Schlagwort-Archive: Missbrauch

Wilhelminenberg: Jetzt arbeitet eine Kommission die Vorwürfe auf

Aus dem FALTER 49/2011

Massenvergewaltigungen, Zwangsprostitution, körperliche Gewalt bis hin zu möglichen Todesfällen: Derart schreckliche Verbrechen sollen laut zwei ehemaligen Heimkindern im Kinderheim am Wilhelminenberg bis zur Schließung im Jahr 1977 geschehen sein.

Nachdem die Vorwürfe Mitte Oktober publik geworden waren, betraute die Gemeinde die ehemalige Jugendrichterin Barbara Helige mit der Bildung einer Kommission, um die Ereignisse aufzuarbeiten. Vergangenen Mittwoch hat die Juristin ihre Kommissionsmitglieder präsentiert: Gemeinsam mit Helige werden die ehemalige Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes, Helge Schmucker, die Psychiaterin Gabriele Wörgötter und der Linzer Sozialhistoriker Michael John bis Ende 2012 untersuchen, was im Heim am Wilhelminenberg wirklich passiert ist.

Rund 790 mutmaßliche Gewaltopfer haben sich bei der Wiener Opferschutzorganisation Weißer Ring gemeldet, seit die Vorwürfe aufkamen. Niemand habe aber bisher Massenvergewaltigungen und Zwangsprostitution bestätigt. Im Falter-Interview vor drei Wochen (Ausgabe 46/11) wiesen zudem zwei ehemalige Betreuerinnen die Vorwürfe aufs Schärfste zurück.

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Jelinek: „Systematisch geschlagen und schlimme verbale Demütigungen“

Aus dem FALTER 47/2011

Wie alltäglich Gewalt an Kindern in den 50er-Jahren war, zeigen die Erfahrungen der Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Dem Falter stand die Literaturnobelpreisträgerin schriftlich Rede und Antwort. Als Fünfjährige erlebte sie im Sankt-Anna-Kinderspital Dinge, die sie nicht vergessen hat. Jelineks Ausführungen zeigen einen Aspekt der Missbrauchsdebatte, der bisher nicht thematisiert worden ist: jenen der Gewalt im Spitalswesen.

Falter: Frau Jelinek, was ist Ihnen im Sankt-Anna-Kinderspital geschehen?

Elfriede Jelinek: Als fünfjähriges Kindergartenkind bin ich mit Scharlach auf der Isolierstation des Sankt-Anna-Kinderspitals gelegen und wurde dort mit systematischer Gewalt vonseiten der älteren Krankenschwestern behandelt, vielleicht weil mir das gesundheitlich hätte nützen sollen.

Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wurde in den 50er-Jahren Opfer von Gewalt im Kinderspital (Wikipedia)

Wie sah diese systematische Gewalt aus?
Jelinek: Ich bin systematisch geschlagen worden, weil ich einmal Durchfall gehabt und ins Bett gemacht hatte. Ich habe schlimme verbale Demütigungen und andere schöne Sachen erlebt. Ich kann mich heute noch an jedes Wort erinnern, sage aber keins davon hier weiter. Achtung: Es war aber kein sexueller Missbrauch!

Wie kann man sich den Kinderspitalsalltag zu jener Zeit vorstellen?

Jelinek: Ich weiß zum Beispiel noch, dass sie mir Spielzeug, das mir meine Eltern geschickt hatten, nicht gegeben haben, es wurde ihren Lieblingen ausgehändigt. Das war ein Specht, der laut gepeckt hat, aus Blech, und ich habe ihn aus dem Nachbarzimmer gehört und wusste genau, dass es meiner war, meine Mutter hatte ihn mir mitgebracht. Es war mir damals schon klar, dass das eine Strafaktion gegen mich war. Das sind Sachen, die ein fünfjähriges Kind nicht vergisst, das können Sie mir glauben.

Wie soll man heute mit solchen Vorfällen umgehen?

Jelinek: Auch Kinderspitäler sollten ihre oft brutale Vergangenheit, die zum Glück wirklich und endgültig vergangen ist, aufarbeiten. Ich will die Sache nicht aufbauschen, aber es wäre schon interessant, ob man aus Spitälern aus den 50er-Jahren ähnliche Geschichten wie die meine hört.

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Mies: Missbrauchsvorwürfe und politisches Kleingeld

Aus dem FALTER 47/2011

Kommentar Missbrauch

Jede Woche wird offensichtlicher, wie alltäglich Gewalt im Umgang mit Kindern jahrzehntelang war. Was man 2010 noch mit den Besonderheiten der katholischen Kirche erklärte, hat sich nun auf Kinderheime und andere Institute ausgeweitet. In Behindertenheimen, in Kinderspitälern – überall werden Zustände publik, die heute als gewalttätig und unmenschlich gelten.

Das fordert Psychologen, Historiker und Juristen heraus: Inwiefern kann man heute als Verbrechen behandeln, was vor 40 Jahren jedem egal war? Soll man nur Fakten aufarbeiten oder auch nachträglich strafen? Wie kann man Berichte von Opfern auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen, ohne ihnen jene Empathie und jenes Verständnis zu verwehren, die ihnen schon so lange verwehrt blieben? Es ist gut, wenn, wie derzeit, eine breite Öffentlichkeit über solche Fragen diskutiert.

Allerdings müssten sich alle Beteiligten auch ihrer Verantwortung bewusst sein. Und genau hier setzt die FPÖ noch mehr aus, als man es bei anderen Themen ohnehin von ihr gewohnt ist. Vor allem in Wien werden Missbrauchsvorwürfe auf billigste Weise instrumentalisiert.

Beispiele? FP-Klubchef Johann Gudenus unterstellt Barbara Helige, die die Wilhelminenberg-Kommission leitet, „Verbindungen in die Pädophilen-Szene“. Ein ORF-Mitarbeiter wird zum „Peiniger und Sadisten“. Eine Gudenus-Aussendung trägt gar den Titel „Gutmenschin Ute Bock misshandelte Zöglinge“.

Noch gehen solche miesen Unterstellungen in der Breite der Berichte eher unter. Längerfristig jedoch können sie eine Debatte über Schuld und Aufarbeitung zerstören, die wahres Potenzial gehabt hätte.

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„Wir waren junge Dinger“

Aus dem FALTER 46/2011

Was geschah vor 35 Jahren am Wilhelminenberg? Zwei mutmaßliche Täterinnen erzählen

Bericht: Joseph Gepp
Foto: Heribert Corn

Ein einziges Mal, erzählt Inge Krasonek*, habe sie etwas getan, das sie nicht tun hätte sollen. Das war bereits Jahre nach ihrer Zeit als Betreuerin am Wilhelminenberg, in einem anderen Heim, beim Erdäpfelschneiden mit einem Zögling in der Küche. Das Mädchen ließ ein scharfes Messer fallen, „einen halben Zentimeter neben meinem Zechen“, sagt Krasonek. „Vor Schreck hab ich sie weggestoßen, dann haben wir uns ganz geschockt angeschaut.“

Inge Krasonek und ihre Kollegin Elfriede Walmayr*, heute beide knapp 60, waren jahrzehntelang für die Stadt Wien als diplomierte Sozialpädagoginnen tätig. Nun werden ihnen Taten von fast unvorstellbarer Grausamkeit vorgeworfen.

Sie sollen vor 35 Jahren begangen worden sein, im Kinderheim am Wilheminenberg. „Wir waren junge Dinger“, sagt Walmayr. Mit 19 Jahren, im September 1972, versetzte sie das städtische Jugendamt MA 11 auf den Wilhelminenberg. 1975 folgte Kollegin Krasonek. Beide blieben bis 1977, als das unzeitgemäße Kinderheim geschlossen wurde.

Mit schlimmen Vorwürfen traten Mitte Oktober die beiden ehemaligen Heimkinder Eva L. und Julia K. im ORF und Kurier an die Öffentlichkeit. Sie beschrieben ein System organisierter Grausamkeit am Wilhelminenberg, das weit über die berüchtigten Methoden der „schwarzen Pädagogik“ hinausging – also über jene „gsunde Watschn“, die in den 70er-Jahren als legitimes Erziehungsmittel galt.

Schreckliche Dinge sollen im Schloss Wilheminenberg geschehen sein (Foto: Heribert Corn)

Laut L. und K. waren Massenvergewaltigungen und Zwangsprostitution alltäglich. Sie sprachen von Demütigungen, exzessiven Schlägen, Messerstichen. Einmal wöchentlich seien Rettungswagen vorgefahren, um misshandelte Kinder ins Spital zu bringen, manche von ihnen könnten sogar gestorben sein.

All dies erfolgte „jedenfalls mit Wissen und Billigung“ von Inge Krasonek, Elfriede Walmayr und einer Handvoll weiterer Erzieherinnen, heißt es in einer Klagsdrohung, die dem Falter vorliegt. Während Walmayr fremde Männer in die Schlafsäle ihrer Schützlinge gelassen haben soll, habe Krasonek darüber hinaus auch „Mädchen gezwungen, bei ihr im Bett zu schlafen, und diese vergewaltigt“.

„Wir wehren uns gegen diese Vorwürfe“, sagt Walmayr. „In über 40 Berufsjahren haben wir solche Verbrechen weder begangen noch gebilligt.“

Diese Geschichte zeigt die Sichtweise zweier mutmaßlicher Täterinnen. Ihre Namen sind dem Falter bekannt, doch wurde ihnen Anonymität zugesagt, um sie vor Anfeindungen zu schützen. Krasonek und Walmayr sehen sich als Opfer einer medialen Hysterisierung, die ständig schaurige Enthüllungen einer genauen Prüfung von Fakten vorzieht.

Durchaus hätten die beiden Gewalt am Wilheminenberg mitbekommen, erzählen sie. Aber sie habe in einem Rahmen stattgefunden, der damals – wenn auch schwer vorstellbar – als normal galt. „Vor allem bei älteren Erzieherinnen ist die Hand oft locker gesessen“, sagt Walmayr.

Die jungen Kolleginnen hätten wenig sagen können, wenn wieder einmal ein Zögling mit blauen Flecken auftauchte. „Dazu war das autoritäre Denken der Alten zu stark verankert. Erst ab Mitte der 70er sind Leute nachgerückt, die solche Methoden nicht mehr angewandt haben.“ Die Vorwürfe, die L. und K. gegen sie erheben, seien „aus der Luft gegriffen“ und würden sie „absolut fassungslos“ machen, sagt Inge Krasonek.

In der Öffentlichkeit lösten sie eine Lawine aus. 772 weitere Opfer haben sich seitdem bei der Opferschutzorganisation Weißer Ring gemeldet, um von Gewalt in Kinderheimen zu berichten. Bis zu den ORF-Abendnachrichten präsentieren Medien dies als Beweis dafür, dass die Schilderungen von L. und K. wahr sind.

Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden ersten Opfern und den 772 weiteren: Kein einziges bestätige bislang Missbräuche in der Organisiertheit und Systematik, wie sie L. und K. beschreiben, sagt Erika Bettstein, Sprecherin des Weißen Ring. Von Massenvergewaltigungen und Zwangsprostitution berichten auch keine weiteren Zeugen wie Sanitäter und Ärzte.

In der Berichterstattung verschwimmt die Grenze zwischen seinerzeit weithin akzeptierten harten Methoden und Schwerverbrechen, die auch schon damals als solche gegolten hätten. Opferanwälte und Psychologen warnen, dass alle Opfer unglaubwürdig wirken könnten, wenn Berichte über Missbrauch zu Skandalen aufgebauscht oder gar politisch instrumentalisiert würden.

Nun soll eine Kommission der Juristin Barbara Helige herausfinden, was am Wilhelminenberg wirklich geschah. Berichte von Krasonek und Walmayr werden für sie von großer Wichtigkeit sein.

Der Falter trifft die Erzieherinnen in einem Innenstadtcafé. Je länger sie reden, desto mehr tritt der Heimalltag vor vier Jahrzehnten zutage. Wenn sie selbst unschuldig sind – könnten ihnen Gewalttaten anderer entgangen sein? „Massenvergewaltigungen müsste man doch hören“, antwortet Krasonek. „Außerdem gab es ja die Direktorin, die auf allem die Hand hatte.“

In Krasoneks und Walmayrs Schilderungen erscheint der Wilhelminenberg und dessen Chefin Hildegard Müller als altbacken, bieder und verstaubt. Manchmal lachen sie sogar über die kleinen Absurditäten des einstigen Alltags; schließlich begegnen sich hier auch zwei Arbeitskolleginnen nach langer Zeit wieder. Der schrullige Magazineur im Kleiderdepot zum Beispiel. Und, immer wieder, Direktorin Müller, die „wie der Zerberus alles bewachte“.

Müller sei „altmodisch, autoritär und tiernarrisch“ gewesen, sagt Walmayr. Pudel Murlimuck war immer dabei. An junge Erzieherinnen appellierte die längst verstorbene Frau Direktor, „Zucht und Ordnung“ zu wahren und „sich mit den Mädchen nicht zu fraternisieren“. Dass ab den 70ern eine Reformgruppe am Wilheminenberg antiautoritäre Erziehung praktizierte, sah Müller skeptisch. „Sie fürchtete schlechten Einfluss“, sagt Walmayr. Glaubt man L. und K., sollen auch Erzieher der Reformgruppe vergewaltigt haben.

„Der Wilhelminenberg war schon ein Kindergefängnis“, sagt Walmayr. Mit einem großen Schlüsselbund sei man durch lange Gänge gelaufen. Die Heimuniform für Kinder war „fürchterlich altmodisch, pure 50er“. Insgesamt war es ein Erziehungssystem mit kaum Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse. Jeden Morgen etwa, erzählt Krasonek, gab es für kleine Kinder den Klogang. „Dann sind wir alle runter zu den Toiletten und jeder bekam zwei Stück Klopapier. Ob er überhaupt musste, spielte keine Rolle. Das war einfach der vorgesehene Zeitpunkt dafür.“

Und Gewalt? Hin und wieder bemerkten die Erzieherinnen „ordentliche blaue Flecken“. Meist stammten sie von Wochenenden, die die Mädchen zuhause bei ihren Problemfamilien verbrachten. Manchmal waren sie aber auch „heim- und nicht hausgemacht“, sagt Krasonek. „Wir wussten schon, dass manche von den Alten mitunter zuschlugen.“

Systematischere Gewalt jedoch will Krasonek und Walmayr nicht untergekommen sein, ebenso wenig wie schlimme Demütigungen. Von sechs Erzieherinnen, die inklusive ihnen selbst in der Klagsschrift vorkommen, habe es lediglich eine einzige gegeben, „bei der die Hand wohl locker saß“, sagt Walmayr. Es ist die berüchtigte „Schwester Linda“, die in Berichten als die große Sadistin vorkommt.

Wie also kommt es zu den Vorwürfen, wenn diese nicht stimmen? Psychologen erklären sie mit kindlichen Traumaerlebnissen, die später auf andere Personen übertragen werden. „In diesem Sinn kann man sie gar nicht als erlogen bezeichnen“, sagt eine Psychologin, die in der erhitzten Stimmung ungenannt bleiben möchte. Auch Krasonek und Walmayr vermuten, dass L. und K. möglicherweise die Gewalt der eigenen Familie auf Erzieher im Heim projizieren.

Der Sozialpädagoge Hans Feigelfeld erklärt das Phänomen anhand eines nachvollziehbaren Beispiels: „Stellen Sie sich vor, Sie sehen immer wieder ein Foto von sich selbst, wie sie als Kind Fußball spielen. Irgendwann wissen Sie nicht mehr, ob Sie sich tatsächlich an das Kicken erinnern und nur das Foto zu oft gesehen haben.“ Auch Feigelfeld arbeitete in den 70ern am Wilhelminenberg, als Leiter der Reformgruppe, von der auch Krasonek und Walmayr erzählen. Auch er glaubt nicht, dass diese Verbrechen möglich waren.

Eva L. und Julia K. selbst erlebten Krasonek und Walmayr als „liebe Mädchen“. Krasonek hat sogar Fotos von einer der beiden dabei, sie habe sie damals von ihr geschenkt bekommen.

Es sind alte Polaroids, die ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren zeigen. Auf einem macht sie einen Pflug beim Schulskikurs, auf einem zweiten sitzt sie vor dem Stockbett in ihrem Schlafsaal und zupft an einer Gitarre. „Wenn ich sie vergewaltigt hätte“, sagt Krasonek, „hätte Sie mir dann wirklich Fotos von sich geschenkt?“

*Namen von der Redaktion geändert

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