Aus profil 21/2015
Mazedonien ist klein, wird autoritär regiert und scheint Europa so unwichtig, dass es nicht einmal seinen richtigen Namen tragen darf. Jetzt setzt sich dort eine Demokratiebewegung gegen alle Widerstände für Freiheit ein.
Text und Fotos: Joseph Gepp, Skopje
Vielleicht sollte eine Geschichte über Mazedonien in diesen Tagen nicht in Kumanovo beginnen. Möglicherweise tut man damit genau das, was irgendjemand bezwecken möchte. Vor einer Woche rückte die Polizei gegen angebliche albanische Terroristen in der 70.000-Einwohner-Stadt vor. Es war ein Anti-Terror-Einsatz, behauptet die Regierung. Die Täter hatten sich in einem Viertel nahe des Zentrums verschanzt. 22 Menschen starben, acht davon Polizisten, 14 vermeintliche Terroristen. Heute, vier Tage später, riecht es zwischen den Ruinen der zerstörten Häuser noch immer nach verkohltem Holz. Unter den Schuhsohlen knirschen die Scherben zerbrochener Fenster und Dachziegel. Das war kein Polizeieinsatz. Das war ein kleiner Krieg.
Es war ein Ablenkungsmanöver, denken viele in Skopje, der Hauptstadt, 30 Kilometer weiter südlich. Die Regierung selbst habe die Aktion in irgendeiner Form orchestriert oder wenigstens eskalieren lassen, sagt ein junger Demonstrant. Seine Mitstreiter rundherum nicken. „Kumanovo geschah genau in dem Moment, als wir endlich begonnen haben, uns mit den echten Problemen zu befassen.“
Das echte Problem, so die Demonstranten, sei die Regierung. Allabendlich gehen sie auf die Straße, seit Wochen, ein kilometerlanger Tross. Sie schreien, pfeifen und skandieren „Diktatur“. In Skopje findet gerade eine Art Volksaufstand statt. Bis vor wenigen Tagen noch hat er das Land in Atem gehalten. Doch jetzt reden alle nur noch vom aufsehenerregenden Polizeieinsatz in Kumanovo und der Gefahr, die von dem ständig schwelenden ethnischen Konflikt im Land ausgeht. Keiner spricht mehr von der Bürgerrevolte in der Hauptstadt.
Die Lage ist angespannt in Mazedonien, wegen der Gewalt in Kumanovo, wegen der Demonstrationen in Skopje. Die mächtige konservative Regierungspartei, seit 2006 an der Macht, trägt das sperrige Kürzel VMRNO-DPMNE („Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit“). Sie habe hier alles in der Hand, im Großen wie im Kleinen, sagen die Demonstranten. Um die Pressefreiheit etwa ist es laut der NGO Reporter ohne Grenzen nirgendwo in Europa außer in der Türkei und Russland so schlecht bestellt wie in Mazedonien. Doch die Herrschaft der Partei reicht bis in kleine Alltagsprivilegien hinein: Ohne Mitgliedschaft bekomme man in Mazedonien nicht einmal ein Bett im Studentenheim, berichten die Demo-Teilnehmer.
Auch Anastas Vangeli protestiert: 28 Jahre, Vollbart, Sympathisant der linken „Solidaritätsbewegung“. Er arbeitet als Sozialwissenschafter in Polen und ist gerade auf Besuch zu Hause. Auf seinem Hemd prangt eine Plakette mit dem durchgestrichenen Konterfei des Premierministers Nikola Gruevski. „Er hat das Land in ein autoritäres System verwandelt“, sagt Vangeli.
Bei den Protesten gegen Gruevski spielt es – zum ersten Mal in diesem multiethnischen, hochkomplexen Balkanland – keine Rolle, ob man der slawisch-mazedonischen Mehrheit oder der albanischen Minderheit angehört. Mitunter teilen sich der schwarze albanische Doppeladler und die gelbe mazedonische Sonne sogar eine Fahne, die aus dem Menschenmeer ragt.
Im abgelegenen Kleinstaat Mazedonien ist exemplarisch zu beobachten, wohin sich Südosteuropa momentan ansatzweise entwickelt. Angesichts autoritärer Eliten definieren sich Menschen nicht mehr nur über ihre Volksgruppen, sondern auch als Staatsbürger. Sie fordern mit dieser Haltung ihre Systeme heraus. Aber Mazedonien zeigt auch, wie schnell ein Anlass für neuen ethnischen Hass gefunden werden kann.
Noch vor wenigen Jahren wäre wohl undenkbar gewesen, was heute geschieht. Ein Drittel der mazedonischen Bevölkerung sind ethnische Albaner. Im Jahr 2001 wäre es beinahe zum Bürgerkrieg gekommen, rund 100 Menschen starben bei einem albanischen Aufstand. Was Mazedonien stets prägte, war der Graben zwischen den beiden großen Volksgruppen.
Mazedonien ist nur eines der Länder dieser Region, in denen die Albaner eine wichtige Rolle spielen. Als Minderheit leben sie auch im nahen Serbien, das nun von dem angeblichen Terroreinsatz in Kumanovo im südlichen Nachbarland ebenso alarmiert ist. Die Mehrheit stellen die Albaner außerdem im Kosovo und in Albanien. Ihr Unabhängigkeitsstreben und ihre großalbanischen Pläne sorgen auf dem Balkan seit den 1990er-Jahren für Kriege und Konflikte.
Mazedonien, bis 1991 die südlichste Teilrepublik von Jugoslawien, ist heute ein kleines, armes und ziemlich isoliertes Land. Es hat zwei Millionen Einwohner, kaum mehr als Wien. Der Durchschnittslohn beträgt 338 Euro im Monat. Die internationale Öffentlichkeit kümmert sich wenig um Mazedonien, weil es unbedeutend erscheint. Und das Land hat nicht einmal einen richtigen Namen.
Der südliche Nachbar Griechenland stößt sich an der Bezeichnung „Mazedonien“, weil diese angeblich Ansprüche auf die gleichnamige Provinz in Nordgriechenland impliziert. Also firmiert Mazedonien in der internationalen Diplomatie unter dem Kunstwort „Fyrom“, abgekürzt für „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ (Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien).
Wegen des Namensstreits liegen alle Bestrebungen des Ländchens seit Jahren auf Eis, EU und NATO beizutreten. Kaum jemand blickt nach Mazedonien. Und wo niemand hinblickt, können die Dinge leicht aus dem Ruder laufen.
Mazedonien sei heute „ein gekaperter Staat“, sagt der Grazer Balkanexperte Florian Bieber: „Die konservative Regierungspartei und der Premier haben die staatlichen Institutionen, die ohnehin nie besonders stark waren, völlig unter ihre Kontrolle gebracht.“

„Gekaperter Staat“: Derartige Prunkarchitektur ließ das Regime in den vergangenen Jahren in Skopje errichten (Gepp)
Der Mann, der das ändern könnte, heißt Zoran Zaev und ist Chef der oppositionellen sozialdemokratischen Partei. Die „Wahrheit über Mazedonien“ nennt er eine Serie von über 30 Enthüllungen, die er seit Anfang Februar präsentiert. Aber alle anderen sprechen nur metaphorisch von den „Bomben“. Mehr als 30 davon hat der Sozialdemokrat in den vergangenen Monaten gezündet, indem er abgehörte Telefonate der Regierungsspitze rund um Premier Nikola Gruevski veröffentlichte.
Keiner weiß, woher Zaev diese Mitschnitte hat. Aus ihnen geht hervor, dass die Regierung 20.000 Menschen abhörte: Diplomaten, Journalisten, Unternehmer, Oppositionelle. Ein System von Korruption, Machtmissbrauch und Vertuschung kommt ans Licht. Es erschüttert das Land, und es bewirkt gleichzeitig, dass es sich verändert.
Mittwoch, 13. Mai, im Hauptquartier der Sozialdemokratischen Partei, Bihaæka-Straße 8, Erdgeschoss. Der Saal ist brechend voll. Zaev, ein kleiner Mann mit dunklen, borstigen Haaren, spricht mit fester Stimme. Die regimetreue Justiz hat ihn inzwischen wegen staatsfeindlicher Umtriebe angeklagt. Er kooperiere mit einem ausländischen Geheimdienst und plane einen Staatsstreich, lautet der Vorwurf. Doch Zaev macht weiter. Er dreht das Band auf, lässt 30 Minuten lang Telefonmitschnitte laufen. Ein Freizeichen ertönt, laut wie bei einem Konzert. Es folgen Telefonate unter Männern, einer von ihnen ist Premier Gruevski. Als man sie selbstgewiss lachen hört, greifen sich einige im Publikum an die Stirn.
Seit Februar finden solche Audiovorführungen statt. Dabei wurde beispielsweise enthüllt, wie Regierungspolitiker politisch inopportune Richter mit Versetzungen bestrafen. Die Leiter von Waisenhäusern werden angewiesen, ihre Schützlinge zur Wahl zu karren und für die Konservativen stimmen zu lassen. Der Transportminister erzwingt beim E-Werk einen Defekt der Aufzüge in den Plattenbauten am Wahltag, damit es die alten Leute, meist Wähler der Sozialdemokraten, nicht in die Wahllokale schaffen.
Es war das Jahr 2008, als Mazedonien anfing zu werden, wie es heute ist. Bei einem NATO-Gipfel in jenem Jahr beschlossen die Mitgliedsstaaten nach einem Veto Griechenlands, keine Beitrittsgespräche mit Mazedonien zu führen. Da war Nikola Gruevski, der ursprünglich als liberaler Reformer galt, gerade zwei Jahre lang an der Macht. Als sich die NATO- und EU-Perspektive Mazedoniens für absehbare Zeit zerschlagen hatte, begann eine Suche nach „alternativen Erzählungen“, sagt der Experte Bieber.
Da Mazedonien keinen Anschluss an Europa und den Westen fand, schuf es sich eine neue archaische Identität aus dem Altertum. Die konservative Regierung propagiert eine Staatsideologie, die an das antike Mazedonien von Alexander dem Großen anschließen soll. Regimetreue Historiker versuchen, die Abstammung der modernen Mazedonier von den antiken zu belegen, auch wenn die Slawen tatsächlich erst 900 Jahre später auf dem Balkan einwanderten. Im Rahmen eines gewaltigen Bauprogramms, das seit 2009 in Skopje läuft, entstehen Dutzende riesige Statuen und säulenbewehrte Festhallen. Sie verherrlichen die angeblich antike Vergangenheit des Volkes. Der Höhepunkt ist Alexander der Große selbst: als Reiterstatue mit gezücktem Schwert, 24 Meter hoch, auf dem Hauptplatz von Skopje, zwischen Bronzelöwen und Wasserfontänen.
Heute dient Alexander den allabendlichen Protestmärschen durch die Stadt als Kulisse. Die Demonstranten ziehen vorbei an den monumentalen Bronze-Fantasien des Regimes, an wehenden Fahnen, wallenden Umhängen, wiehernden Schlachtrössern. Eine urbane, gebildete Schicht führe die Bewegung an, sagt Anastas Vangeli, der Anti-Regierungs-Aktivist. „Aber inzwischen stoßen auch immer mehr gewöhnliche Leute zu uns, zum Beispiel Alte und Arbeiter.“ Die Enthüllungen des Sozialdemokraten Zaev haben all die Unzufriedenen zusammengeführt. Alte und Junge, mehr und weniger Gebildete, Slawen und Albaner. „Vieles von dem, was nun ans Licht kommt, haben die Leute vorher schon geahnt“, sagt Vangeli: „Aber wir hätten nie gedacht, dass es so schlimm ist.“
Die mazedonischen Medien, mehrheitlich in Regierungshand, schmähen die Protestler. Sie seien Söldner der US-Geheimdienste, heißt es im Fernsehen. Seit dem sogenannten Anti-Terror-Einsatz bringt man sie außerdem mit den Terroristen von Kumanovo in Verbindung. Was allerdings in Kumanovo genau geschehen ist, das scheint auch eine Woche nach dem Vorfall niemand in Mazedonien zu wissen – nicht einmal die, die dabei waren.
So wie der 61-jährige Hasani Shabi, ein ethnischer Albaner. Am Samstag, 9. Mai, 7 Uhr morgens, wurde er von seiner Frau geweckt. Sie hatte draußen Schüsse gehört und sagte zu ihm: „Es ist Krieg.“
Shabi versteckte sich mit seiner sechsköpfigen Familie im Keller, einem dunklen, feuchten Loch, in dem man nicht aufrecht stehen kann. Unterdessen trafen Patronen und Granaten das Einfamilienhaus, stundenlang. Das Viertel versank in Trümmern. Sie rochen unten, wie das Haus zu brennen begann. Um vier Uhr nachmittags schließlich, als die Schüsse kurz aufhörten, lief Shabi nach draußen. Er lotste seine Familie einen schmalen Pfad neben seinem Haus entlang, hinaus aus dem Kampfgebiet. Die Schlacht sollte danach noch bis in die späte Nacht weitergehen, insgesamt 16 Stunden lang.
Wer waren die Terroristen? Das wisse er nicht, sagt Shabi, genauso wie die anderen Einheimischen in Kumanovo: „Ich habe nur Polizisten gesehen.“ Waren ihm zuvor verdächtige Fremde aufgefallen? Nein, sagt er. Standen hier im Viertel Häuser leer, in die sich Terroristen früher schon hätten zurückziehen können? Ebenfalls nein. Gibt es in Kumanovo Probleme zwischen den Volksgruppen? Vorbehalte schon, sagt Shabi, aber insgesamt lebten Slawen und Albaner friedlich aneinander vorbei.
Was ist also geschehen in Kumanovo? Laut dem mazedonischen Innenministerium sind albanische Unabhängigkeitskämpfer illegal aus dem Kosovo eingesickert. 14 von ihnen starben, etwa 30 sollen sich ergeben haben, sagt Ivo Kotevski, Pressesprecher des Ministeriums. Über etwaige Einvernahmen von ihnen habe er noch keine Informationen. Die Gruppe stand angeblich seit Monaten unter Beobachtung und plante Anschläge mit bis zu Tausenden Toten, etwa auf Sportstadien und Sehenswürdigkeiten in Skopje.
Könnte der Anti-Terror-Einsatz von Kumanovo tatsächlich eine Art Manöver des eigenen Staatsapparats gewesen sein, um die Aufmerksamkeit von den Anti-Regierungs-Protesten auf die alte Angst vor dem ethnischen Konflikt zu lenken? Eine Inszenierung, die aus dem Ruder lief? Vorläufig gibt es nur zahlreiche Ungereimtheiten, offene Fragen und den verdächtigen Zeitpunkt der Aktion. Als Triebkraft hinter dem Vorfall werden, abseits der offiziellen Version, kriminelle Schmugglerbanden, inneralbanische Mafiaclans oder gar der mazedonische Geheimdienst vermutet.
Möglicherweise wird man nie erfahren, was wirklich in Kumanovo geschehen ist. Denn was immer die mazedonischen Behörden bei ihren Ermittlungen herausfinden werden, man wird es ihnen nicht glauben, nach all der Propaganda und den abgehörten Telefonaten.
Immerhin hat Kumanovo die europäische Politik aufgerüttelt. Außenminister, Botschafter und EU-Kommissare äußern sich besorgt über die Gewalt und fordern zudem eine rasche Lösung der politischen Krise. Dies zwang Premier Gruevski erstmals zu Zugeständnissen. Vergangene Woche entließ er die umstrittene Außenministerin, den Transportminister und seinen Cousin, den mächtigen Geheimdienstchef Sašo Miljakov. Auf eine Interviewanfrage von profil antwortete das Büro des Premiers nicht; auch regierungsfreundliche Politik-Experten in Mazedonien waren nicht zu Gesprächen bereit.
Es wäre leicht für Europa, die Krise in Mazedonien zu lösen. Mit ein wenig Druck auf Griechenland und Mazedonien ließe sich der Namensstreit beenden. Dann hätte Mazedonien wieder eine EU-Perspektive. Das politische System hätte eine Motivation, nicht weiter ins Autoritäre und gar in Gewalt abzugleiten, als Nächstes vielleicht gegen die Demonstranten von Skopje.
Doch bisher erschien das kleine Mazedonien dem großen Europa zu unwichtig für entschlossenes Handeln. Über den Namensstreit seien manche EU-Regierungschefs sogar froh, sagen Diplomaten hinter vorgehaltener Hand. Denn er hält ihnen einen weiteren unpopulären EU-Beitritt vom Leib, ohne dass sie deshalb in Erklärungsnöte gerieten.
Diese Geschichte endet an dem Ort, wo sie auch nicht hätte beginnen sollen. „Noch ein Kumanovo wird Mazedonien wohl nicht aushalten“, sagt der regierungskritische Experte und mazedonische Ex-Diplomat Nikola Dimitrov. Zwar sei das Verhältnis der Volksgruppen heute stabiler denn je, auch wegen der Proteste in Skopje. Aber weitere Gewalt würde es wieder auf die Probe stellen. Dann würden Slawen und Albaner vielleicht nicht mehr miteinander demonstrieren, sondern gegeneinander kämpfen, weil sie einander die Schuld für etwaige Anschläge gäben.
Die mazedonische Regierung, sagt Dimitrov, sei jetzt in einem „Alles-oder-nichts-Dilemma“. Wenn Gruevski nun aufgibt, „drohen ihm und seinen Gefolgsleuten schwerwiegende Konsequenzen, bis hin zur Haft“. Also werde der Premier weitermachen. So lange wie möglich. Vielleicht bis zum Ende.