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„Es geht nur nach oben oder nach unten“

Aus dem profil 23/2019 vom 2.6.2019

Es schadet der Umwelt. Und glücklich macht es auch nicht. Dennoch muss die Wirtschaft ständig weiterwachsen, meint der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger. Warum eigentlich? Ein Gespräch.

Von Joseph Gepp und Christina Hiptmayr

Die Beschäftigung mit dem Thema Wirtschaftswachstum liegt offenbar in der Familie. Bereits Hans Christoph Binswanger (gestorben 2018), Vater des bekannten Schweizer Ökonomen Mathias Binswanger, befasste sich zeitlebens mit Ursachen und Folgen des Wirtschaftswachstums. Sohn Mathias, geboren 1962, Professor für Volkswirtschaftslehre im Schweizer Olten, trat in dessen Fußstapfen. Gerade hat er sein neues Buch „Der Wachstumszwang“ vorgelegt (Verlag Wiley, 25,70 Euro). Untertitel des äußerst lesenswerten Werkes: „Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben“. Wirtschaftswachstum werde vom Heilsversprechen zur kollektiven Zwangshandlung, so Binswangers These.

profil: Herr Binswanger, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – also der gesamte Output an Gütern und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft pro Jahr – muss ständig größer werden, damit der Kapitalismus nicht aus den Fugen gerät. Warum eigentlich?

Binswanger: Wachstum ist ein inhärenter Bestandteil des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das wir seit etwa 200 Jahren haben. Der Begriff Kapitalismus ist in diesem Zusammenhang gar nicht wertend gemeint, es ist schlicht eine Beschreibung der heutigen Wirtschaft. Diese funktioniert eben nur, wenn es ein gewisses Wachstum gibt. Unternehmen müssen in der Mehrheit Gewinne erzielen – was langfristig nur bei Wachstum möglich ist.

profil: Es gibt mehrere Theorien, warum der Kapitalismus Wachstum braucht. Karl Marx meinte einst, dass infolge der technischen Weiterentwicklung permanent Arbeitskräfte freigesetzt werden, weil man für dieselbe Arbeit weniger Arbeiter benötigt. Damit die Arbeitslosen irgendwo wieder unterkommen, braucht es permanentes Wachstum.

Binswanger: Marx hat einen wesentlichen Aspekt beschrieben: das Zwangsgesetz der Konkurrenz. Man kann nie stillstehen, sondern ist permanent über den Wettbewerb gezwungen, besser zu werden -sonst wird man verdrängt. Noch stärker betonte Joseph Schumpeter die Komponente des technischen Fortschritts, die „kreative Zerstörung“. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, der den Wachstumszwang erklärt: Wir leben in einer Geldwirtschaft. In ihr muss man Gewinne in Form von Geld erzielen. Dies geht nur, indem ständig Geld in die Wirtschaft fließt. Das geschieht, indem Banken in Form von Krediten Geld schöpfen – und das machen sie in Hinblick auf die Zukunft: Ich muss Investitionen heute finanzieren, damit ich morgen einen Gewinn erziele. Damit er auch real größer ist als das, was ich ursprünglich ausgegeben habe, braucht es Wachstum.

profil: Eine Wette auf die Zukunft.

Binswanger: Genau. Würde der Output an Gütern und Dienstleistungen immer gleich bleiben und dennoch ständig mehr Geld in das System zufließen -das Ergebnis wäre lediglich Inflation.

profil: Das heißt, der Output muss größer werden.

Mathias Binswanger (Wikipedia)

Binswanger: Größer oder besser. Es braucht Wirtschaftswachstum als Zunahme des BIP.

profil: Sie haben sich in Ihrem Buch Unternehmen angesehen, die sich vorgenommen haben, nicht zu wachsen. Schaffen die das?

Binswanger: Nein – dem Wachstumszwang können auch einzelne Unternehmen nur ganz selten entwischen. Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Deutschland hat versucht, Unternehmen zu finden, die ökonomisch erfolgreich sind, obwohl sie nicht wachsen. Das Resultat: Größere Aktiengesellschaften können sowieso nicht auf Wachstum verzichten, sonst drohen Kursrückgänge und letztlich Übernahmen. Aber selbst bei kleinen Betrieben sind nur die wachsenden längerfristig erfolgreich. In Ausnahmefällen gibt es zwar wirtschaftliche Gewinne trotz Stagnation, zum Beispiel wenn ein Unternehmen mit einem neuen Produkt Erfolg hat – aber nicht auf Dauer.

profil: Der wohl wichtigste Aspekt der Wachstumsdebatte ist die ökologische Frage: Kann die Wirtschaft ewig weiterwachsen angesichts der Knappheit von Ressourcen und des Klimawandels?

Binswanger: Es gibt ein ziemliches Potenzial der Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch – das heißt, wir können eine Einheit BIP stets effizienter produzieren, mit immer weniger Energieeinsatz und CO2-Emissionen. Dieses Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft, aber die Entkopplung stößt an Grenzen. Das Problem ist, dass die Effizienzverbesserungen letztlich auch genützt werden, um neues Wachstum zu generieren. Ein Beispiel: Es gibt heute zwar weit tankeffizientere Automotoren als früher, aber zugleich war die Effizienzverbesserung eine Chance, luxuriösere Autos mit mehr Leistung und Gewicht anzubieten. Somit geht das Wachstum auf dem Automobilmarkt weiter. Die Effizienzverbesserung gerät in Konflikt mit dem Wachstum. Und falls in einem Land die Entkopplung tatsächlich gelingt, droht ein neues Problem.

profil: Nämlich?

Binswanger: Wenn die Wirtschaft in manchen Ländern ressourcenschonender läuft, liegt das in Wahrheit daran, dass jene Tätigkeiten, die Umweltbelastungen verursachen, in andere Staaten outgesourct wurden. Industrien wurden ausgelagert. Das sieht man gerade an hochentwickelten Wirtschaften wie der Schweiz und Österreich: In den Statistiken wirken sie zwar sehr klimaschonend. In Wahrheit jedoch entstehen die CO2-Emissionen für jene Güter, die in diesen Ländern konsumiert werden, im Ausland. In der Schweiz liegt der Anteil der sogenannten „grauen Emissionen“ inzwischen bei 50 Prozent.

profil: Lassen Sie uns ein Szenario versuchen, in dem die Entkopplung vielleicht doch gelingen würde. Nehmen wir an, es gäbe hohe CO2-Steuern -dadurch reduzierte sich der Konsum klimaschädlicher materieller Güter und etwa Flugreisen. Gleichzeitig florierten Dienstleistungen: Die Menschen lassen sich beispielsweise zu Künstlern oder Yogalehrern ausbilden und gehen im Urlaub in die heimischen Berge wandern. Könnte eine solche Welt nicht weiterwachsen – und trotzdem weniger Energie und Ressourcen verbrauchen?

Binswanger: Nun, wir wollen ja nicht auf den Wohlstand verzichten. Genau das – massive Wohlstandseinbußen – wäre die Konsequenz eines solchen Systems. Dazu sind die meisten Menschen nicht mal ansatzweise bereit. Beobachten Sie, was passiert, wenn die Wirtschaft nur einige Monate lang schwächelt und die Arbeitslosigkeit zunimmt: Sogleich gehen die Rufe los, dass es wieder Wachstum braucht. Sämtliche zaghaften Maßnahmen einer Ökologisierung bisher -etwa die CO2-Emissionszertifikate in der EU -wurden stets so konzipiert, dass sie das Wachstum nicht stören. In Wahrheit passen die ständigen Effizienzverbesserungen sogar gut in unser Wirtschaftssystem, weil sie sich in neues Wachstum ummünzen lassen. Würde man hingegen das Prinzip der Suffizienz einführen -also ein Maß festlegen, an dem wir endgültig über genug materielle Güter verfügen – dann würde dies dem Wirtschaftsprozess als Ganzem eine Grenze setzen. Dies aber passt nicht in ein System, das alle Wachstumsgrenzen beseitigt.

profil: Das klingt, als würden wir ewig weiterwachsen.

Binswanger: Das nicht, aber wahrscheinlich noch ziemlich lange.

profil: Ist es ein Teil der DNA des Menschen, dass er immer mehr will?

Binswanger: Nein, bis vor 200 Jahren war Stagnation der Normalfall. Die längste Zeit haben Menschen gelebt, ohne dass es Wachstum gab -mit erheblich weniger Wohlstand. Heute haben wir das umgekehrte Problem: In Ländern wie der Schweiz oder Österreich, die ein hohes Wohlstandsniveau erreicht haben, stellen wir zunehmend fest, dass viele Menschen gar nicht mehr glauben, dass ihr Leben durch zusätzlichen materiellen Konsum noch besser wäre. Trotzdem: Wir können nicht anders, als weiterzuwachsen. Das zeigt sich auch in der politischen Diskussion. Vonseiten der Politiker wird Wirtschaftswachstum im Normalfall nicht mehr als Chance für mehr Wohlstand präsentiert, sondern als Zwang. Es heißt: Wir müssen weiterwachsen, sonst fallen wir zurück im Vergleich zu anderen Ländern; sonst werden wir als Investitionsstandort unattraktiv; sonst gehen bei uns Arbeitsplätze verloren.

profil: Werden die Leute nicht irgendwann schlicht genug materielle Güter haben – und das Wachstum deshalb einbrechen?

Binswanger: Die Sättigung ist eine ständige Bedrohung des Wachstums. Deshalb zielen viele Aktivitäten heutzutage darauf ab, neue Bedürfnisse zu schaffen. Marketing-Experten entwickeln Mechanismen, eine sogenannte „psychologische Schrottreife“ für Produkte einzuführen, die eigentlich noch völlig in Ordnung wären.

profil: Zum Beispiel?

Binswanger: Bereits in den 1950er-Jahren hat es die US-Automobilindustrie geschafft, bei Konsumenten ein Gefühl der Beschämung hervorzurufen, wenn sie ein Auto fahren, das älter als zwei oder drei Jahre ist. Oder: Jedes Jahr kommen neue Smartphone-Modelle heraus. Sie dienen vor allem dazu, Vorgängermodelle zu entwerten. Die Zufriedenheit damit lässt nach. Das neue Modell hat immer gewisse Features, die das vorherige nicht hat, auch wenn man sie kaum verwendet.

profil: Lassen Sie uns zusammenfassen: Das Wachstum steigert in Wahrheit das Wohlbefinden längst nicht mehr, und der Umwelt schadet es sowieso. Und dennoch können wir nicht anders.

Binswanger: Ein Dilemma. Wir können auch nicht auf dem Niveau verbleiben, auf dem wir gerade sind; es geht nur nach oben oder nach unten. Infolge einer Stagnation der Wirtschaft wären einige Unternehmen nicht mehr erfolgreich und müssten Leute entlassen. Der Konsum geht zurück. Dadurch geraten auch andere Unternehmen in Schwierigkeiten. Weitere Leute müssen entlassen werden. Der Konsum geht weiter zurück. Eine Abwärtsspirale.

profil: Als Ausweg plädieren manche für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Könnten wir dadurch dem Wachstumszwang entkommen?

Binswanger: Ich glaube nicht. Das Problem ist die Finanzierbarkeit. Entweder man macht das Grundeinkommen relativ gering, damit es finanzierbar bleibt -dann aber wäre es kein eigentliches Grundeinkommen, weil die Menschen zusätzlich irgendwelche Einkommen bräuchten. Oder: Das Grundeinkommen ist hoch genug, dass sie tatsächlich davon leben könnten. Dann jedoch klappt die Finanzierung nur, wenn die große Mehrheit genauso weiterarbeitet wie bisher. Das heißt, der Erfolg des Grundeinkommens ist davon abhängig, dass das System möglichst unverändert weiterläuft.

profil: Und Arbeitszeitverkürzungen? Wie wäre es mit einer 20-Stunden-Woche?

Binswanger: Weniger zu arbeiten, wäre aus vielen Gründen sinnvoll. Auch könnten die Menschen mit weniger Einkommen durchaus überleben. Allerdings kann man nicht gesamtwirtschaftlich sagen: Wir verzichten auf mehr Einkommen, arbeiten allesamt weniger – und gleichzeitig funktioniert die Wirtschaft wie bisher. Es braucht schließlich Konsumenten, welche die ständig wachsende Menge an Gütern kaufen. Falls nicht, gerät das Wirtschaftssystem schnell in Probleme, weil weniger konsumiert würde als zuvor.

profil: Was bleibt dann als Lösung? Soll es weiterhin Wachstum geben, aber weniger als bisher?

Binswanger:
Das ist die derzeit realistischste Variante. Ein geringes Wachstum erspart uns die Abwärtsspirale, die aus einer Stagnation resultieren würde. Andererseits bleiben jene Probleme im Rahmen, die aus hohem Wachstum hervorgehen -zum Beispiel finanzielle Turbulenzen und Umweltbelastungen. Es gäbe einige Maßnahmen, um den Wachstumszwang abzuschwächen. Denkbar wäre zum Beispiel eine Reform am Aktienmarkt: Würde man Aktien mit zeitlicher Befristung einführen, wäre der Zwang für die Unternehmen abgemildert, langfristig große Gewinne zu erwirtschaften. Und damit auch der ständige Zwang zu hohem Wachstum. Gespräch: Joseph Gepp, Christina Hiptmayr Foto: Michael Rausch-Schott

Dies ist der vierte Teil der profil-Serie zum Thema Wachstum. Die vorangegangenen waren Interviews mit dem US-Ökonomen James K. Galbraith (profil 45/18) und Christoph Badelt, Chef des Wiener Wifo (50/18), sowie eine Anatomie des Bruttoinlandsprodukts (8/19).


Drei Buchtipps von Mathias Binswanger:

David Graeber: Bürokratie Die Utopie der Regeln. Klett-Cotta (2016), Euro 23,60
Stanislaw Lem: Sterntagebücher Suhrkamp (1978), Euro 10,30
Nicolás Gómez Dávila: Scholien zu einem inbegriffenen Text Karolinger (2017), Euro 34,-

Sein eigenes Buch:

Mathias Binswanger: Der Wachstumszwang Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Wiley, 25,70 Euro

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Eingeordnet unter Wirtschaft

Sollen wir immer weiterwachsen, Herr Badelt?

Aus profil 50/2018 vom vom 10.12.2018

Sein Institut weiß heute, wie sich Österreichs Wirtschaft morgen entwickeln wird. Aber lässt sich das in bewegten Zeiten prognostizieren? Und wofür soll Wachstum überhaupt gut sein? Christoph Badelt, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), im Gespräch.

Von Joseph Gepp und Michael Nikbakhsh

Das ist der zweite Teil der profil-Serie zum Thema Wirtschaftswachstum. Hier gehts zum ersten Teil, einem Interview mit dem US-Ökonomen James K. Galbraith.

Es hat etwas von einem Ritual. Alle drei Monate nehmen die Chefs der beiden wichtigen heimischen Wirtschaftsforschungsinstitute, des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) und des Instituts für Höhere Studien (IHS), vor Journalisten Platz, um darzulegen, wie sich die Konjunktur ihrer Ansicht nach entwickeln wird. Vor holzvertäfeltem Hintergrund werden dann mehr oder weniger erfreuliche Zahlen präsentiert und Mahnungen an die Politik ausgesprochen. Die Zeitungen des folgenden Tags strotzen vor Prozentzahlen und ökonomischen Fachausdrücken. Wozu die Übung? Sollten wir uns nicht vielmehr generell fragen, ob das Konzept des Wirtschaftswachstums noch Sinn hat? profil fand sich bei Wifo-Chef Christoph Badelt zu einem Gespräch grundsätzlicher Art ein.

profil: Herr Badelt, wie wird sich Österreichs Wirtschaft im kommenden Jahr entwickeln?

Badelt: Unsere aktuelle Konjunkturprognose geht von einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent aus. In der neuen, die demnächst herauskommen wird, wird sich das nicht dramatisch ändern.

profil: Plus/minus zwei Prozent sind so schlecht nicht.


Badelt:
Nein, das ist so schlecht nicht. Der Höhepunkt ist zwar überschritten und die Konjunkturlage gedämpfter als zum Jahresende 2017/2018, aber wir befinden uns nach wie vor im positiven Bereich.

profil: Wenn Sie von Höhepunkt reden, dann sind damit rund drei Prozent aufs Jahr gemeint?

Badelt: Ja, wobei sich in jeder entwickelten Industriegesellschaft die grundsätzliche Frage stellt, wie hoch das Wirtschaftswachstum überhaupt noch sein kann. Vor ein paar Jahren, als wir in der Nachhallphase der großen Krise waren, gab es Zweifel, ob in Europa jemals wieder drei Prozent erreicht werden können. Für 2018 rechnen wir nun in Österreich mit etwa drei Prozent. Diese Größenordnung ist im Augenblick das, was man als echte Hochkonjunktur bezeichnen kann.

Christoph Badelt (Foto: WU)

profil: Wie valide kann eine Konjunkturprognose in unsteten Zeiten überhaupt sein? Stichworte: Klimawandel, Brexit, Handelskonflikte, Irans Atomprogramm, Italiens Staatsschulden.

Badelt: Mit den konventionellen Methoden der Konjunkturprognose können wir relativ sicher vorhersagen, dass die Wirtschaft 2019 wachsen wird, wenn auch nicht mehr so stark. Ob das jetzt ein oder zwei Zehntelprozentpunkte mehr oder weniger sind, ist völlig irrelevant. Die von Ihnen angesprochenen Risiken sind tatsächlich signifikant und größer als üblich. Aber das können wir schlicht nicht einpreisen.

profil: Wie oft liegen Ihre Prognosen daneben?

Badelt:
Natürlich gibt es Abweichungen. Dafür gibt es verschiedene Typen von Gründen. Dem Grunde nach arbeitet die Wirtschaftsforschung mit Annahmen, und je weiter man in die Zukunft blickt, umso unschärfer wird der Blick. Tatsächlich kennen wir immer erst zwei bis drei Jahre danach die verlässlichen Daten. Wir wissen zum Beispiel erst rückblickend, dass die Konjunktur zum Jahreswechsel 2017/2018 ihren Höhepunkt überschritten hat.

profil: Kann die Politik sich beim Wifo etwas wünschen?

Badelt: Wir geben keinen Interventionen nach, das können wir uns gar nicht leisten. In den zwei Jahren, in denen ich das verantworte, gab es das auch nicht. Ich weiß aber von Vorgängern, dass es immer wieder Einflussversuche vonseiten der Politik gegeben hat.

profil: Dergestalt?

Badelt: Wir sind ja nicht politisch naiv. Es gibt Konstellationen, wo bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen etwas davon haben, wenn die Prognose optimistischer oder pessimistischer ist. Die Herbstprognose im September zum Beispiel ist immer heikel im Hinblick auf die Lohnverhandlungen. Was an BIP, Produktivität und Inflation prognostiziert wird, geht ja alles in die Lohnverhandlungen ein.

profil: Da könnten Sie Anrufe von gleich zwei Seiten bekommen: Die Arbeitgebervertreter müssen ihren Beschäftigten weniger Lohn zugestehen, wenn die Wirtschaftsaussichten schlechter sind. Und die Gewerkschafter können umgekehrt mehr Geld fordern, falls sie besser ausfallen.

Badelt:
Trotzdem, in der Praxis gibt es solche Anrufe nicht. Wifo-Vertreter sind sogar oft in frühe Sitzungen von Kollektivvertragsverhandlungen eingebunden. Wir stellen uns beiden Sozialpartnern, das ist Teil des Rituals. Erst kürzlich hat mir ein Gewerkschafter erzählt, dass sich die Verhandler im Vergleich zum Ausland Wochen an Vertragsverhandlungen sparen, weil man sich meist schon vorab auf einen Datensatz einigen konnte. Und da spielen wir als Wifo auch eine wichtige Rolle.

profil: Wer sieht eine Konjunkturprognose, bevor diese veröffentlicht wird?

Badelt: Wenn sie fertig ist, informieren wir vorab die Trägerorganisationen. Das sind im Wesentlichen Sozialpartner, Nationalbank und Finanzministerium. Unmittelbar vor der jeweiligen Pressekonferenz gibt es dann noch eine intensive Diskussion mit den Trägern, die aber das Ergebnis nicht beeinflusst.

profil: Warum wird dann diskutiert?

Badelt: Konjunkturprognosen erklären sich nicht notwendigerweise selbst. Ich habe auch schon Diskussionen erlebt, wo die Vertreter von Industrie und Arbeiterkammer argumentativ in die gegenteilige Richtung gezerrt haben. Das hat mich zu der Feststellung gebracht, dass wir richtigliegen. Wie gesagt, wir diskutieren die Prognose erst, wenn sie fertig ist. Das ist beim IHS meines Wissens auch so.

profil: IHS und Wifo liegen mit ihren Prognosen und Einschätzungen immer recht nah beieinander. Da geht es in aller Regel um Zehntelprozentpunkte. Sprechen Sie diese ab?

Badelt: Nein!

profil: Wenn der Bundeskanzler zu Ihnen käme und Sie fragte, was er denn tun könne, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln – welche drei Vorschläge würden Sie ihm machen?

Badelt:
Forschung und Bildung. Forschung und Bildung. Forschung und Bildung. Für eine entwickelte Volkswirtschaft ist das essenziell. Forschung, um in der Technologie weiterzukommen. Und zwar bis in die Grenzbereiche der Technologie – nur Nachahmer zu sein, ist nicht genug. Und zur Bedeutung der Bildung für das Wirtschaftswachstum: Um die größtmöglichen Effekte zu erreichen, muss ein entwickeltes Land in Universitäten und Spitzenbildung investieren, während ein Entwicklungsland in die Alphabetisierung und Grundbildung investieren muss. So steht’s im Lehrbuch. Wir haben in Österreich in der Zwischenzeit aber bereits in den untersten Schul-und Ausbildungsbereichen gravierende Defizite. In Schulen mit einem hohen Anteil an sozial Benachteiligten gibt es einen hohen Prozentsatz an Schülern, die nicht einmal die elementarsten Lernziele erreichen.

profil: Da wird Ihnen vernünftigerweise niemand widersprechen. Oder doch?

Badelt: Die Botschaft ist wahrlich nicht neu – aber es geschieht zu wenig. Die Uni-Budgets sind zwar deutlich gestiegen, und dennoch liegen wir im Bereich der Grundlagenforschung weit weg vom Niveau guter europäischer Vergleichsländer. Gehen wir hinunter in den Bereich der Vorschulerziehung, sehen wir auch hier, dass nicht ausreichend investiert wird. Gerade in Schulen und Kindergärten mit hohem Ausländeranteil müsste mehr Personal eingesetzt werden, damit die Betreuungsraten besser werden. Ich sehe das übrigens nicht nur aus ökonomischer Sicht, sondern vor allem aus sozialer. Das Bildungsthema hat noch eine weitere Komponente: Es betrifft auch Menschen in der Lebensmitte. Es gilt, angesichts der Digitalisierung neue Formen der Weiterbildung zu finden. Früher hieß es, dass man im Alter von 50 am Arbeitsmarkt gefährdet sei, jetzt geht das eher in Richtung 40. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) haben generell ein großes Problem mit dem Internet, der Grad des Einsatzes digitaler Instrumente ist im internationalen Vergleich gering. Das trifft Arbeitnehmer, in kleineren Unternehmen, aber durchaus auch die Chefs.

profil: Es gibt viele gute Gründe, in Forschung und Bildung zu investieren. Aber sollten wir es ausgerechnet deshalb machen, weil es das Wachstum ankurbelt? Sollen wir überhaupt weiterhin wachsen wollen, angesichts des Ressourcenmangels und vor allem Klimawandels?


Badelt:
Natürlich geht mehr Wachstum meist mit einem höheren Einsatz an Energie und Ressourcen einher. Aber es ist destruktiv, deshalb zu fordern, dass wir deshalb überhaupt nicht mehr wachsen dürfen. Wie soll man eine solche Forderung überhaupt umsetzen? Wir können das Wachstum ja nicht einfach per Gesetz verbieten. Außerdem ist die Forderung abgehoben und lässt soziale Aspekte außer Acht. Wir vom Wifo sprechen lieber vom sogenannten inklusiven Wachstum. Das bedeutet, dass man zwar Wirtschaftswachstum anstrebt, aber auch benachteiligte Gruppen mitnimmt und ökologische Fragen nicht ausblendet. Der Fetisch BIP (Anm.: das Bruttoinlandsprodukt, also der Gesamtwert aller jährlich produzierten Güter und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft) rückt dabei in den Hintergrund. Unter benachteiligten Gruppen verstehen wir nicht nur die Menschen am Rand der Gesellschaft, sondern beispielsweise auch KMUs. Sie haben zwar in Österreich einen hohen wirtschaftlichen und kulturellen Wert, laufen aber zugleich Gefahr, vom multinationalen Konzernen aufgefressen zu werden. Wir müssen also eine Wachstumspolitik betreiben, die derartigen Akteuren zugute kommt. Ich finde aber darüber hinaus auch, es wäre Zeit für eine grundsätzlich andere Betrachtung des Wachstums.

profil: Welche?

Badelt: Wir sollten darüber reden, was konkret Nutzen für den Menschen stiftet, und uns fragen, wie wir dieses Ziel energiesparend erreichen können.

profil: Was heißt das?


Badelt:
Nehmen wir beispielsweise den Mobilitätssektor. Hier können wir körperliche Mobilität durch andere Formen ersetzen. Wenn etwa ein Geschäftsreisender zu einer Sitzung von Wien nach Frankfurt fliegt, kann ich ihm stattdessen ein gutes Kommunikationssystem für Videokonferenzen anbieten. Dann spart er sich den Flug – und hat seinen Nutzen genauso. profil: Eine Videokonferenz bringt aber weniger BIP-Wachstum hervor als ein Flug nach Frankfurt samt Hotelübernachtung.

Badelt: Das ist schon richtig – auch wenn die Möglichkeit einer guten Videokonferenz durchaus ebenfalls das Wachstum steigert, denn sie erfordert Investitionen in Kommunikationssysteme. Aber die Frage muss lauten, was wir vom Wachstum haben: Wenn ich nur das BIP steigern will, kann ich genausogut das Flugzeug ganz ohne Passagiere von Wien nach Frankfurt schicken. Eine moderne Diskussion darf sich nicht nur ums Wirtschaftswachstum drehen, sondern auch um Umwelt, Soziales und den konkreten Nutzen des Wachstums für die Menschen. Wir müssen uns fragen, wie wir den Wohlstand steigern können, nicht das BIP. Und wie dieser Wohlstand überhaupt definiert wird.

profil: Es braucht dafür ein anderes Maß als das BIP?

Badelt:
Ja, ein breiteres Messkonzept. Daran wird intensiv gearbeitet, etwa aufseiten der OECD (siehe Buchtipp unten). Wir haben derzeit noch das Problem, dass sich die neuen, breiteren Wohlstandsindikatoren noch nicht datenmäßig so engmaschig erfassen lassen wie das BIP. Deshalb kann man sie auch nicht laufend erheben und berichten -und das verhindert, dass diese neuen Wohlstandsindikatoren bei der breiten Masse und den Politikern einsickern.

profil: Aber unabhängig von solchen Indikatoren: Sind wir nicht dazu verdammt, mehr zu konsumieren – in unserem Beispiel: das Flugzeug nach Frankfurt zu nehmen statt uns mit einer Videokonferenz zu begnügen -, damit wir unseren Wohlstand erhalten?

Badelt: Eine komplexe Frage. Was ist unser Wohlstand? Wenn damit Arbeitsplätze gemeint sind, stimmt es -wir müssen tatsächlich, zumindest kurzfristig betrachtet, konsumieren, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Denn bei wenig Konsum bleiben Menschen und Maschinen unausgelastet, also verlieren Leute ihre Arbeit. Aber es gibt auch langfristigere, teils philosophische Perspektiven: Wohin entwickelt sich unser Wirtschaftssystem allgemein? Ob wir auf immer und ewig konsumieren müssen, damit unsere Arbeitsplätze weiterbestehen, da bin ich mir nicht sicher.

profil: Was wäre die Alternative?

Badelt: Langfristig muss man überlegen, inwiefern die Arbeitszeit außer Diskussion steht. Ich bin nicht generell für eine Arbeitszeitverkürzung -aber perspektivisch stellt sich durchaus die Frage, wie sich die Zeit der Menschen künftig aufteilt zwischen klassischer Erwerbsarbeit und anderen, unbezahlten Formen.

profil: Sie waren jahrelang Rektor der Wiener Wirtschaftsuniversität. Wenn man die ökonomische Forschung betrachtet, hat man den Eindruck, sie beschäftige sich immer noch vor allem damit, wie man das BIP steigern kann -statt generell Charakter und Sinnhaftigkeit des Wirtschaftswachstum zu hinterfragen. Stimmt das?

Badelt: Ich selbst war nie ein konventioneller Ökonom, sondern immer in Randgebieten der Ökonomie unterwegs, mit starker Neigung zu Sozialwissenschaften. Insgesamt bin ich der Meinung, dass es inzwischen viele Felder in den angewandten Wirtschaftswissenschaften gibt, die eine breitere Perspektive einnehmen, als sie die enge neoklassische Ökonomie vorgibt. Institute und Lehrprogramme für Sozial-und Umweltökonomie werden gegründet. Die Disziplinen werden laufend breiter aufgestellt, und das ist gut so.

Drei Buchtipps von Christoph Badelt

-) Fred Luks: Öko-Populismus. Warum einfache „Lösungen“, Unwissen und Meinungsterror unsere Zukunft bedrohen. Metropolis 2014, 20,40 Euro
-) Ivan Krastev: Europadämmerung. Suhrkamp 2017, 14,40 Euro
-) OECD (Herausgeber): For Good Measure. Advancing Research On Well-Being Metrics Beyond GDP (nur auf Englisch verfügbar). Gratis abrufbar hier

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„Die Märkte diktieren uns gar nichts“

Aus profil 45/2018, vom 05.11.2018

Kann die Wirtschaft ewig weiterwachsen? Sollen Regierungen in schlechten Zeiten sparen? Und ist die Krise im Grunde schon wieder vorbei? Ein Gespräch mit dem streitbaren US-Ökonomen James K. Galbraith

Er ist einer der profiliertesten US-Ökonomen aus der links-progressiven Ecke. Seit Jahrzehnten befasst sich James K. Galbraith mit Themen wie Bankenregulierung und öffentlichem Eigentum. Galbraith, 66, Sohn des berühmten Ökonomen John Kenneth Galbraith, forscht an der Universität Texas in Austin.

Galbraith ist ein scharfer Kritiker der Sparpolitik, die nach der Bankenkrise des Jahres 2008 in vielen Staaten Europas Einzug hielt. Er unterstützt unter anderem das Vorhaben des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis, ein europaweites Bündnis gegen die Austerität zu schmieden. Die Folgen der Eurokrise waren auch Anlass für Galbraiths Wien-Besuch in der vergangenen Woche: Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hatte ihn anlässlich der Bucherscheinung „Entzauberte Union“ zu einer Diskussion eingeladen.

Das profil-Gespräch mit Galbraith dreht sich weniger um die Eurokrise als um ein grundsätzlicheres Thema, das ebenfalls zu den Fachgebieten des Ökonomen zählt: der Frage, wie lange das Wirtschaftswachstum noch andauern kann (siehe Kasten unten).

profil: Vor einigen Jahren riefen Sie in Ihrem Buch „Wachstum neu denken“ das „Ende der Normalität“ aus. Die Wirtschaft könne nach der Krise nicht zum alten Wachstum zurückfinden, lautete Ihr Argument. Wir müssten uns an wirtschaftlich schwierigere Zeiten gewöhnen. Heuer wächst die Wirtschaft in der EU und den USA kräftig, inflationsbereinigt um zwei bis drei Prozent. War Ihre Prognose falsch?

Galbraith: Nach der Krise 2008 wurde rasch von einer Rückkehr zur Normalität gesprochen. Die Krise war in der Sichtweise vieler Politiker und Ökonomen ein kurzfristiger Schock ohne tiefergehende Konsequenzen. Mit der darauffolgenden jahrelangen Stagnation und Arbeitslosigkeit hatte niemand gerechnet. Wenn es heute, ein Jahrzehnt danach, zwischendurch ein paar gute Jahre gibt, widerspricht das nicht meiner These.

profil: Und doch wächst die Wirtschaft wieder. Woran liegt es?

Galbraith:
Es gibt viele unterschiedliche Gründe. In den USA hat es durchaus mit Präsident Donald Trump zu tun. Er senkt die Steuern und fährt zugleich eine Politik der Staatsausgaben. Dass dabei Wirtschaftswachstum herauskommt, ist keine Überraschung. Die starke ökonomische Performance dürfte noch bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2020 andauern, was Trump nützen wird. Aber es gibt auch andere Faktoren: Die USA, ein immer noch mächtiger Staat, zwingen anderen Ländern Bedingungen auf – beispielsweise den Handelspartnern Kanada, Mexiko und China -, unter denen Amerika ein rascheres Wachstum leicht fällt.

profil: Sie sprechen von den angedrohten Handelskriegen?

Galbraith: Ja, aber auch vom starken US-Dollar. Seinetwegen fließt Kapital in die USA, weil dort die Zinsgewinne höher ausfallen. Dies befeuert das US-Wachstum -auf Kosten schwächelnder Schwellenländer, aus denen Kapital abfließt, beispielsweise Russland, Südafrika und der Türkei. Die Währungen stürzen ab.

James K. Galbraith (Foto: Wikipedia)

profil: Die US-Wirtschaft begann aber schon unter Barack Obama besser zu laufen.

Galbraith: Dahinter stecken längerfristige Faktoren. Der wichtigste ist die Existenz bestimmter Institutionen, die noch aus der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise 1929 stammen. In den 1930er-Jahren, als Präsident Franklin D. Roosevelt seinen „New Deal“ und die „Great Society“ proklamierte, wurden Programme wie Medicare und Medicaid aufgesetzt. Nach der Krise 2008 sorgten diese und ähnliche Einrichtungen dafür, dass die Gesellschaft wirtschaftlich stabilisiert wurde. Die Summe der Gelder, die nach der Krise auf diesem Weg an Einkommenskompensationen ausbezahlt wurden, ist beachtlich: ungefähr neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Amerikaner mussten also – wenn auch der Wert ihrer Häuser absackte und viele Ersparnisse verlorengingen – zumindest bei den Einkommen keine großen Verluste hinnehmen. Das hat dem Land am Ende aus der Krise geholfen.

profil: In Ihrer Arbeit befassen Sie sich auch auf grundsätzlichere Weise mit dem Wirtschaftswachstum. Dass das BIP stark wächst, betrachten Sie als vorübergehende Erscheinung der Nachkriegszeit, bedingt unter anderem durch die billigen Rohstoffe in jener Ära. Aber das sei längst vorbei.

Galbraith:
Wenn die Wirtschaft schnell wächst, ist dies die Lösung aller ökonomischen und sozialen Probleme. Dann geht es allen Teilen einer Gesellschaft besser, auch den Ärmsten. Das zeigt sich derzeit eindrucksvoll am Beispiel China. Dort ist selbst im abgelegensten Dorf die Situation heute weit besser als vor zehn Jahren – was politische Stabilität ermöglicht.

profil: Im Westen wächst die Wirtschaft aber nicht mehr so stark, dass es automatisch allen besser geht.

Galbraith: Deshalb müssen sich die Gesellschaften umorientieren. Es muss Institutionen geben, die dafür sorgen, dass die verwundbaren Teile der Gesellschaft – die Armen – nicht den schwierigeren Bedingungen zum Opfer fallen. Deshalb sollten die Regierungen, gerade wenn die ökonomischen Bedingungen schlechter werden, nicht den Gürtel enger schnallen und Einschnitte verfügen, sondern das Gegenteil tun. Austerität trifft immer die Armen am stärksten, denn sie sind die größten Empfänger jener staatlichen Unterstützungsleistungen, Sozialleistungen und Beihilfen, an denen gespart wird. Die Folge sind soziale Spannungen, wie wir sie gerade vielerorts erleben, beispielsweise in Südeuropa.

profil: Der Staat soll also Geld ausgeben, um das Wachstum wieder anzukurbeln?

Galbraith: Nicht die Wiederherstellung des Wachstums muss das Ziel sein, sondern die Stabilisierung der Gesellschaft in Phasen schwachen Wachstums. Das war das Erfolgsrezept zur Zeit des „New Deal“ und des Wiederaufbaus in Europa – der Schlüssel zu jahrzehntelang stabilen Demokratien. Sozialprogramme wurden damals ausgedehnt, nicht reduziert. Überdies muss der Staat sicherstellen, dass öffentliche Leistungen – vom Verkehr bis zur Müllabfuhr – in wirtschaftlich schlechten Zeiten genauso gut funktionieren wie in guten.

profil: Sie sprechen davon, die Menschen vor den Kapriolen des Wachstums zu schützen, wenn es schwächelt. Aber bedeutet das nicht zugleich, dass in Ihrem Szenario die Wirtschaft ewig weiterwächst – zumindest wenn die Zeiten gerade normal sind?

Galbraith: Eine Wirtschaft mit dauerhaftem Nullwachstum oder gar Wachstumsrückgang ist schwer vorstellbar. Die Unternehmen brauchen Gewinne, damit sie Geschäfte machen können. Aber in einer Welt ohne Wirtschaftswachstum gewinnen sie nichts hinzu. Es braucht zwar nicht viel Wachstum, aber ein bisschen.

profil: Viele Kritiker entgegnen, dass wir uns früher oder später vom Wachstum gänzlich verabschieden müssen, weil etwa die digitale Revolution viele Jobs vernichtet. Die Wirtschaft ist schlicht zu effizient geworden, um noch für alle Menschen Arbeit zur Verfügung zu stellen. Wie soll sie unter diesen Bedingungen permanent weiterwachsen?

Galbraith: Natürlich dienen neue Technologien dem Zweck, menschliche Arbeitskraft einzusparen. Aber es wird immer Möglichkeiten für neue, sinnvolle Tätigkeiten geben. Nicht alles lässt sich computerisieren. Die neuen Jobs müssen nicht unbedingt im gewinnorientierten Privatsektor entstehen, es kann auch der öffentliche Sektor sein oder der Non-Profit-Bereich der NGOs. Entscheidend ist, dass das soziale Gleichgewicht gewahrt bleibt und die Schwachen in schlechten Zeiten nicht unter die Räder kommen. Warum sollte es beispielsweise keine generelle Jobgarantie geben, ein Recht für jeden Bürger, Arbeit zu anständigen Bedingungen zu finden? Man würde auf diese Weise Humanressourcen viel besser nützen als heute, wo in manchen Ländern die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos ist. Man muss nur Institutionen schaffen, die Jobs bieten – die Menschen werden sie nehmen. Die Gesellschaft wird besser dastehen, mit besseren öffentlichen Dienstleistungen, mehr Kultur, mehr Pflege, mehr Sicherheit, einer besseren Bildung.

profil: Um ein derartiges System einzuführen, würden die Regierungen zunächst einmal viel Geld brauchen.

Galbraith: Was ist Geld? Ein Artefakt des Staates. Die Scheine in Ihrer Geldbörse werden von Zentralbanken herausgegeben, also staatlicherseits gegründeten Institutionen.

profil: Trotzdem: Würde ein Land ein solches System einführen, würden sogleich die Risikoaufschläge auf die Staatsanleihen hochschießen.

Galbraith:
Warum?

profil: Weil die internationalen Märkte vorsichtig werden und aufgrund der bevorstehenden hohen Ausgaben fürchten, dass das Land in finanzielle Probleme rutscht.

Galbraith: Ich verrate Ihnen, wer es letztlich in der Hand hat, wie hoch die Aufschläge auf Staatsanleihen ausfallen: In Europa ist das Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), ein Funktionär, der von den Regierungen der Eurozone ernannt wurde. Wenn Draghi es will, interveniert die EZB, sodass die Aufschläge in bestimmter Höhe gedeckelt werden. Die Märkte haben nicht die geringste Möglichkeit, irgendetwas dagegen zu tun. Die Märkte diktieren uns gar nichts.

profil: In Italien plant die Regierung gerade, geringfügig höhere Schulden zu machen – und sogleich gehen die Zinsen nach oben.

Galbraith: Das liegt daran, dass die EZB ihre unterstützenden Aktivitäten für Italien eingeschränkt hat. Mit einem Federstrich könnte sie dafür sorgen, dass für das Land keine Gefahr besteht. Hinter solchen Fragen stecken keine wirtschaftlichen Zwänge, sondern politisch-ideologische Entscheidungen.

profil: Was dennoch in Ihrem Szenario unbeachtet bleibt, ist der ökologische Aspekt. Wenn die Wirtschaft immer weiterwächst, stellt sich die Frage: Wie soll das funktionieren, wenn wir beispielsweise zugleich die Klimaziele von Paris einhalten möchten? Kann unser ökonomisches System mit dem Erreichen eines ökologischen Gleichgewichts vereinbart werden?

Galbraith: Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Diese Frage erfordert technische Expertise, die jene eines Ökonomen weit übersteigt. Es sind deshalb neue Organisationen notwendig, die sich wissenschaftlich mit den Schnittstellen zwischen Wirtschaftsund Ökosystem befassen. Wir brauchen schleunigst eine Art biophysikalische Wirtschaftswissenschaft.

profil: Manche Experten hoffen auf ein grünes Wachstum, wodurch eines Tages das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt sein wird. Ist das möglich?

Galbraith:
Ich hoffe es. Aber besonders optimistisch bin ich nicht.

Drei Buchstopps von James K. Galbraith:

-) Benn Steil: The Marshall Plan. Dawn of the Cold War. Oxford University Press 2018 (nur auf Englisch verfügbar), 35,80 Euro
-) Adam Tooze: Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. Siedler 2018, 39,10 Euro
-) Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. Kunstmann 2017, 30,90 Euro

Ausgewachsen

Zwei bis vier Prozent: So viel muss die Wirtschaft – genauer: das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Gesamtwert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Land produziert werden – pro Jahr inflationsbereinigt wachsen, damit die Arbeitslosigkeit nicht ansteigt. Dies errechnete einst der US-Ökonom Arthur Melvin Okun. Warum braucht es Wirtschaftswachstum, damit alles gleich bleibt? Die Unternehmen werden aufgrund der gegenseitigen Konkurrenz stets effizienter, sodass sie mit kleinerem Einsatz an Menschen und Material die gleiche Menge erzeugen können. Deshalb ist ein immer höheres BIP notwendig, damit die Arbeitslosenzahlen in einem akzeptablen Rahmen bleiben, ebenso wie Unternehmensgewinne und Staatsverschuldung.

Doch nicht nur der technische Fortschritt mündet möglicherweise in einen Wachstumszwang, sondern auch das Kreditwesen: Wer mit geborgtem Geld eine Investition tätigt, sollte am Ende eine höhere Summe erwirtschaften, als er anfänglich hineingesteckt hat. Schließlich muss man nicht nur seinen Kredit zurückzahlen, sondern auch die anfallenden Zinsen.

Ist unsere Ökonomie aufgrund solcher Faktoren zum Wachstum verdammt? Vor allem seit der Krise 2008 gibt es dazu eine intensive Debatte. Kritiker argumentieren, dass die Wachstumsrechnung ökologisch nicht aufgeht: Mehr Wachstum bedeutet mehr Ressourceneinsatz, was für Umwelt und Klima schlecht ist. Andere Kritiker beziehen sich auf einen mutmaßlichen Widerspruch im Kapitalismus, auf den bereits Karl Marx hinwies: Da die Unternehmen aufgrund von Effizienzsteigerungen immer weniger menschliche Arbeitskraft brauchen, verlieren immer mehr Menschen ihren Job. Letztlich gibt es niemanden mehr, der noch das Geld hätte, die hocheffizient hergestellten Produkte zu kaufen. Der Kapitalismus geht dann quasi am eigenen Erfolg zugrunde.

Die Verteidiger des Wachstumsgedankens hingegen verweisen auf den immensen Wohlstand, den das Wachstum -unbestrittenerweise – hervorgebracht hat. Das betrifft nicht nur die Staaten des Westens, sondern zunehmend auch Schwellenländer wie China. Viel umstrittener ist eine zweite Annahme der Optimisten: der Glaube an ein „grünes Wachstum“. Künftig werde das Wachstum aufgrund des technischen Fortschritts völlig vom Ressourcenverbrauch entkoppelt sein und der Umwelt somit nicht mehr schaden.

Joseph Gepp

profil wird sich in den kommenden Monaten in einer losen Serie mit Fragen rund um das Wirtschaftswachstum auseinandersetzen.

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