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Acht Prozent

Aus profil 22/2016

Damit in Zukunft nicht mehr allein der Steuerzahler für die Kosten von Bankenpleiten aufkommt, sollen die Gläubiger der Geldhäuser etwas mitzahlen. Aber wird das auch was? Wie die EU-Kommission in Brüssel mit Detailbestimmungen zentrale Bankenreformen hintertreibt.

Von Joseph Gepp

Es kommt die Zeit, da ist eine Reform vollendet. Dann halten Politiker und Experten noch einige Lobreden auf sie, bevor sie sich anderen Themen zuwenden. Dann feilen im Hintergrund die Beamten noch an letzten Details, aber die interessieren schon niemanden mehr.

Dabei kann gerade diese Phase einer Gesetzesentstehung äußerst heikel sein.

Zum Beispiel bei der Neuregelung der Bankenwelt in Brüssel. Es handelt sich um eines der größten Vorhaben der EU der vergangenen Jahre. Umfangreiche Reformen sollen den Finanzsektor für eine mögliche neue Krise wappnen. Das Ziel: Die Kosten dafür sollen nicht mehr allein am europäischen Steuerzahler hängen bleiben, so wie bei der vergangenen Finanzkrise im Jahr 2007. Ein Meilenstein in diese Richtung ist die sogenannte EU-Bankenabwicklungsrichtlinie. Sie regelt seit dem Jahr 2014, wer künftig mit welchem Geld zahlen soll, wenn Banken in finanzielle Schieflagen geraten.

Doch vergangenen Montag schob die EU-Kommission der Richtlinie noch eine „Delegierte Verordnung“ nach. Darin werden Details spezifiziert. Allerdings: nicht zum Guten, wie Kritiker meinen.

„Über das Kleingedruckte werden die Vorschriften der Abwicklungsrichtlinie entscheidend gelockert“, sagt Sven Giegold, grüner deutscher EU-Parlamentarier, der sich mit Bankenregulierung befasst. Christian Stiefmüller von der NGO „Finance Watch“ in Brüssel ergänzt: „Mit Detailbestimmungen höhlt die EU-Kommission Gesetze aus, zu denen man sich bereits durchgerungen hat.“

Beim Thema Bankenregulierung stehen viel Geld und Macht auf dem Spiel. Bankenlobbyisten setzen alles daran, manche Reformen doch noch abzuschwächen. Schenkt ihnen die EU-Kommission – also quasi die Regierung der EU unter Jean-Claude Juncker – zu viel Gehör?

Die Verordnung sei ein weiterer wichtiger Schritt zu einem „gut funktionierenden System, in dem nicht mehr die Steuerzahler für Probleme der Banken aufkommen“, freut sich per Aussendung der Brite Jonathan Hill, konservativer Politiker und zuständiger EU-Kommissar für Finanzmarktstabilität. Doch dem widersprechen nicht nur Giegold und Stiefmüller, sondern auch die Europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA, selbst ein Organ der EU, mit Sitz in London. „Die EBA ist mit vielen Änderungen, welche die Kommission vorgeschlagen hat, nicht einverstanden“, heißt es in einer Protestnote der Aufseher an die Kommission vom Februar. Man fordere die Kommission „unverzüglich“ auf, Änderungswünsche der EBA zu berücksichtigen. Doch die EBA darf lediglich Vorschläge äußern. Kommissar Hill ignorierte den Appell. In den kommenden Monaten soll die fertige Verordnung nun von Mitgliedsstaaten und EU-Parlament abgesegnet werden.

Wie wichtig die Regulierung der Finanzmärkte ist, hat spätestens die Krise 2007 gezeigt. In ihrem Gefolge steckten die EU-Staaten laut Kommission 4,6 Billionen Euro in die Rettung europäischer Banken. Zum Vergleich: Die Gesamtkosten infolge der Flüchtlingsbewegung in Österreich und Deutschland zusammen betragen bis 2017 schätzungweise nur rund ein Achtzigstel dieser Summe. Die Folgen der Finanzkrise waren massive Sparprogramme, etwa bei Sozialausgaben. Doch den EU-Regierungen war meist keine andere Wahl geblieben, als für die Banken zu zahlen. Hätten sie sie pleitegehen lassen, wäre wohl das Finanzsystem kollabiert. Eine Bank hätte die nächste mitgerissen, Bankomaten hätten kein Geld ausgespuckt, Supermärkte wären vielleicht leer geblieben. Schwache Aufsichtsbehörden und laxe Kontrollmechanismen waren für die Krise mitverantwortlich.

Heute soll ein stabileres System aufgesetzt werden – und dazu dient unter anderem die Abwicklungsrichtlinie. Das Werk schreibt vor allem das sogenannte „Bail-in“ vor. Das bedeutet: Künftig sollen zuerst die Gläubiger und Eigentümer der Bank – also Anleihehalter und Aktionäre – zahlen, bevor der Steuerzahler drankommt. Bei Banken ist dies, im Gegensatz zu normalen Unternehmen, keine Selbstverständlichkeit.

Um die Causa zu verstehen, muss man die Idee hinter dem Bail-in begreifen: Würde man Bankengläubiger (zu ihnen zählen zwar auch die normalen Sparer, jedoch ist deren Vermögen bis 100.000 Euro durch die Einlagensicherung geschützt) rücksichtlos beschneiden, geraten möglicherweise andere Banken auch ins Schlingern, weil sie ihr hergeborgtes Geld nicht wiedersehen. Infolgedessen könnten verängstigte Sparer ihre Konten plündern. Eine Bankenpleite wächst sich also rasch zu einer Finanzkrise aus. Zugleich jedoch darf man auch die Bankengläubiger nicht ganz aus ihrer Verantwortung entlassen – denn wenn sie fix damit rechnen, dass im Ernstfall ohnehin der Staat einspringt, sind sie zu riskanteren Geschäften bereit. Also versucht die Abwicklungsrichtlinie einen Spagat: Die Gläubiger sollen im Pleitefall mitzahlen, aber nicht so viel, dass dadurch das ganze System zu wanken beginnt.

Konkret schreibt die Richtlinie vor, dass Gläubiger künftig einen Mindestbeitrag leisten müssen, bevor eine Bank gerettet wird. Er beträgt laut Artikel 44, Absatz 5, mindestens acht Prozent der Bilanzsumme. Sollten die Aktien- und Anleihenhalter dieses Geld nicht aufbringen, ist laut Richtlinie eine Bankenrettung mit Staats-oder EU-Mitteln verboten. So weit, so regulär.

Nach dem Beschluss leitete die EU-Kommission den Gesetzestext an die EBA weiter. Die Aufsichtsbehörde sollte nun „technische Regulierungsstandards“ erarbeiten, also Details. Unter anderem fügte die EBA einen Satz hinzu: Es solle darauf geachtet werden, dass bei den Banken „die Erfordernis des Mindestbeitrags von acht Prozent (…) erfüllt ist“. Also: Die acht Prozent, die für den Pleitefall vorgeschrieben sind, müssen sich auch in der Bankbilanz wiederfinden. Eine Formalität. Sollte man meinen.

Doch nachdem die ergänzte Richtlinie zur Kommission zurückgewandert war, strich diese die Passage aus dem Text. Eine derartige Präzisierung sei „mit der Richtlinie nicht vereinbar“, begründet das die Kommission in einem Brief an die EBA vom Dezember, der profil vorliegt.

Was bedeutet das? Die Banken müssen nun zwar zwingend die acht Prozent aufbringen, damit sie im Notfall vor der Pleite gerettet werden. Im Normalbetrieb müssen sie aber nicht über dieses Geld verfügen – sondern eben erst dann, wenn aufgrund der drohenden Pleite eine Rettung erforderlich wird. Wenn man so will, ist das wie bei einem Feuerlöscher, den man erst dann mit Löschschaum befüllen muss, wenn es brennt.

„Im Fall der drohenden Pleite haben die Staaten dann gar keinen Spielraum mehr, darauf zu bestehen, dass die Gläubiger ihren Teil beitragen“, sagt der Bankenexperte Stiefmüller. „Diese Streichung bringt das ganze Konzept der EU-Bankenabwicklung ins Wanken.“

Bei der EU-Kommission reagiert das Büro von Finanzmarkt-Kommissar Hill nicht auf die profil-Anfrage. Im Brief an die EBA rechtfertigt die Kommission die Streichung der Acht-Prozent-Klausel damit, dass in der Abwicklungsrichtlinie kein „harmonisiertes Mindest-Level“ vorgesehen sei. Der Hintergrund: Banken müssen laut Richtlinie eben nur dann die acht Prozent haben, wenn sie gerettet werden sollen – und nicht, streng formalrechtlich gesehen, die ganze Zeit über. „Aber wenn die Pleite wirklich droht und der Beitrag nicht geleistet werden kann, ist es zu spät “, sagt Stiefmüller.

Was hat die Kommission tatsächlich zur Streichung des Acht-Prozent-Passus veranlasst? Darüber kann man nur mutmaßen. Kritiker, die anonym bleiben wollen, sprechen von massivem Banken-Lobbying, das auf eine Abschwächung der Abwicklungsrichtlinie zielt. Die Banken fürchten, dass es ihnen zu teuer käme, Schulden zu machen, wenn sie jederzeit acht Prozent der Bilanzsumme für ein mögliches Bail-in bereithalten müssen.

Für eine unschöne Optik sorgt jedenfalls, dass EU-Kommissar Hill vor seiner Politikkarriere selbst als Finanz-Lobbyist in Großbritannien tätig war, etwa für die Großbank HSBC. Zudem gibt es ein Positionspapier des Londoner Bankenverbands AFME („Assoziation der Finanzmärkte in Europa“) vom Februar 2015. Darin legen die Banker ihre Meinung zur Acht-Prozent-Klausel dar. Sie bringen da genau das gleiche Argument in Stellung wie später die Kommission: Mit derartigen Maßnahmen würde das Mandat der Abwicklungsrichtlinie „überschritten“, heißt es im AFME-Papier.

Laut EU-Parlamentarier Giegold machen jedoch nicht nur Banken Stimmung gegen eine strenge Abwicklungsrichtlinie, sondern auch einige EU-Staaten. „Vor allem Italien, Frankreich, Spanien und Portugal üben Druck auf die Kommission aus.“ Inwiefern auch hier die jeweils nationalen Finanzmärkte dahinterstecken, ist unklar. Das Zusammenspiel von Staaten, Banken und Kommission bei derart wichtigen Entscheidungen – es bleibt dem Außenstehenden verborgen.

Fest steht: Die Bankenaufseher von der EBA protestieren scharf gegen die Abschwächung. Die Acht-Prozent-Klausel sei keinesfalls unvereinbar mit der Abwicklungsrichtlinie, widerspricht die EBA in ihrer Protestnote der Kommission. Und: „Versagt das Schema (der EU-Bankenabwicklung, Anm.), bedroht dies die finanzielle Stabilität und andere Ziele.“ Im Klartext: Dass bei der nächsten Krise erneut der Steuerzahler in die Bresche springen muss, ist wahrscheinlicher geworden.

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Europa auf der Prüfbank

Aus dem FALTER 41/2014

Der Brite Jonathan Hill will EU-Kommissar werden. Vorher stellt er sich dem Parlament. Drei europäische Lehrstunden

Bericht: Joseph Gepp

Es gibt Situationen, in denen verhalten sich Institutionen wie Menschen. Etwa wenn sie sich oft übergangen fühlen, dann aber bei bestimmten Anlässen zeigen können, was in ihnen steckt. Dann drehen sie auf wie Halbwüchsige.

Das Europäische Parlament, das einzig direkt gewählte Organ der Union, hat immer noch zu wenig Macht, lautet die allgemeine Kritik. Beim Budget etwa oder bei Gesetzesvorschlägen seien Europäische Kommission und Rat im Vergleich übermächtig, jene Organisationen, die von den Mitgliedsstaaten bestückt werden. Doch heute ist von all dem nichts zu spüren. „This time it’s different“ steht auf den Foldern, die im Sitzungssaal herumliegen.

Saal JAN 4 Q 2, Brüssel, EU-Parlament, sieht aus wie eine moderne Version des österreichischen Nationalratssaals, wären da nicht die dunkel verglasten Übersetzerkojen auf der Galerie. Vorn tritt Jonathan Hill heraus. Heute findet sein Hearing statt. Er wird jetzt, wie man hier sagt, „gegrillt“.

Vergangenen Mai waren EU-Wahlen, nun steht die Kommission fest, quasi die Regierung der EU unter Präsident Jean-Claude Juncker. Nur das Parlament muss noch zustimmen. Dieses Procedere geschieht zwar nicht das erste Mal. Doch nie zuvor hatte das Parlament so viel Einfluss auf die neue Kommission. Nie zuvor stand das Parlament derart im Zentrum des Geschehens, this time it ’s different.

Die Anhörungen der Kommissarskandidaten dauern je drei Stunden und finden vor Ausschüssen statt. Gestern zum Beispiel kam der Österreicher Johannes Hahn dran, designierter Nachbarschaftskommissar, er stellte sich dem Auswärtigen Ausschuss. Weil Hahn allseits akzeptiert ist, war es eine unspektakuläre Veranstaltung. Nun tritt vor den Wirtschaftsausschuss ein viel umstrittenerer Kandidat.

Hill, 54, Lord of Oareford, Großbritanniens Anwärter, ist nicht nur enger Vertrauter des europaskeptischen Premiers David Cameron. Hill arbeitete auch lange als Lobbyist, etwa für die Londoner Großbank HSBC. Ausgerechnet dieser Mann soll nun Europas Finanzmarktkommissar werden. „Pervers“, nennt das einer der Abgeordneten auf den Rängen ihm gegenüber. Das Grillen hat begonnen.

Hill hat etwas leicht Spöttisches im Blick. Er wirkt gar nicht nervös, obwohl ihm selbst die Wohlgesinnten hier skeptisch begegnen. Und die weniger Wohlgesinnten offen feindselig.

Die Veranstaltung ist strikt getaktet, Eingangsstatement, 60 Sekunden je Frage, 90 Sekunden je Antwort, gegliedert nach Parlamentsfraktionen. Hinter Hill – dort, wo sonst die Regierungsbank ist – thronen die Ausschussvorsitzenden. Wer die Anhörung verfolgt, begreift, wie sehr die Dinge in der EU im Fluss sind. Macht und Rolle der Institutionen im politischen Gefüge sind nicht festgefahren, sie entstehen erst. Sie werden durchgesetzt, zum Beispiel jetzt, bei diesem Termin. Das Parlament ringt gegen die Staaten um Macht und Einfluss.

Hill hat Kreide geschluckt. Vor dem britischen Oberhaus, dem er zuvor angehörte, beschwor er gern die „Verteidigung des nationalen Interesses“ gegenüber Brüssel. Nun lobt er in seinem Eingangsstatement die EU. Er verstehe sich als Vertreter Europas, nicht Großbritanniens, sagt er in gepflegtem Englisch, das sogleich in 23 Sprachen übersetzt wird. Hills Gesten sind lässig, aber nicht arrogant. Er präsentiert sich als moderater Regulierer, einer, der die Zeichen der Zeit erkannt hat. „Wir können nicht zurück zur Kasinowirtschaft vor der Krise“, sagt er über den Job des Finanzmarktkommissars. Doch so leicht kommt er nicht davon.

Vergangenen Mittwoch trat Jonathan Hill vor den Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments Drei Stunden lang stellte er sich den Fragen der Abgeordneten

Vergangenen Mittwoch trat Jonathan Hill vor den Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments
Drei Stunden lang stellte er sich den Fragen der Abgeordneten

Was hat es mit seinen Lobbyingaktivitäten auf sich?, fragen die Abgeordneten. Hält er Anteile an Unternehmen? Der Commissioner designate -so sprechen sie ihn an – drückt den Kopfhörer an sein Ohr und notiert die Übersetzung mit. Er habe, antwortet er dann, alle Anteile verkauft und sei nicht mehr in der Privatwirtschaft tätig. Doch das Thema ist nicht vom Tisch. Welche Finanzlobbyisten habe er getroffen, seit er vor zwei Wochen von seiner Nominierung zum Kommissar erfahren habe? Einen einzigen, antwortet Hill, und zwar zufällig, in London im Zug. Er habe gerade „Lord Jim“ von Joseph Conrad gelesen, als ihn ein Lobbyist erkannt und angesprochen habe. Später versichert er, dass er selbst und seine Mitarbeiter alle Treffen mit Lobbyisten offenlegen werden.

Oft lässt sich bereits am Tonfall einer Frage abschätzen, aus welcher Fraktion der Fragensteller stammt. Die Konservativen behandeln ihren Gesinnungsgenossen Hill streng, aber mit Nachsicht. Eine Nuance kritischer sind die Sozialdemokraten, am ablehnensten Liberale, Grüne und Linke. Bleiben noch die Rechten und Fraktionslosen, die mit ihren Fragen vor allem Einsatz fürs eigene Land demonstrieren wollen. Zum Beispiel Steven Woolfe, Abgeordneter der britischen rechtspopulistischen UK Independence Party. Es sei schön, eine englische Stimme hier zu hören, schwadroniert Woolfe erst einmal. Dann fragt er, ob es nicht ein Widerspruch für Hill sei, erst einen Eid auf die Queen zu leisten und nachher auf die EU. Hill kontert: Die Queen – „und ich hatte die Ehre, sie persönlich kennenzulernen“ – würde darin keinen Augenblick lang einen Widerspruch sehen.

Hill versucht, das Auditorium für sich zu gewinnen. Er biedert sich an, erzählt etwa, dass man niemals die Macht des Parlaments vergessen dürfe. Doch er scheitert. Auf wichtige Themen angesprochen, weiß er keine Antwort, etwa auf gemeinsame europäische Anleihen, sogenannte Eurobonds. „In zwei Wochen kann man kein Arbeitsprogramm für fünf Jahre vorlegen“, sagt er dann. Doch die Abgeordneten tippen schon ein „#fail“ in ihre Handys. Und die Nachricht von Hills Nichtwissen dringt per Twitter nach draußen in die Welt.

Als zwei der drei Stunden vorbei sind, beginnen sich Fragen und Antworten zu wiederholen. Immer wieder spricht Hill zu seiner Vergangenheit, bekennt sich zu Transparenz. Oder er wiegelt Fragen ab: „Sie müssen verstehen, ich brauche Zeit.“ Das politische Kalkül verbietet es, hier etwas Heikles und allzu Verbindliches zu sagen. Den Rest erledigt die strikte Zeiteinteilung, die Tiefgang und Dialog verhindert.

Am Ende war die Anhörung vor allem ein Ritual, mit wenig Inhalt, abgesehen von zahlreichen Bekenntnissen. Allerdings wirken Rituale weit über ihren Inhalt hinaus. Hill weiß jetzt: Das halbwüchsige EU-Parlament will groß und stark werden. Und er weiß, es schaut ihm auf die Finger.

Bald darauf wird bekannt werden, dass die Abgeordneten den Briten vorerst nicht akzeptiert haben. Es stört sie etwa, dass er sich zu Eurobonds nicht geäußert hat. Inzwischen hat Hill seine Ausführungen schriftlich präzisiert; Dienstag nach Falter-Redaktionsschluss muss er sich zudem einer erneuten Befragung stellen. Er ist nicht der Einzige: Fünf Kommissionsanwärter hat das Parlament bisher nicht bestätigt, sogar Pierre Moscovici aus dem Kernland Frankreich. Die Angelegenheit gilt schon jetzt als Signal eines selbstbewussten Parlaments – und als Herausforderung für Juncker, der seine Kommission möglichst in ihrer derzeitigen Form durchbringen will. Ende Oktober wird das Parlament endgültig abstimmen. Bis dahin muss Juncker alle Zweifel ausgeräumt haben.

Als die Anhörung vorbei ist, scheint draußen noch die Sonne. Vor dem Parlament genießen Gäste im Schanigarten des Restaurants „London“ ihre letzten Strahlen. Da betritt Hill mit einigen Begleitern den Garten. Trotz der Befragung wirkt er nicht erschöpft. Er lässt sich nieder, schlägt die Speisekarte auf, will Kaffee bestellen. Da bemerkt er erfreut den Namen des Lokals. „London“, sagt er, „a perfect place.“

RAND-INFOS:

Der Ausschuss des EU-Parlaments für Wirschaft und Währung (Econ) hat 61 Mitglieder. Vorsitzender ist der italienische Sozialdemokrat Roberto Gualtieri, als einziger Österreicher sitzt Othmar Karas (ÖVP) im Econ

Welche Fraktionen gibt es im EU-Parlament bzw. im Econ?
Konservative (EVP): für Österreich ÖVP
Sozialdemokraten (S&D): für Österreich SPÖ
Konservative und EU-Kritiker (EKR): keine Vertreter aus Österreich
Liberale (ALDE): für Österreich Neos
Grüne: für Österreich Grüne
Konföderale Linke (GUE/NGL): keine Vertreter aus Österreich
Europa der Freiheit, Rechtspopulisten: (EFDD): keine Vertreter aus Österreich
Fraktionslose (NI): für Österreich FPÖ

Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung des EU-Parlaments

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Londons Mann in Brüssel

Aus dem FALTER 38/2014

Ein britischer Ex-Bankenlobbyist soll den EU-Finanzsektor regulieren. Kann das gutgehen?

Porträt: Joseph Gepp

Vielleicht ist alles ja Absicht. Dies jedenfalls vermutete kürzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der neue EU-Komissionspräsident Jean-Claude Juncker habe seine Kommissare gezielt so gewählt, dass sie gegen die Interessen ihrer Herkunftsstaaten handeln müssen, so das Blatt. Nur so könnten sie „die europäischen Regeln glaubwürdig vertreten“.

Wenn das stimmt, ist die Strategie aufgegangen. Vergangenen Donnerstag gab Juncker die Ressortzuteilung der Kommission bekannt, der nun noch das EU-Parlament zustimmen muss. Frankreichs Ex-Außenminister Pierre Moscovici etwa verantwortet darin als Währungskommissar die Budgetdisziplin, obwohl er in vielen Ländern wegen seines mangelnden Sparwillens gerügt wurde. Dimitris Avramopoulos aus Griechenland, das wegen seines Umgangs mit Asylwerbern am Pranger steht, wird für Migration zuständig sein.

Die umstrittenste Personalie aber kommt aus Großbritannien. Die dortige Regierung schickt Jonathan Hill nach Brüssel, einen konservativen Parteistrategen und ehemaligen Bankenlobbyisten. Hill soll Kommissar für den Finanzmarkt werden.

Umstritten: Der Brite Jonathan Hill soll EU-Finanzmarktkommissar werden (Wikipedia)

Umstritten: Der Brite Jonathan Hill soll EU-Finanzmarktkommissar werden (Wikipedia)

Dies ist ein höchst sensibler Posten. Bislang fungierte die EU-Kommission als wichtigster Initiator jener Reformen, die notwendig geworden waren, nachdem 2008 das internationale Bankensystem fast an Hochrisikogeschäften zugrunde gegangen wäre. Es gilt nun, die Risikobereitschaft zu zügeln und die Abhängigkeit der Staaten von ihren Großbanken zu reduzieren. Ausgerechnet Hill soll das Werk weiterführen. Wer ist der Mann? Was kann er aus-oder anrichten?

Jonathan Hill, Lord of Oareford, 54, Politiker der konservativen Tories, war bislang der Führer des britischen Oberhauses. „Lord who?“, witzelt der britische Guardian, weil man Hill außerhalb konservativer britischer Kreise kaum kennt. Die NGO Corporate Europe Observatory, die sich mit Lobbyismus in der EU auseinandersetzt, nennt Hill einen „Drehtür-Lobbyisten“. Seit den 80er-Jahren wechselt er zwischen Politik und Lobbying hin und her; Kritik an seinen Geschäften begleitete stets Hills Karriere.

Hill studierte Geschichte in Cambridge, danach bekleidete er etwa hohe Positionen in den Regierungen Margaret Thatchers und John Majors. Zwischendurch arbeitete er bei PR-Firmen wie Lowe Bell. 2010 wechselte er wieder in die Politik. In der Regierung David Camerons wurde Hill Unterstaatssekretär für Bildung und schließlich Oberhaus-Chef.

Heute stoßen sich Kritiker etwa an der Firma Quiller Consultants, die Hill 1998 mitgründete. Laut britischem Lobbying-Register ist Quiller neben Kunden wie Mastercard und eBay etwa auch für die Londoner Großbank HSBC tätig. Corporate Europe kritisiert, dass sich die Firma nicht im Lobbying-Register der EU findet, obwohl sie auch in Brüssel tätig ist. Hill verweist darauf, dass er seine Anteile an Quiller vergangenen Juli verkauft habe.

Doch die Kritik am designierten EU-Kommissar trägt auch grundsätzlichere, breitere Züge. Nicht nur stammt Hill aus einem Land, das sich stets strikt gegen neue Bankenregeln wehrt. Auch liegt der Konservative voll auf Linie mit seinem europakritischen Premier Cameron. Man solle die Wünsche derjenigen respektieren, „die wie Großbritannien keine weitere Integration wünschen“, sagte Hill etwa in einer Rede vor dem Oberhaus Ende Juni. „Wir werden unser nationales Interesse verteidigen.“

Kein Wunder, dass die Reaktionen auf Hills Nominierung ablehnend ausfallen. Einen „Antieuropäer“ nennt ihn der sozialdemokratische EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Von einer „Provokation“ spricht der deutsche Grün-EU-Parlamentarier Sven Giegold, der mit der Neuregulierung der Banken befasst ist. Auch die Konservativen wirken nicht erfreut: Die Bestellung Hills „hat uns hier sehr überrascht“, sagt Othmar Karas, ÖVP-Delegationsleiter im EU-Parlament, der ebenfalls intensiv im Bereich Bankenregulierung tätig ist.

Hills Nominierung habe "uns hier sehr überrascht", sagt EU-Parlamentarier Othmar Karas (ÖVP). Der designierte Kommissar sondiert das Feld und trifft auch Karas in Brüssel (Foto: EVP)

Hills Nominierung habe „uns hier sehr überrascht“, sagt EU-Parlamentarier Othmar Karas (ÖVP). Der designierte Kommissar sondiert das Feld und trifft auch Karas in Brüssel (Foto: EVP)

Was kann Hill nun auf ebendiesem Sektor bewirken? Immerhin: Der wichtigste Reformschritt, die sogenannte EU-Bankenunion, ist bereits auf Schiene. Dieses Werk, dessen letzte Etappe im März – wenn auch mit zahlreichen Ausnahmen und Verwässerungen – beschlossen wurde, beinhaltet Regeln für eine europaweite Bankenaufsicht, Abwicklungspläne für Pleitebanken sowie einen Abwicklungsfonds, damit künftig nicht mehr Steuerzahler für Banken berappen müssen. Jonathan Hill kann hier nur noch auf zahlreiche Detail-und Durchführungsbestimmungen Einfluss nehmen.

Andere wichtige Projekte harren seit Jahren ihrer Umsetzung und scheitern am Widerstand von Interessenvertretern und Nationalstaaten – ganz unabhängig von Hill. Das gilt etwa für eine europaweite Finanztransaktionssteuer, ein Regelwerk für Schattenbanken wie Hedgefonds oder eine gesetzliche Abtrennung der riskanten Investmentsparten in Banken vom klassischen Einlagen-und Kreditgeschäft.

Hill jedenfalls stehe „ein spannendes Hearing im EU-Parlament bevor“, sagt Karas. Dass sich die Personalie merklich auf die Bankenpolitik der EU-Kommission auswirkt, das glaubt Karas trotz der lauten Kritik an Hill nicht. Die Kommissare unterstehen neuerdings insgesamt acht Vizepräsidenten: eine Struktur, die „zur Einbettung in ein Team führt und Alleingänge unmöglich macht“, sagt Karas.

Vielleicht hat der neue Kommissionspräsident Juncker am Ende wenigstens eines erreicht: Wenn Jonathan Hill Europa auf dem Weg zu mehr Bankenregulierung schon nicht voranbringt -er macht die Lage auch nicht schlechter.

Rand-Info
1,6 Billionen Euro hat Europa laut EU-Kommission zwischen 2008 und Ende 2011 für Bankenhilfen ausgegeben. Der Löwenanteil davon entfiel auf Großbritannien (19 Prozent), Irland und Deutschland (je 16 Prozent). Insgesamt entspricht die Summe rund 13 Prozent der europäischen Wirtschaft sleistung. Mehr als jeder zehnte Steuereuro floss also in die Rett ung von Banken

Ein Bewerbungsgespräch der etwas anderen Art: Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker trifft den designierten EU-Kommissar Jonathan Hill (rechts) aus Großbritannien. Hill soll für den Finanzmarkt zuständig sein. Nun muss noch das EU-Parlament Anfang Oktober der umstrittenen Nominierung zustimmen

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