30. November 2011 · 11:19
Aus dem FALTER 48/2011
Bericht: Joseph Gepp
Fotos: Heribert Corn
Nach einem Jahr in der Regierung nehmen sich Wiens Grüne ein Thema vor, an das sich noch keiner wagte: die Zurückdrängung des Autoverkehrs. Protokoll eines Platzkampfes
Den Autolärm der nahen Triester Straße nimmt man hier nur noch als konstantes Hintergrunddröhnen wahr. Der Belgradplatz ist ein klassischer Wiener Beserlpark in Favoriten, ein Fleck Grün im dichtverbauten Gründerzeitviertel. Parkbänke, Kinderspielplatz, Hundezone. Und eine Hütte mit zylindrischen Metallteilen auf dem Dach. Das ist jene Feinstaubmessstelle, die alljährlich eine der höchsten Belastungen im deutschen Sprachraum verzeichnet.
Wenn es kalt und grau wird, sorgt der Staub regelmäßig für Verstörung. Asthma, Allergien und Herz-Kreislauf-Erkrankungen kann er auslösen; trockene und windstille Witterung fördert seine Verbreitung. Rund die Hälfte des Feinstaubs stammt laut Verkehrsclub Österreich aus Autoabgasen, vor allem Dieselruß. Kritisch wird die Belastung ab 50 Mikrogramm Staub pro Kubikmeter Luft. Dieser Grenzwert darf laut EU an nicht mehr als 35 Tagen im Jahr überschritten werden. Am Belgradplatz unweit der stark befahrenen Triester Straße sind es seit Jahresbeginn 58 Tage.
Ärzte warnen nun vor zu viel Betätigung im Freien. Lisa Rücker, grüne Vizebürgermeisterin von Graz, fordert Fahrverbote. Ihre Wiener Amtskollegin Maria Vassilakou denkt über sogenannte Umweltzonen nach, in die nur schadstoffarme Fahrzeuge einfahren dürfen.
Jeden Winterbeginn aufs Neue führt die Feinstaubdebatte die Schädlichkeit von Autoabgasen vor Augen – und führt zur Frage, wie Städte der Belastung durch den Individualverkehr begegnen sollen.

Zylindrische Metallteile auf dem Dach: Nahe der Triester Straße steht die Feinstaub-Messanlage Belgradplatz (Corn)
Verkehrspolitik ist einer der letzten Bereiche, den Kommunen noch weitgehend autonom gestalten können. Soll es sich für den Bürger rechnen, in der Stadt das Auto zu nehmen? Die Grünen, die Ende 2010 in die Wiener Stadtregierung eintraten, haben darauf stets eine klare Antwort gegeben: Nein.
Jetzt, nach über einem Jahr, macht Wiens rot-grüne Koalition ernst. Öffi-Tarifreform, Straßensperren, Verteuerung der Parkscheine, Ausweitung kostenpflichtiger Parkzonen – in Verkehrsdingen geht sie Vorhaben an, die absolut rote Stadtregierungen früher lieber vermieden. Von einem Drittel soll der Anteil der Autos am Gesamtverkehrsaufkommen auf weniger als ein Viertel sinken, diese Steilvorlage steht im Koalitionsübereinkommen.
Können solche Ziele tatsächlich erreicht werden? Setzen die Maßnahmen an den richtigen Stellen an? Und vor allem: Können sie Widerstände von Autofahrern und Pendlern überwinden, die in Politik und Boulevardmedien mächtige Unterstützer haben? Schon laufen die Autofahrerclubs Arbö und ÖAMTC Sturm gegen die „einfallslose Abkassiererei“.
An solchen Fragen wird sich der Erfolg der Stadtregierung messen, die Reformkraft der Grünen und die Veränderungsbereitschaft der SPÖ. Verkehr in Wien, das ist mehr als Planungsagenden für Fachleute und Gesundheitsfürsorge für das Volk. Verkehr ist auch zur Prestigeangelegenheit zweier Regierungsparteien geworden.
Es gibt, wenn man so will, drei Orte, an denen sich zeigt, ob die rot-grüne Strategie erfolgreich sein wird: das Rathaus, wo Entscheidungen fallen. Die Mariahilfer Straße, wo die größte der baulichen Veränderungen stattfinden soll. Und die städtischen Bezirksämter, wo die Visionen der Stadtplaner auf die Wünsche der Bürger treffen.
Eines davon steht am Richard-Wagner-Platz in Ottakring. In einem repräsentativen Büro residiert Franz Prokop, seit 2004 SPÖ-Bezirksvorsteher. Prokop gilt als hemdsärmeliger Typ, der manch grüner Idee aus dem Rathaus eher skeptisch begegnet. Als Vassilakou im September im Falter verkündete, das Parkpickerl sei für Ottakring fixiert, korrigierte Prokop sie prompt öffentlich: Gar nix sei fix.
Prokop weiß, wie sensibel das Thema ist. Er sagt, seine Schrebergartler und Häuslbauer am Bezirksrand würden rebellieren, wären ihre Vorgärten plötzlich von Pendlern zugeparkt, weil diese weiter innerhalb der Stadt neuerdings Gebühren zahlen müssten.

Folgt in Sachen Parkpickerl anderen Bezirken: Franz Prokop, SPÖ-Vorsteher des Bezirks Ottakring (Corn)
Zwar könnte Prokop die Ausweitung des Parkpickerls einfach vom Tisch wischen – denn sie muss „jedenfalls mit Zustimmung der Bezirksvertretungen“ erfolgen, steht als Konzession an SPÖ-Bezirkskaiser im Koalitionspapier. Dennoch ist der Vorsteher in Zugzwang geraten.
Das liegt an einer Studie, die die städtische MA 18 im November präsentierte. Darin analysierten Vassilakous Planer nicht nur, dass in Ottakring mit 85 Prozent verparkter Flächen praktisch jede Lücke besetzt ist. Sie berechneten auch gleich mit, was passiert, wenn sich einer der Bezirke der Parkraumbewirtschaftung verweigert.
Der grüne Verkehrssprecher Rüdiger Maresch, einer der Köpfe der rot-grünen Parkstrategie, sitzt in seinem Rathausbüro und blättert die Studie durch. Auf jeder Seite ist ein anderer Bezirk tiefrot gefärbt. „Zieht ein Bezirk nicht mit, hätte das dort die totale Überparkung zur Folge“, sagt Maresch. Er glaubt an einen bezirksweisen Dominoeffekt. „Autofahrer weichen dorthin aus, wo sie keine Gebühren zahlen müssen.“
Prokops Nachbarbezirk Rudolfsheim-Fünfhaus, ebenfalls SPÖ-regiert und noch ein bisschen stärker zugeparkt als Ottakring, votierte bereits für die Ausweitung. Das lässt Prokop für den 16. nun ebenfalls nachdenken. Die Sache gehe jetzt in die „gremiale Arbeit“, sagt er. Zwar seien bedeutende Fragen offen, vor allem, wie man außerhalb der Pickerlzone den Parkkollaps verhindern könne. „Aber wenn die Nachbarbezirke dem Pickerl zustimmen, gehen wir mit“, sagt Prokop.
Bis September 2012 wollen die Grünen die Parkraumbewirtschaftung in den Außenbezirken eingeführt haben. Um rund 15 Prozent soll der Autoverkehr in Wien dadurch zurückgehen – vor allem, weil Pendler auf Öffis umsteigen. Rund eine Viertelmillion von ihnen fährt täglich nach Wien, zwei Drittel davon im Auto. Auf die Pendler zielt auch eine zweite aktuelle Maßnahme der rot-grünen Regierung ab: die Verteuerung von Parkscheinen um rund 60 Prozent ab März 2012. Indes wird das Parkpickerl, das nur gemeldete Wiener benutzen dürfen, geringfügig billiger.
Diese Maßnahmen könnten sich auch auf den Belgradplatz auswirken, den feinstaubbelasteten Beserlpark im Arbeiterbezirk Favoriten. 31 Autos pro Minute fahren hier Tag und Nacht über die Triester Straße. Einige Ecken vom Belgradplatz entfernt, dient sie als Zubringer für die Südautobahn. Die Folgen für Anrainer sind mehr als nur Feinstaubbelastung. Das legt zumindest eine aktuelle Studie des Umweltministeriums von Nordrhein-Westfalen nahe.
Dort wurden an 5000 Frauen, die näher als 50 Meter an einer Hauptverkehrsader wohnen, erstmals Langzeitfolgen erhoben. Ergebnis: Die allgemeine Sterblichkeit – also die Häufigkeit von Todesfällen in einem bestimmten Zeitraum – lag 40 Prozent über dem Schnitt; das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit zu sterben, gar 80 Prozent darüber. Zudem belegt die deutsche Studie einen Zusammenhang von starker Verkehrsbelastung und niedrigen Mieten in einem Viertel – und damit schlechten Wohnverhältnissen und einkommensschwacher Bevölkerung. Zwar seien solche Daten für Österreich nie erhoben worden, sagt die Stadtforscherin Betül Bretschneider von der TU Wien, „aber die Zahlen lassen sich durchaus auf Wiener Verhältnisse umlegen“.
Eine Reduktion des Autoverkehrs hätte neben gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen auch solche auf die Lebensqualität, sagen Stadtsoziologen. Ihr Schlagwort lautet „Stadt der kurzen Wege“: Wohn-, Gewerbe- und Dienstleistungsorte sollen kleinräumig ineinandergreifen, statt, wie in der Nachkriegszeit, durch lange Autostrecken voneinander getrennt zu sein. Als Vorbilder für Wien gelten etwa München, wo von Bürgermeister Christian Ude abwärts 14 Prozent der Bewohner das Fahrrad nehmen, oder London, das E-Mobilität fördert und mittels Citymaut den innerstädtischen Verkehr einschränkt.
In Wien hingegen nehmen immer noch nur sechs Prozent der Leute das Rad. Über vielspurige Straßen gelangt man im Auto durch dichtverbautes Gebiet relativ rasch ins Stadtzentrum. An der Donau schneiden Schnellstraßen attraktive Uferzonen vom Rest der Stadt ab. Über den Parkring, betonen die Grünen gern, fahren mehr Autos als über den Brennerpass.
Gelingt es der rot-grünen Koalition, den Verkehr mittels Parkpickerl Bezirk für Bezirk einzudämmen, werden die Straßen frei für Rückbaumaßnahmen. Dann hätte man etwa Platz für Radwege und Fußgängerzonen, ohne fürchten zu müssen, dass es deshalb anderswo zum Verkehrskollaps kommt. Infolge solcher Maßnahmen würden, auf der Triester Straße wie anderswo, immer weniger Autos in die Stadt fahren.
Die größte und prominenteste Rückbaumaßnahme in Wien hat bereits begonnen, obwohl die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung erst am Anfang steht. Sie findet allerdings nicht am Belgradplatz statt, sondern ein gutes Stück stadteinwärts.
Vergangenen Donnerstag, Hofmobiliendepot, Neubau. Wo sonst kaiserliche Möbel ausgestellt werden, klagt heute ein Mann einem Stadtplaner seine Sorge um die Garageneinfahrt. „Dialog Mariahilfer Straße“ heißt die Veranstaltung. Schautafeln klären darüber auf, dass nur neun Prozent der Kunden der Einkaufsstraße im eigenen Fahrzeug anreisen. Menschen kritzeln Vorschläge auf Zettel. „Schleichwege für Autos sperren“ steht da auf eine Tafel gepinnt. Daneben: „Keine Demonstrationen!“ und „Freiräume ohne Konsumzwang“.

Autosperre oder Shared Space? Interessierte Bürger bei der Info-Veranstaltung zur Mariahilfer Straße (Corn)
Die Umgestaltung der Mariahilfer Straße gilt als das grüne Prestigeprojekt. Hier will die Partei vorführen, wie sie sich die postautomobile Stadt vorstellt. Die 2-Kilometer-Shopping-Meile soll bis November 2014 entweder komplett für Autos gesperrt oder zum sogenannten Shared Space werden, den Autos nur im Schritttempo durchqueren dürfen. Welche Variante realisiert wird, sollen die Bürger entscheiden. Ihre Ideen in Katalogform werden Planern als verbindliche Vorgaben dienen. Ob dies nur Kosmetik ist und ob es kritische Stimmen überzeugen kann, werden die kommenden Jahre zeigen.
Für die umliegenden Bezirke Mariahilf und Neubau jedenfalls soll ein „Verkehrskonzept“ dafür sorgen, dass die Grätzel nicht in jenem Verkehr ersticken, der sonst über die Mariahilfer Straße geflossen wäre. Einbahnregelungen könnten hier viel bewirken, sagt der Grüne Maresch. Doch wer garantiert, dass Autofahrer nicht darüber hinaus auf Straßen ausweichen, die weiter entfernt liegen? „Damit das Projekt Mariahilfer Straße wie gewünscht funktioniert, muss sich durch die Parkraumbewirtschaftung auch das gesamte Verkehrsaufkommen verringern“, antwortet Maresch.
Marion Litschke, 59, lässt sich von solchen Argumenten nicht überzeugen. Seit 40 Jahren betreibt sie das kleine Juweliergeschäft M. Gotsch dort, wo sich Mariahilfer Straße und Neubaugasse kreuzen. „Fürs Geschäft wird die Umgestaltung per saldo wurscht“, glaubt sie. Es werde nur „alles komplizierter“, vor allem wegen der erschwerten Lieferantenzufahrt. Hat Litschke dies im Hofmobiliendepot vorgebracht? Nein, sagt sie, „ich brauch mir doch nicht von irgendeinem kleinen grünen Studenten erklären lassen, wie gut alles ist“.
Litschke selbst pendelt täglich mit dem Auto vom 23. Bezirk auf die Mariahilfer Straße, wo sie einen billigen Garagenplatz hat. „Wenn die Menschen spazieren gehen wollen, dann sollen sie nach Schönbrunn“, sagt sie. „Und einkaufen können sie auf der Mariahilfer Straße ja jetzt auch schon. Die Trottoirs sind ja breit genug.“

Fürs Geschäft sei "die Umgestaltung per saldo wurscht“: Marion Litschke, Juwelierin auf der Mariahilfer Straße (Corn)
Dass die Trottoirs so breit sind, verdankt die Straße einer ersten Umgestaltung im Jahr 1993. Damals wurden im Zuge der Errichtung der U3 die Fahrspuren schmäler und die Gehsteige breiter gemacht. In den folgenden Jahren stieg die Kundenfrequenz enorm; die zuvor leicht schmuddelige Straße wurde zu einer der wichtigsten Einkaufsmeilen Mitteleuropas. Zugleich sank die Zahl der Autos um rund die Hälfte, sagt Werner Rosinak, Architekt der ersten Umgestaltung. Selbst Juwelierin Litschke gesteht heute ein, dass es „früher weniger angenehm war, als die Autos noch direkt am Schaufenster vorbeigefahren sind“.
Ob man statt breiterer Gehsteige nicht lieber gleich eine Fußgängerzone errichten sollte, diese Frage kam auch 1993 schon auf. Schließlich verwarf man sie aber. Die Gegenargumente waren ähnlich wie heute, sagt Rosinak: „die Zufahrten, der Lieferverkehr und vor allem die Angst vor der Verdrängung der Wägen in den sechsten und siebten Bezirk“.
Heute, 20 Jahre später, beginnt der nächste Versuch. Nur sollen diesmal auch abseits der Mariahilfer Straße die Autos weniger werden.
Carsharing in Wien
Weil ein Carsharing-Auto bis zu acht Pkws ersetzt, will Maria Vassilakou Carsharing nach dem Prinzip City Bike „in jedem Bahnhof und Bezirk“. Eben davor warnt jedoch Christian Gratzer vom VCÖ: Carsharing sei zwar zu begrüßen und zahle sich aus, wenn man unter 12.000 Kilometer im Jahr fährt. „Wenn es allerdings ohne die übliche Voranmeldung zur Verfügung steht, macht es den Öffis Konkurrenz“, so Gratzer
Politik persönlich
Dem Druck auf die Tränendrüse widerstehen (auch) Grüne nicht. Feinstaub-Maßnahmen forderte Bundeschefin Eva Glawischnig in der Zeitung Österreich. Grund: Auch ihr Sohn habe „einen Allergieschock“ erlitten