Raiffeisen-Zentralbank-Generaldirektor Walter Rothensteiner ließ laut Zeitungsberichten sogar eine Klage gegen die Abgeordneten prüfen und sprach wegen des frisch beschlossenen U-Ausschusses von einem „schweren Schaden für den Bankplatz Wien“.

Grünen-Finanzsprecher Kogler kritisiert die Heimlichtuerei der Banken

Grünen-Finanzsprecher Kogler kritisiert die Heimlichtuerei der Banken

Freilich war es nicht alleine die heimische Verhaberung, die Österreichs Banken nach 2008 in derartige Schwierigkeiten brachte. In Europa und den USA gewann die Finanzindustrie in den Jahrzehnten vor dem Crash immens an Einfluss. Staatliche Kontrolle war verpönt. Zahnlos wie ihre internationalen Pendants agierte auch die österreichische Finanzmarktaufsicht, etwa bei den Skandalen rund um Hypo und Bawag. Erst nach der Krise 2008, durch die die Notwendigkeit von politischer Kontrolle eindrucksvoll demonstriert worden war, erstarkte die FMA. Heute tritt die Regulierungsbehörde der Finanzministerin gegenüber durchaus selbstbewusst auf, etwa wenn es um das Bankeninsolvenzrecht oder den Kapitalbedarf der Hypo geht.

Den Druck der Krise nutzte übrigens auch Kanzler Faymann vor knapp drei Jahren geschickt aus, um die konsternierten Bankdirektoren auf einem Gipfel mit der 500 Milliarden Euro teuren Bankensteuer zu überrumpeln. Das wäre ohne die Krise nicht möglich gewesen.

Vor 2008 jedoch ließen es sich die Staaten gern gefallen, dass die blühende Finanzindustrie immer mehr an Macht gewann. Die waghalsigen Geschäfte der Banken befeuerten den Wachstumsboom; sie führten dazu, dass viele billige Kredite zur Verfügung standen. Solcherart wuchs die private Verschuldung ebenso wie das Risiko der Banken, auf uneinbringlichen Krediten sitzenzubleiben – bis das Kartenhaus im Jahr 2008 zusammenbrach.

Der damalige ÖVP-Finanzminister Pröll
sah sich dabei einem taumelnden Bankensektor gegenüber, dessen Bilanzsumme zusammengenommen fast viermal so hoch war wie das österreichische Bruttoinlandsprodukt. Diese Größe und der drohende Crash machten den Staat erpressbar und erlaubten es den Banken, die Bedingungen ihrer eigenen Rettung zu diktieren. Es soll vor allem der damalige Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad gewesen sein, der auf einen spezifisch österreichischen Weg der Bankenrettung gedrängt hat: jenen des sogenannten Partizipationskapitals.

Abgesehen von den Problemfällen Kärntner Hypo, Kommunalkredit und Volksbank, die aus Mangel an Alternativen notverstaatlicht werden mussten, blieben die Banken bei diesem Modell in privater Hand. Das funktioniert so, dass die Republik Geld zuschießt, das später in Gewinnjahren von den Banken verzinst zurückgezahlt werden soll. Gegen direkte Staatsbeteiligungen wehrten sich die Finanzhäuser vehement. „Nur über meine Leiche“ werde der Staat bei der Raiffeisen einsteigen, meinte Konrad 2008 – die 1,8 Milliarden Euro Partizipationskapital ließ sich das Unternehmen dennoch gerne gefallen. Konrads damaliger Verhandlungspartner ist übrigens der Josef Pröll gewesen, der in der Zwischenzeit bei Raiffeisen untergekommen ist und anfangs seine Bankenrettung sogar am Rechnungshof vorbei abwickeln wollte.

Ebenjener Rechnungshof kritisierte Jahre später
, im vergangenen Herbst, dass die Entscheidung für das Partizipationskapital Österreich teuer zu stehen kam. Bis zu 4,8 Milliarden Euro könnte die Bankenrettung bis zum Jahr 2015 den Staat kosten. Laut Rechnungshof wäre es deutlich billiger gekommen, hätte man die Banken direkt verstaatlicht.

Die heimischen Geldinstitute wurden vor allem auch deshalb so schwer von der Krise getroffen, weil Österreichs Banken die Öffnung Europas in Richtung Osten besonders geschickt genutzt hatten – was ihnen nun auf den Kopf fallen könnte. „Für die relativ kleinen Banken Österreichs ist es in Zeiten der Krise fast unmöglich, ohne fremde Hilfe einen großen Bankenplatz wie Osteuropa zu betreiben“, sagt der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Franz Hahn, „so gut diversifiziert könnten die Institute gar nicht sein, dass sie das überstehen würden.“

Weil das so ist, werde der Bankplatz Österreich in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren, sagt Hahn. Es werde zu Fusionen und Übernahmen kommen, weil Österreich einfach zu viele und vor allem zu kleine Banken habe. „Overbanked“ nennt das Androsch. „Die Banken haben noch Einfluss auf die Politik, aber eher in dem Sinne, dass sie zum Sorgenkind geworden sind.“

Kein Wunder also, dass Maria Fekter einen auf Löwin macht. Nun soll dem Sorgenkind auch noch das Bankgeheimnis genommen werden.

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Wirtschaft

„Wir brauchen eine neue Story“

Aus dem FALTER 12/2013

Der Ökonom Ulrich Brand über das Ende des Wachstums und des Massenkonsums

Gespräch: Joseph Gepp, Wolfgang Zwander

Seit vielen Jahren befasst sich Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, mit Alternativen zum Kapitalismus. Der gebürtige Deutsche und Wahl-Wiener nahm nun an einer zweijährigen Enquete des Deutschen Bundestags zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ teil, deren Ergebnisse am 15. April präsentiert werden.

Falter: Herr Brand, Wachstumskritik galt einst als Thema für linke Träumer. Heute haben in Deutschland sogar CDU und FDP eine breit angelegte Enquete zu diesem Thema mitinitiiert. Warum?

Ulrich Brand: Der Deutsche Bundestag wollte die internationale Debatte nicht verschlafen, nachdem 2010 der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy mit der Bildung einer Kommission zur Wachstumsfrage vorgeprescht war. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bestimmt geärgert, dass ihr dieser Coup nicht gelungen ist.

Wir müssen weg vom Dogma des Wirtschaftswachstums, meint der Politologe Ulrich Brand (Foto: Uni Wien)

Wir müssen weg vom Dogma des Wirtschaftswachstums, meint der Politologe Ulrich Brand (Foto: Uni Wien)

Aber gerade in der Krise lautet doch das Motto aller Parteien: Wachstum, Wachstum, Wachstum!

Brand: Vordergründig schon, doch hinter den Kulissen wissen die nachdenklicheren Politiker längst, dass ewiges Wachstum, das auf immer mehr Massenkonsum und -produktion baut, eine gefährliche Illusion ist. Die sinkenden Wachstumsraten in den OECD-Staaten sprechen eine klare Sprache.

Welche Konzepte schweben den deutschen Politikern vor, wenn sie von Alternativen zum Wachstum sprechen?

Brand: Im Großen gibt es zwei Modelle, das der konservativ-neoliberalen Seite und eines von SPD, Grünen und Linkspartei. Die Konservativen und Neoliberalen gehen davon aus, dass sich das Wachstumsproblem langfristig auflösen wird, weil ein großer Technologiesprung die Wirtschaft ankurbeln wird. Nicht mehr Raubbau an der Umwelt und die Fertigung von Autos sollen dann Jobs und Kaufkraft schaffen, sondern eine Computer- und Hightechindustrie. Wichtige einzelne konservative Stimmen, die anderer Meinung sind, werden dabei auch übergangen. Die rot-rot-grünen Keynesianer sind immerhin schon einen Schritt weiter: Für sie ist Wachstum nicht mehr das Ziel an sich, sondern ein Mittel, um bestimmte gesellschaftliche Aufgaben zu lösen, zum Beispiel Wohlstand oder die Energiewende.

Aber egal, ob links oder rechts – wenn Sie einem Politiker mit Wachstumskritik kommen, wird er Ihnen zuerst einmal antworten, dass Sie mit Ihrem Gerede Arbeitsplätze gefährden.

Brand: Ja, das stimmt: Arbeitsplätze, Gewinne und Investitionen, staatliche Einnahmen und Sozialversicherung hängen da dran. Aber es ist eine schizophrene Situation: Denn auf der anderen Seite anerkennen alle politischen Strömungen die Mängel, die mit unserer Wirtschaftssituation zu tun haben. Hoher Energie- und Ressourcenverbrauch; das Burnoutproblem, das in Deutschland zu einer Massenepidemie geworden ist; schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt et cetera. Doch die Schlussfolgerungen werden nicht konsequent gezogen: Eine Behebung all dieser Missstände lässt sich nicht ohne die Abkehr vom Wachstumsdogma schaffen. Wir brauchen eine neue Story.

Wie soll die lauten?

Brand: Wir sollten eine Gesellschaft anstreben, die von Wachstumszwängen befreit ist, in der die Menschen die zeitlichen und finanziellen Spielräume haben, sich in ihrem sozialen Umfeld zu engagieren. Ein zentraler Hebel dazu wäre eine Arbeitszeitverkürzung: Damit entkommen wir dem Wachstumsimperativ. Weiters müssten öffentliche Leistungen gestärkt werden, etwa bei der Infrastruktur, damit die Leute nicht so stark von Erwerbsarbeit abhängig sind. Wir müssen weg von Autos und fossil-nuklearer Energie und hin zu erneuerbarer Energie. Wir brauchen einen Ausbau der Öffis und die Forcierung der Energiewende.

Das klingt, als wollten Sie gar keine Reduktion des Wachstums, sondern nur dessen Verlagerung auf andere Bereiche.

Brand: Nein, ich spreche von Reduktion des Ressourcenverbrauchs und der Emissionen. Bei einem Verzicht auf Autos würde etwa zwar der Öffi-Sektor kurzfristig wachsen, mittelfristig könnte er aber die freigewordenen Kapazitäten nicht aufnehmen.

Unter dem Strich würde Ihr Modell nicht ohne individuellen Verzicht funktionieren.

Brand: Es gibt kein Menschenrecht auf das tägliche Schnitzel, aber solche Einbußen können durch einen Gewinn an Lebensqualität kompensiert werden. Außerdem wird oft übersehen, dass immer mehr Bürger die Meinung teilen, die alleinige Fixierung auf das Wirtschaftswachstum sei falsch.

Man müsste viele Menschen umerziehen.

Brand: Ich würde eher von notwendigen Lernprozessen sprechen, aber eben auch von politisch ausgehandelten Regeln. Heute kann ja auch nicht jeder seinen Mist überall hinwerfen. Umerziehen hört sich negativ an. Es gäbe viele demokratisch legitimierte Mittel, diesen Prozess zu gestalten. Der Staat könnte etwa den Flugverkehr oder Fleischfabriken weniger attraktiv machen, indem er per Gesetz Kostenwahrheit durchsetzt – das heißt, der Preis der Produkte müsste etwa auch die daraus entstandenen Schäden an der Umwelt beinhalten. So könnte die Politik Rahmen setzen, aber natürlich müssen vor allem Unternehmer und Verbraucher umlenken. Deswegen bräuchten wir einen Prozess, der Menschen mitnimmt, indem man wirtschaftlichen Strukturwandel mit staatlicher Absicherung verknüpft.

Im Endeffekt läuft es also darauf hinaus, dass die Produktion von Massenkonsumgütern stärker reguliert werden soll?

Brand: Und das unter Bedingungen globaler Konkurrenz. Wir bräuchten eine Regulierung des Weltmarkts. Man könnte sich etwa darauf einigen, dass 99 Prozent der Bauteile eines Handys recycelbar sein müssen. Das würde die Entwicklungsgeschwindigkeit von Handys drastisch verringern. Aber es entstünden auch grüne Unternehmen, die sich anpassen und somit von der Abkehr vom Wachstumsdogma profitieren würden.

Buchtipps zum Thema: Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Oekom, 248 S., € 13,40

Buchtipps zum Thema: Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Oekom, 248 S., € 13,40

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Wirtschaft