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Kammerflimmern

Aus profil 47/2017


Zwangsbeiträge, intransparente Finanzen, aufgeblähter Apparat: Seit Jahren stehtdas österreichische Kammersystem in der Kritik. Die FPÖ will einen radikalen Schritt setzen und die Pflichtmitgliedschaft abschaffen. Wie würde das Land ohne starke Arbeiterund Wirtschaftskammer aussehen? profil zeichnet ein mögliches Szenario aus nicht allzu ferner Zukunft.

Von Joseph Gepp und Clemens Neuhold

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November 2018: „6000 Euro bis zur Pension. Wie viel hätte Herr Müller freiwillig an die Arbeiterkammer bezahlt?“
„Grätzl-Friseurin Maier finanziert dank Wirtschaftskammer 110 Außenhandelsstellen von Almaty bis Casablanca. Würde sie das freiwillig tun?“
„Deutschland ist der Wirtschaftsmotor Europas – ganz ohne Kammerzwang!“

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Slogans wie diese prangen Ende des Jahres 2018 auf Plakaten im ganzen Land. Die schwarz-blaue Regierung hat eine sogenannte Urabstimmung über ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in Wirtschaftskammer (WKO) und Arbeiterkammer (AK) angesetzt. Bei der Abstimmung sind alle Arbeitnehmer und Unternehmer Österreichs zur Teilnahme aufgerufen. Das Negative Campaigning von FPÖ, NEOS und Industriekreisen zeigt Wirkung. Die Mehrheit votiert völlig überraschend für die Abschaffung. Die Pflichtmitgliedschaft im Kammerstaat Österreich ist Vergangenheit. Eine Grundsäule des heimischen Gesellschaftssystems ist gefallen.

Rückblende in die Gegenwart: Seit Beginn der Regierungsverhandlungen schießt die FPÖ scharf gegen die „Zwangskammern“. Erst vergangene Woche fordert Parteichef Heinz-Christian Strache eine Urabstimmung unter den Millionen Beitragszahlern – vom Arbeitnehmer bis zum Bauern. Die Kritik ist seit Jahren bekannt: fehlende Transparenz, undurchsichtige Gebarung, ein föderalistisch-aufgeblasener Apparat. Das Kammersystem kommt an Reformen nicht länger vorbei. Und die Kritik geht quer durch die politischen Lager. Die NEOS beispielsweise ziehen einen Teil ihres Selbstverständnisses aus der immer wieder urgierten Abschaffung der Pflichtmitgliedschaften. Selbst ÖVP-Chef Sebastian Kurz steht den Kammern kritisch gegenüber. Doch seine Partei ist zugleich historisch eng mit der Wirtschaftskammer verflochten, deswegen zieht die ÖVP mit der FPÖ nicht an einem Strang.

Was aber würde passieren, käme es tatsächlich zu einer Urabstimmung -und eine Mehrheit der Befragten entschiede sich gegen Pflichtmitgliedschaften? Ein Österreich ohne starke Kammern. Was würde das für Kollektivverträge bedeuten? Für Arbeitnehmerrechte? Für die Politik? Wohin würde sich das Land insgesamt entwickeln? Das soll dieses fiktive Szenario ausloten, das profil nach Recherchen bei zahlreichen Fachleuten (siehe Liste S. 20) entwirft.

Die Annahme: Die ÖVP gibt dem Druck der FPÖ nach und lässt sich zur Urabstimmung breitschlagen. Die Volkspartei hofft: Eine Mehrheit der Kammermitglieder werde wohl an der Pflichtmitgliedschaft festhalten -wie schon einmal bei der Urabstimmung im Jahr 1996. Und dann sei das Thema ja vom Tisch.

Doch diesmal kommt es anders. Über Facebook und den Boulevard mobilisieren die Kammergegner heftig. Sie treffen den Nerv der Menschen, die über jeden Cent froh sind, den sie weniger an Beiträgen zahlen. In der Wirtschaftskammer geben Ein-Personen-Unternehmen (EPU) den Ausschlag, die sich kaum repräsentiert fühlen. Sie stellen bereits 70 Prozent der Mitglieder. Ergebnis all dessen: Die Kammerpflicht fällt.

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Jänner 2019: Im 10. Stock der Wirtschaftskammer brennt noch Licht. Im Präsidium rechnet die Generalsekretärin mit Experten die Folgen der Urabstimmung durch. „Im Worst Case nehmen wir statt jährlich 700 Millionen nur noch 200 Millionen ein. Von den insgesamt 4600 Mitarbeitern können wir nur die Hälfte halten. Für Sozialpläne müssen wir einen Teil der 500 Millionen Euro Rücklagen auflösen“, sagt die Generalsekretärin. „Wie viele der 500 Millionen Euro, die in unseren Immobilien stecken, können wir heben?“, fragt der neue Präsident und blickt in die Richtung der Länderkammer-Präsidenten.
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Die Wirtschaftskammer lebt weiter, aber nur noch als freier Verband. Schon nach einigen Monaten haben sich rund 30 Prozent der österreichischen Betriebe aus ihr verabschiedet. Geblieben sind dafür vor allem mittelgroße Betriebe; sie zahlen nun freiwillig für das verschlankte Service. Ausgestiegen sind nicht nur zahlreiche EPUs, für die jeder Cent zählt, sondern auch -besonders fatal aus Kammersicht -etliche Großunternehmen, vom Linzer Stahlkonzern voestalpine über die Strabag bis hin zu KTM. Sie schulterten den Großteil der Beiträge. Diese Betriebe verfügen über Juristen und Vertriebsbüros in aller Welt; auf die Expertise der Kammer können sie locker verzichten. Eine der ersten Folgen des Exodus: Das Netz aus 110 Außenhandelsstellen von Ljubljana bis Nairobi, welches die WKO betreibt, wird halbiert und auf die wichtigsten Auslandsmärkte reduziert. In Ländern, die für Österreichs Wirtschaft weniger von Bedeutung sind, springen die Botschaften und die Tourismuswerbung ein. Der Finanzminister macht dafür ein paar Millionen locker.

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Mai 2019: Auch die Arbeiterkammer kommt um Einschnitte nicht herum -was sich unter anderem beim Rechtsbeistand für die Mitglieder zeigt. Ein Lehrling mit Stelle in Berndorf wendet sich hilfesuchend an die Juristen des Hauses. Sein Chef hat ihn mit den Worten „Schleich dich“ gekündigt. Der Lehrling ruft bei der AK-Hotline an. Die Mitarbeiterin bietet ihm einen Termin an. Es gehe aber erst in eineinhalb Wochen, sagt sie. Und: Er müsse zum Wiener Hauptsitz kommen, denn die nächstgelegene Stelle Baden sei gerade geschlossen worden. „Und wenn wir stattdessen telefonieren?“, fragt der Lehrling, der nicht so lange warten will. Das habe keinen Sinn, antwortet die Beraterin -„damit ich Ihnen helfen kann, muss ich den Lehrvertrag einsehen und ein Protokoll des Rauswurfs erstellen“. Er möge doch einmal mit dem Betriebsrat reden, schlägt die Beraterin dem verzagten Lehrling vor. „Wir haben keinen, sind zu klein“, sagt der junge Mann. „Sie sollten unbedingt der Gewerkschaft beitreten“, rät ihm die AK-Mitarbeiterin zum Abschluss – wissend, dass sie sich ins eigene Fleisch schneidet.
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Rund ein Sechstel der 3,6 Millionen österreichischen Beschäftigten ist in den Monaten nach Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft aus der Arbeiterkammer ausgetreten. Vielen von ihnen war wohl gar nicht bewusst, dass sie AK-Mitglieder sind – und somit durchschnittlich sieben Euro monatlich an Kammerumlage zahlen, die vom Bruttolohn abgezogen werden. Doch die wochenlange Kampagne der Gegner vor der Urabstimmung hat es ins Bewusstsein gerufen. Von den Einnahmen der AK fällt ein gewichtiger Teil weg. Volkswirtschaft, Arbeitsrecht, Konsumentenschutz: Hundertschaften von Experten befassen sich bisher in der Arbeiterkammer mit Fragen, die für Arbeitnehmer von Belang sind. Die Fülle lässt sich nun nicht mehr aufrechterhalten. Von 2500 Mitarbeitern muss mittelfristig die Hälfte gehen, sagen die internen Prognosen. Aus dem Wertpapiervermögen über 117 Millionen Euro werden Sozialpläne finanziert. Die Hälfte der 90 Bezirksstellen in ganz Österreich schließt.

Der Aderlass der Arbeiterkammer beschert dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) regen Zulauf, sowohl an neuen Mitgliedern als auch an Fachexperten, die zuvor bei der AK werkten. Die Zahl der ÖGB-Mitglieder steigt von 1,2 auf 1,5 Millionen. Eine Trendwende nach Jahren des Schwundes.

Seit fast 100 Jahren kämpft die Gewerkschaft Seite an Seite mit der Arbeiterkammer für die Rechte der Arbeitnehmer. Die Gewerkschaft war stets für die praktischen Aspekte zuständig, von Lohnverhandlungen bis Streikorganisation. Die Arbeiterkammer hingegen fungiert als Thinktank im Hintergrund, verantwortlich für ökonomische und soziologische Forschung genauso wie für Beratungen. Nun laufen beide Funktionen stärker im ÖGB zusammen. Nach Ende der Pflichtmitgliedschaft wird das Beratungs-Center vergrößert, doch an das einstige Angebot der Arbeiterkammer kommt die Gewerkschaft nicht heran. Immerhin handelt es sich beim ÖGB um einen freiwilligen Verein; ihm fehlt schlicht das Geld.

Dazu kommt ein weiteres Problem: Einen Teil der Arbeitnehmer erreicht die Gewerkschaft viel schwerer als beispielsweise einen Metaller im Stahlwerk. Teilzeitkräfte im Supermarkt bis zu Saisoniers im Berghotel haben andere Sorgen, als sich gewerkschaftlich zu organisieren.

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September 2019. Wie jedes Jahr um diese Zeit nahen die Lohnverhandlungen. Erstmals macht sich im Volk Unruhe breit. Noch gelten die Kollektivverträge, die vergangenen Herbst beschlossen wurden -vor dem Ende der Pflichtmitgliedschaft. Doch wie geht es weiter? SPÖ und Gewerkschaft warnen schon vor „Lohnraub“. Die schwarz-blaue Regierung muss irgendwie reagieren, wartet aber noch ab.
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Von jährlichen Gehaltssteigerungen bis zu Arbeitszeit-Regelungen, vom Mindestlohn bis zum Papamonat, vom 13. und 14. Monatsgehalt bis zur Anzahl der Urlaubstage – all dies ist in Österreich nicht in Gesetzen geregelt, sondern in rund 859 Kollektivverträgen. Unter deren Regime fallen 98 Prozent der heimischen Beschäftigten -ein europaweiter Spitzenwert. Jahr für Jahr treffen die Arbeitnehmer in Form der jeweiligen Fachgewerkschaft und die Arbeitgeber in Gestalt des zuständigen Fachverbands der Wirtschaftskammer aufeinander, um den neuen Kollektivvertrag auszuhandeln. Traditionell beginnen die Verhandlungen in der Metallindustrie, deren Ergebnis anderen Branchen als Maßstab dient. Bei all dem besteht eine enge Verbindung zur Kammerpflicht: Laut Verfassung sind die Arbeitgeber nur an die Kollektivverträge gebunden, wenn sie Mitglied der Wirtschaftskammer sind. Für Betriebe, die ihr nicht angehören, gelten keinerlei Vorgaben -weder bei der Lohnhöhe noch bei sonstigen Arbeitsbedingungen. Was also tun, wenn infolge des Endes der Pflichtmitgliedschaft auch die Kollektivverträge infrage stehen?

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Oktober 2019. Die ersten Lohnverhandlungen der Metaller nach Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft. Vordergründig scheint alles beim Alten. Aufseiten der Arbeitgeber verhandelt wie eh und je die Fachgewerkschaft PRO-GE. Aufseiten der Arbeitnehmer jedoch sind in den vergangenen Monaten mehrere wichtige Metallbetriebe aus der Wirtschaftskammer ausgetreten. Daher konstituiert sich ein privater Unternehmensverband, der die Verhandlungsführung übernimmt. Dieser erklärt in einem ersten Statement, er werde lediglich über Mindeststandards verhandeln – alle Regelungen, die darüber hinausgehen, müssten die Beschäftigten in jedem einzelnen Betrieb mit ihrem Arbeitgeber klären. „Es ist halt nicht mehr so wie früher“, sagt der Metaller-Verbandsobmann. Die Gewerkschaften reagieren empört. Sie drohen mit Streik und meinen es dieses Mal wirklich ernst. Die Gespräche müssten im alten Stil sämtliche Details umfassen, donnern die Arbeitnehmervertreter – und das Ergebnis müsse ausnahmslos für alle Metallarbeiter gelten. Nach einigen Tagen schließlich geben die Unternehmen nach. Sie wissen: Die Metallarbeiter sind gut organisiert; in den Werkshallen der Großbetriebe lassen sich Streiks und Proteste leicht organisieren. Die Verhandlungen finden deshalb statt, als gäbe es noch die Pflichtmitgliedschaft. Mit den Lohnabschlüssen können beide Seiten leben.
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Die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft polarisiert Österreichs Arbeiterschaft. In manchen Branchen, so wie bei den Metallern, ändert sich wenig – generell dort, wo die Arbeit Qualifikation erfordert und die Beschäftigten gut organisiert sind. In anderen Branchen hingegen verschlechtern sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung mitunter radikal; in der Gastronomie etwa und besonders in der Bauwirtschaft mit ihren 250.000 Beschäftigten. Auf den Baustellen konkurrieren heimische Arbeitskräfte mit jungen Osteuropäern, die bereit sind, für deutlich niedrigere Löhne zu arbeiten. Dieser Umstand kann nun von Betrieben verstärkt ausgenützt werden.

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Dezember 2019. Die Verhandlungen über einen Kollektivvertrag für die Bauwirtschaft platzen endgültig. Der Fachverband der Bauindustrie der Wirtschaftskammer – also jene Betriebe, die freiwil lig in der Kammer verblieben sind -erklärt, er könne nur für seine Mitglieder verhandeln. Diese aber stellen nicht einmal mehr die Hälfte der Bauunternehmer in Österreich. Ein Streik unter den versprengten Bauarbeitern -viele stammen aus Osteuropa und arbeiten unter prekären Bedingungen -wäre kaum zu organisieren. Für sie läuft der Kollektivvertrag aus, ohne dass es einen Nachfolger gäbe. In weiterer Folge kürzen erste Bauunternehmen ihre Löhne deutlich. In Medien häufen sich die Berichte über „menschenunwürdige Zustände am Bau“. Selbst ein britisches Wochenmagazin schreibt über Österreich: „The end of Gemütlichkeit“.
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Die Regierung schreitet ein. Im Mai des Jahres 2020 beschließt sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 1600 Euro brutto; außerdem wird das 13. und 14. Monatsgehalt gesetzlich verankert. Auch wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz gern vom „schlanken Staat“ schwärmt: Nachdem nun die Kammern nicht mehr für Regeln in der Arbeitswelt sorgen, muss dies die Regierung tun.

Offen bleiben trotzdem Hunderte Details, die bisher in den Kollektivverträgen geregelt waren: von exakten Lohnschemata über Gehaltsvorrückungen bis zu Ruhezeiten. Derlei Angelegenheiten wurden, zu Zeiten der Pflichtmitgliedschaft, von Kammern und Gewerkschaften detailliert reguliert. Inzwischen jedoch geht das System in eine andere Richtung: Den Politikern ist vor allem daran gelegen, Mindeststandards in der Arbeitswelt festzulegen.

Im Juli 2020, rechtzeitig vor den nächsten Lohnverhandlungen, geht Schwarz-Blau einen Schritt weiter . Die Regierung verhängt eine „Allgemeinverbindlichkeit“ nach französischem Vorbild. Das bedeutet: Ein freiwilliger Unternehmerverband verhandelt einen Kollektivvertrag – und das Ergebnis gilt gesetzlich für alle Betriebe der jeweiligen Branche. Das System sieht also Kollektivverträge ohne Kammerpflichtmitgliedschaft vor. Die Regierung will den Ruf der „sozialen Kälte“ rasch wieder loswerden.

Überhaupt hat die österreichische Politik -Parlament, Parteien, Ministerialverwaltungen, Behörden – nach Abschaffung viel an Bedeutung gewonnen . Sie hat Aufgaben von den Kammern übernommen und finanziert diese. Sie regelt politisch, was früher sozialpartnerschaftlich erfolgte. Entsprechend stark fällt aber auch der Druck von Lobbyisten aller Richtungen auf die Politiker aus. Vorbei die Zeiten, als Wirtschaftskammer, Gewerkschaft und Arbeiterkammer jedes Details in ruhigen holzgetäfelten Sitzungssälen ausbaldowerten und den Kompromiss in Form einer fixfertigen Gesetzesvorlage an die Politiker übermittelten. Heute spricht jeder selbst bei den Politikern vor. Zumindest jeder, der dazu in der Lage ist.

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November 2020. Ein Jurist im Sozialministerium ist gestresst. Industriellenvereinigung, Elektrizitätsfachverband, Druckervereinigung, Bankenverband und dann auch noch die Sozialistische Jugend. Sie alle wollen sich mit ihm „auf einen Kaffee“ treffen. Der Beamte schreibt gerade am Gesetzesentwurf für eine neue Arbeitszeitregelung und wird von Lobbyisten regelrecht belagert.
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Als wieder etwas Ruhe im Volk eingekehrt ist, löst die Regierung ein altes Versprechen an die Wirtschaft ein: den Zwölf-Stunden-Tag. Durch eine verlängerte Höchstarbeitszeit sollen Betriebe besser reagieren können, wenn es besonders viele Aufträge abzuarbeiten gilt. Der Teufel bei dieser Reform steckt jedoch im Detail: Wie viele Überstunden dürfen anfallen? Wie rasch müssen Mehrstunden durch Zeitausgleich kompensiert werden? Gibt es drei oder vier Tage Freizeit im Block?

Industrie, Gastronomie, Transport, rote, schwarze, blaue Gewerkschafter; sie alle drängen auf Gesprächstermine. Zu Zeiten der Pflichtmitgliedschaft gab es drei Player -nun sind es Hunderte geworden. Lobbyisten schwärmen aus und belagern Beamte der Ministerien, Kabinettsmitarbeiter, Abgeordnete. „Endlich lebendige Politik“, schwärmen die einen. „Wer das Gold hat, macht die Regeln“, unken andere -und verweisen auf die geballte Lobbying- Kraft der Industrie.

Die SPÖ kampagnisiert von der Oppositionsbank aus gegen „amerikanische Verhältnisse“ am Jobmarkt , die im schwarz-blauen Österreich eingezogen seien. Im Gerangel der Interessen würden die kleinen Player unter die Räder kommen -beispielsweise Handwerksbetriebe und wenig qualifizierte Arbeitnehmer. Ende des Jahres 2020 reagiert die Regierung: Sie beschließt eine Förderung für kleinere Verbände und NGOs, die es mit den Konzernen sonst nicht aufnehmen könnten.

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Februar 2021: Der Gewerbeverein in der Fußgängerzone einer steirischen Kleinstadt leistet sich dank der neuen Förderung aus Wien ein Sekretariat. Früher konnten die Geschäftsleute im Rahmen der Wirtschaftskammer ihre Interessen bei der Landespolitik geltend machen. Jetzt versuchen sie es – wie viele freie Verbände – lieber auf eigene Faust.
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Die Regierung hat mittlerweile zahlreiche Schritte setzen müssen, um die Folgen des Systemwechsels abzufedern.

Fazit: Was zeigt das Szenario?

Aus Österreich würde wohl auch ohne Pflichtmitgliedschaften kein Hort des Neoliberalismus. Eher ist eine Mischung aus Schweden, Frankreich (minus der Streiklust) und Deutschland zu erwarten. Keines der Länder kennt eine Pflichtmitgliedschaft österreichischen Zuschnitts. Dafür haben diese Staaten jeweils andere Systeme, um auf dem Arbeitsmarkt für soziale Balance zu sorgen. Im sozialen Musterland Schweden beispielsweise läuft die Arbeitslosenversicherung über die Gewerkschaft, deswegen sind 70 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied. Dass es parallel eine Arbeiterkammer gibt, ist bei dieser geballten Gewerkschafts-Power nicht nötig. Im etatistischen Frankreich zieht der Staat ein Sicherheitsnetz gegen Lohndumping ein: Obwohl freie Unternehmer-Verbände Kollektivverträge nur für ihre Mitglieder verhandeln, werden diese per Gesetz auf die gesamte Branche übertragen.

In Österreich wählten die Politiker der Nachkriegszeit die Kammerpflichtmitgliedschaft als System des Interessensausgleichs. Jeder ist automatisch dabei und zahlt eine Art Steuer. Wenn die neue Regierung die Pflichtmitgliedschaft abschafft, sind der Sozialpartnerschaft gröbere Umbauarbeiten gewiss. Der Aufwand lohnt aber nur dann, wenn das neue System besser funktioniert als das alte.

Ist dies der Fall?

Aus Sicht der Arbeitnehmer ist das so wenig gewiss wie aus Sicht der Arbeitgeber: Ein durchschnittlicher Angestellter ohne Kammer-Beitrag spart sich grob 100 Euro im Jahr. Er hat zwar die Freiheit gewonnen, selbst zu entscheiden, ob er dabeibleiben will. Doch der Wind am Arbeitsmarkt bläst rau. Lösen Kammer-Aussteiger als Ersatz ein Ticket für die Gewerkschaft oder eine Versicherung bei einem privaten Arbeitnehmer-Schutzverband -dann könnten sie am Ende mehr bezahlen. Bei weniger Leistung. Denn je größer die Sozialgemeinschaft, desto billiger kommt der Schutz für den Einzelnen. Und mit einer Pflichtmitgliedschaft erreicht die Sozialgemeinschaft eben die maximale Größe.

Unternehmer wiederum könnten zwar ohne Pflichtmitgliedschaft aus dem Kollektivvertrag aussteigen, um weniger Lohn zu zahlen oder Arbeiter flexibler einzusetzen. Das würde ihnen Kosten sparen. Andererseits: Die Einfluss der Politiker auf Lohnfindung und Arbeitsbedingungen wäre ohne Kammerpflicht größer als zuvor. Sie würde etwa Mindestlöhne festsetzen oder Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen. Damit wäre das System instabiler als heute, weil es sich von Regierung zu Regierung ändern könnte. Die Verhältnisse in Österreichs Wirtschafts-und Arbeitswelt wären weniger berechenbar. Auch bei den Unternehmen gilt daher, genauso wie bei den Arbeitnehmern: Wenn die Pflichtmitgliedschaft fällt, kostet sie dies am Ende womöglich mehr, als sie heute an Kammerumlagen zahlen.

Der Kammer-Staat ist ein durchaus behäbiges, reformresistentes System. Über die Höhe der Beiträge und die Treffsicherheit der Leistungen lässt sich streiten. Ob Alternativen zur Kammerpflicht wirklich billiger und effizienter ausfallen, ist aber mehr als fraglich. Deswegen: Im Zweifel für die Kammern.

ZUSATZELEMENTE

Steckbrief ARBEITERKAMMER
Präsident: Rudolf Kaske. Tritt mit April ab, Nachfolge unklar
1920 gegründet
3,6 Mio. Mitglieder Beschäftigte, Arbeitslose und Präsenzdiener
2600 Mitarbeiter
400 Mio. € Einnahmen/Jahr (2015)
Finanzierung: Jeder Beschäftigte zahlt 0,5 %seines monatlichen Bruttolohns an Kammerumlage. Der Betrag wird automatisch vom Lohn abgezogen.
Stärkste Fraktion im Kammerparlament: Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (57 %)

Steckbrief WIRTSCHAFTSKAMMER
Präsident: Christoph Leitl. Wird bald von Harald Mahrer abgelöst
1849 als Handelskammer gegründet
634.000 Mitglieder Unternehmen
4600 Mitarbeiter
850 Mio. € Einnahmen/Jahr (2015)
Finanzierung: Jedes Unternehmen zahlt die sogenannte Grundumlage, größere je nach Umsatz und Mitarbeiteranzahl auch Kammerumlagen. Letztere werden von den Finanzämtern eingehoben; Erstere zahlen die Unternehmen direkt.
Stärkste Fraktion im Kammerparlament: ÖVP-Wirtschaftsbund (71 %)

Kammerkunde Was die Kammern neben Kollektivverträgen, Forschung und Beratung sonst noch alles machen.

AMS Die Kammern stellen Mitglieder im Verwaltungsrat des Arbeitsmarkt-Services und sind für das AMS-Management sowie Arbeitsmarktprogramme mitverantwortlich.
Ausbildung Die Arbeiterkammer (samt ÖGB) unterhält in allen Bundesländern Berufsförderungsinstitute (BFI), die etwa Fortbildungskurse für Erwachsene und Fachhochschulen betreiben. Das Pendant aufseiten der Wirtschaftskammer (ebenfalls in allen Bundesländern sowie im Ausland) sind die Wirtschaftsförderungsinstitute (Wifi).
Betriebsräte Die Arbeiterkammer ist für Ausbildung, Beratung und Kontrolle von Betriebsräten zuständig.
Kartellverfahren Die Kammern nominieren Beisitzer im Kartellgericht.
Laienrichter Die Kammern schlagen vor, welche Laienrichter bei Arbeits-und Sozialgerichten ernannt werden sollen.
Sozialversicherung Die Kammern (samt ÖGB) verwalten Österreich Sozialversicherungsträger. Der aktuelle Hauptverbands-Chef Alexander Biach ist zugleich stellvertretender Direktor der Wiener Wirtschaftskammer.

Bei diesen Experten hat profil für die Recherche nachgefragt
Peter Brandner, Thinktank Wei[s]se Wirtschaft
Peter Filzmaier, Politologe Walter Gagawczuk, AK Wien
Anna Maria Hochhauser, Generalsekretärin WKÖ
Volker Kier, LIF
Thomas Leoni, Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo)
Gerald Loacker, NEOS Markus Marterbauer, AK Wien Michael Mesch, AK Wien
Theo Öhlinger, Verfassungsjurist
Volker Plass, ehemaliger Bundessprecher der Grünen Wirtschaft
Oliver Röpke, ÖGB Europa
Franz Schellhorn, Agenda Austria
Experten von Industriellenvereinigung, GPA-djp, WKÖ

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Eingeordnet unter Behörden, Innenpolitik

„Gier soll man durchaus besteuern“

Aus dem profil 31/2016

Er klagt über den Standort Österreich, warnt vor den wirtschaftlichen Folgen von Grenzwartezeiten und unterstützt die Finanztransaktionssteuer. Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, über gefrustete Arbeiter, gegängelte Unternehmer und gierige Banken.

Gespräch:
Joseph Gepp

profil: Herr Kapsch, was meinen Sie: Geht es einem durchschnittlichen Arbeitnehmer und seiner Familie in Österreich heute besser als vor 20 Jahren?

Georg Kapsch: Nein.

profil: Warum finden Sie das?

Kapsch: Die Steuern- und Abgabenlast ist massiv gestiegen. Deshalb können sich die Leute heute weniger leisten als vor 20 Jahren, obwohl die Löhne durchwegs gewachsen sind. Sie können sich beim Staat bedanken, dass er ihnen wegnimmt, wegnimmt, wegnimmt.

profil: Liegt es nicht eher an den Folgen von Globalisierung und Automatisierung statt an staatlicher Verschwendung, dass die Reallöhne sinken und die Ungleichheit steigt? Das sagen inzwischen sogar Experten von zutiefst marktwirtschaftlich orientierten Organisationen wie Internationalem Währungsfonds und OECD. Diese fordern Maßnahmen gegen die Ungleichverteilung und die Steuervermeidung großer Konzerne. Treffen solche Befunde auf Österreich nicht zu? Oder blenden Sie etwas aus?

Kapsch: Ich blende nichts aus. Es ist empirisch nachgewiesen, dass Länder mit niedrigerer Staatsquote und weniger staatlichen Eingriffen innovativer und wachstumsstärker sind. Es gibt einige Ausnahmen, etwa Dänemark und Schweden. Aber die lassen sich aus vielen Gründen mit Österreich nicht vergleichen. Die Schweiz zum Beispiel kommt mit einer Abgabenquote von knapp 28 Prozent durch – wir hingegen stehen bei 44. Und das, obwohl die Schweiz ein besseres Bildungssystem, kein schlechteres Gesundheits- und Pensionssystem und eine geringere Armutsgefährdung hat.

profil: In Deutschland beispielsweise sind laut der sogenannten EU-SILC-Erhebung deutlich mehr Menschen armutsgefährdet als in Österreich, außerdem ist die Rate der Working-Poor-Arbeitskräfte höher. Hängt es nicht auch mit der hohen Abgabenquote in Österreich zusammen, dass die Zahlen hier gut sind?

Kapsch: Das glaube ich nicht. In Deutschland sind derartige Probleme schleichend entstanden. Wenn wir nicht aufpassen, werden sie hierzulande mit einem Schlag kommen. Irgendwann wird unser Sozialsystem zusammenbrechen, weil wir es uns nicht mehr leisten können. Dann wird der Jammer noch viel größer sein als in Deutschland. Von den politischen Folgen ganz zu schweigen.

profil: Überall werden rechte Bewegungen immer stärker, in Europa wie den USA. Deren Unterstützer sind oft Arbeiter, ob aktive oder ehemalige. Wie erklären Sie sich, dass viele Arbeiter in Betrieben heute Rechtsaußen-Parteien wählen?

Kapsch: Mitarbeiter sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wir leben in unsicheren Zeiten. Die Menschen sehen, dass die Politik der Lage nicht Herr geworden ist. Und was machen sie leider? Sie glauben an jene, die behaupten, dass sie sie beschützen, indem sie keine Ausländer mehr ins Land lassen.

profil: In den USA erfahren extremistische Politiker wie Donald Trump in jenen Regionen den meisten Zuspruch, wo die meisten Jobs nach China verschwunden sind. Tragen globalisierungsbedingte Job-Verluste zur Radikalisierung der Politik bei?

Kapsch: Ein wenig sicher. Aber was führt denn dazu, dass die Produktion abwandert? Wir wandern nicht gerne ab. Ich als Unternehmer fühle eine historische Verantwortung für die Menschen hier. Darum setze ich mich für den Standort ein. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen das genauso. Allerdings: Wenn wir hier in Österreich und Europa aufgrund schlechter Standortbedingungen mit wehenden Fahnen untergehen, hilft das niemandem. Und leider setzt die Politik die Rahmenbedingungen so, dass wir fast überall das Nachsehen haben.

Georg Kapsch (Foto: Tatic/Wikipedia)

Georg Kapsch (Foto: Tatic/Wikipedia)

profil: Die hohe Abgabenquote in Österreich haben Sie bereits beklagt. Wo haben Sie noch das Nachsehen?

Kapsch: Es gibt eine totale Überregulierung. Die EU war einst als Friedens-, Deregulierungs- und Liberalisierungsprojekt gedacht. Heute sind wir durchreguliert wie nie. Das beginnt bim Arbeitszeitgesetz, geht über die Finanzmärkte …

profil: … ausgerechnet die waren doch total unreguliert, sonst hätten wir nicht vor einigen Jahren die schlimmste und teuerste Finanzkrise seit 1929 erlebt.

Kapsch: Aber was geschieht heute? Wir regulieren die normalen Geschäftsbanken zu Tode, während andere Sektoren der Finanzwirtschaft, wo wirklich Probleme stecken, außen vor bleiben. Den normalen Banken verpassen wir strenge Eigenkapitalvorschriften. Damit sind sie nicht mehr in der Lage, Unternehmen mit Krediten zu versorgen. Wenn ich Geld für die Kapsch AG brauche, ist das kein Problem – ich gebe einfach eine Anleihe aus. Doch einem Kleinunternehmer bleibt diese Möglichkeit verwehrt. Als ich im Jahr 2000 mein Unternehmen übernommen hatte, ging es gerade durch die größte Krise seiner Geschichte. Es stand auf des Messers Schneide, ob wir die Sanierung schaffen. Es ist schließlich gelungen, weil die Banken uns Kredite gaben – aber genau das dürften sie unter heutigen Rahmenbedingungen nicht mehr. Derweil bleiben andere Dinge ungeregelt. Der Hochfrequenzhandel? Dark Pools (bankinterne Plattformen für anonyme Finanzgeschäfte, Anm.)? Hier gibt es keine Kontrolle.

profil: Dafür, dass Sie staatliche Regulierungen eigentlich ablehnen, fordern Sie ziemlich große.

Kapsch: Es kommt darauf an, was man reguliert. Ein Beispiel aus meiner Branche, dem Telekom-Sektor: In der EU werden Roaming-Gebühren abgeschafft, Lizenzgebühren für Frequenzen erhöht und Preise reglementiert. Deshalb bezahlt man heute für ein Datenpaket, das in den USA 60 Dollar kostet, in Österreich gerade einmal zwölf Euro. Ergebnis: Die europäischen Netzbetreiber verdienen kaum noch Geld. Sie können nicht mehr investieren und geraten ins Hintertreffen gegenüber US-amerikanischen, mexikanischen und asiatischen Konzernen. Wie soll unter diesen Bedingungen fairer Wettbewerb stattfinden? Anderes Beispiel: Die Welthandelsorganisation WTO will China den Status einer Marktwirtschaft einräumen. Damit wären bestimmte Schutzzölle in Europa, etwa auf Stahl, nicht mehr zulässig – und das bei völlig anderen Sozial- und Umweltstandards. Es gibt zwar CO2-Ziele in China, aber die Spitze der Emissionen ist erst bis 2030 erreicht.

profil: Aber predigt die Industrie nicht sonst immer: Verschiedene Ausgangsbedingungen in Regionen fördern den gesunden Wettbewerb. China hat die billigen Arbeitskräfte, Europa das Know-how. Man muss den Dingen nur ihren Lauf lassen, und am Ende gleicht sich alles zum Wohle aller aus?


Kapsch:
Stimmt schon, in der volkswirtschaftlichen Theorie gleicht es sich aus. Auch die Hyperbel erreicht irgendwann die Asymptote – aber leider erst in der Unendlichkeit. Was auf dem Weg dorthin passiert, dies zu steuern, wäre die Uraufgabe der Politik. Wir als IV können nur sagen, was wir brauchen, um global wettbewerbsfähig zu bleiben.

profil: Das Wifo, das größte Wirtschaftsforschungsinstitut Österreichs und beileibe keine ideologisch gefärbte Einrichtung, hat ebenfalls eine Idee, wie man Österreich wettbewerbsfähiger machen könnte: indem man die Steuern auf Arbeit stark senkt und zugleich jene auf Vermögen und Erbschaften erhöht.

Kapsch: Grundsätzlich bin ich der Meinung, der Staat sollte zunächst sparen. Dann erspare ich mir die Frage, ob ich Steuern erhöhe. Trotzdem sieht unser IV-Steuerkonzept nicht nur eine Entlastung der Arbeitseinkommen vor, sondern auch eine Reform der Grundsteuer auf Immobilien – zumindest dann, wenn es vorher essenzielle Strukturreformen gibt. In Summe würde das einiges mehr bringen. Darüber hinaus jedoch lehnen wir Vermögenssteuern ab, also Substanzsteuern außerhalb der Grundsteuer. Sie wirken innovationshemmend und belasten diejenigen überproportional, die in Österreich investieren.

profil: Es gibt auch reiche Menschen, die ihr Vermögen nicht in Arbeitsplätze investieren, sondern es ganz unproduktiv auf der Seite liegen lassen.

Kapsch: Wenn ich neue Steuern schaffe, vertreibe ich nur das Eigentum aus Österreich. Ich denke, wir sollten den Neid in unserer Gesellschaft in Grenzen halten. Andererseits: Gier soll man durchaus besteuern.

profil: Wie?

Kapsch:
Indem ich Finanztransaktionen besteuere. Ich befürworte die Finanztransaktionssteuer. Sie muss nur im internationalen Gleichklang erfolgen. Und: Geschäfte mit Aktien und Anleihen sollten nicht höher besteuert werden als Derivate, so wie es derzeit in der EU geplant ist. Sonst trifft das erst recht die Realwirtschaft.

profil: Vehementer als für die Finanztransaktionssteuer setzt sich die IV für TTIP ein, das EU-USA-Handelsabkommen. Doch es droht zu scheitern.

Kapsch: Dahinter stecken Panikmache und Desinformation. NGOs betreiben sie, indem sie irgendwelche Leaks aus dem Hut ziehen. Wir sollten uns erst über TTIP unterhalten, wenn es fertigverhandelt ist. Meine feste Überzeugung ist, dass Europa ohne TTIP im globalen Spiel der Kräfte verlieren wird. Wir werden zerrieben zwischen den USA und den aufstrebenden asiatischen Ländern. Und ich sage das, obwohl ich persönlich als Unternehmer von TTIP einen Nachteil hätte.

profil: Inwiefern?

Kapsch: Wir von Kapsch haben in den USA bereits Zigmillionen Dollar investiert, um dortigen Standards zu entsprechen. Wir mussten komplette Unternehmen kaufen, weil sie über die notwendigen Zertifizierungen verfügten. Wenn TTIP fertig ist, können sich meine Mitbewerber die Hände reiben: Sie brauchen das alles nicht mehr.

profil: Sie haben vorhin über zu viel Regulierung geklagt. Jetzt sprechen wir über hochkomplexe Abkommen mit Tausenden Seiten, die noch dazu permanent weiterentwickelt werden sollen. Bringt das wirklich weniger Regulierung?

Kapsch:
Viele NGOs haben eben Änderungen und Ausnahmen hineinreklamiert. Ich wäre für einen einfacheren Zugang, zum Beispiel bei dieser ewigen Diskussion über Lebensmittel: Wenn der Konsument irgendetwas nicht will, soll er es nicht kaufen. Die Aufregung verstehe ich nicht. Das EU-Kanada-Abkommen CETA etwa schließt explizit den Import von hormonbehandeltem Fleisch aus.

profil: Die IV schwärmt gerne von erwarteten Vorteilen infolge von TTIP. Sehen Sie auch potenzielle Nachteile für Österreichs Industrie?

Kapsch: Das wird sich zeigen, wenn das Abkommen fertig ist. Ein strittiger Punkt ist, dass die USA die öffentlichen Auftragsvergaben nicht für die Europäer öffnen wollen. Wenn das so bleibt, sehe ich keine Chance für TTIP.

profil: Zwischen den USA und Europa sollen die Grenzen weiter aufgehen – rund um Österreich jedoch bleiben sie geschlossen. Seit Monaten müssen die Österreicher infolge der Flüchtlingskrise mit Wartezeiten an den Grenzen leben. Spüren das auch die heimischen Industriellen?

Kapsch: Definitiv. Es sind hohe Ausgaben, und wir haben auch ausgerechnet, wie viel das kostet. Derzeit ist es zu früh, eindeutige Schlüsse zu ziehen. Aber wenn es so bleibt, werden die Auswirkungen auf den innereuropäischen Handel und das Wachstum enorm sein.

profil: Die IV plädiert gern für offene Grenzen und für die rasche Integration von Flüchtlingen am Arbeitsmarkt. Gleichzeitig haben sich gerade die Industriellen aus Oberösterreich sehr früh und offen zur neuen schwarz-blauen Koalition im Land bekannt. Drehen sich die Industrievertreter da nicht mit dem politischen Wind?

Kapsch: Nein, das tun sie nicht. Das ist die Meinung einer Landesorganisation, die nicht auf die Bundesebene übertragen werden kann. Die Unzufriedenheit unserer dortigen Landesorganisation mit der vorherigen Regierungskonstellation war enorm. Aber das ist Sache des Landes.

profil: Wen werden Sie bei der zweiten Bundespräsidentschaftsstichwahl wählen?

Kapsch: Das verrate ich Ihnen nicht. Es gibt ein Wahlgeheimnis. Aber ich bin ein Liberaler, kein Nationaler.

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Die anderen TTIPS

Aus profil 24/2016

Schiedsgerichte, Arbeitsrechts-und Umweltstandards, Lebensmittelsicherheit – wer kennt sie nicht, die vielschichtige Kritik an den EU-Handelspakten mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA)? Völlig aus dem öffentlichen Fokus gerät dabei jedoch, dass die EU nicht nur in Nordamerika Abkommen verhandelt. Gleich 58 solcher Verträge wurden in der Vergangenheit bereits abgeschlossen (zuletzt mit Südkorea) – und weitere sind gerade im Entstehen. Ein Überblick.

Mexiko Das mittelamerikanische Land ist einer der wichtigsten Handelspartner der EU. Ein Abkommen gibt es bereits seit 2000. Mitte Juni sollen nun Verhandlungen über eine Adaptierung des Vertrags starten.

Mercosur So heißt ein Zusammenschluss aus den Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela. Auch mit diesem Verbund verhandelt die EU. Allerdings geht bei den Gesprächen seit Jahren nichts weiter.

Japan Ähnlich wie bei TTIP und CETA umfasst auch das EU-Japan-Abkommen die Bereiche Zollabbau, Investitionsschutz und die sogenannte regulatorische Zusammenarbeit. Einige Runden haben bereits stattgefunden. „Aus Sicht der österreichischen Industrie handelt es sich um ein besonders wichtiges Abkommen, immerhin ist Japan die drittgrößte Volkswirtschaft“, sagt Michael Löwy, Bereichsleiter für Internationale Beziehungen bei der Industriellenvereinigung.

Myanmar, Malaysia, Thailand Mit diesen drei Staaten wird gerade verhandelt, jeweils einige Runden haben bereits stattgefunden. Mit einem Abschluss ist laut IV-Experten Löwy „in nächster Zeit nicht zu rechnen“.

Singapur Dieses Abkommen ist bereits ausverhandelt. Derzeit prüft der Europäische Gerichtshof, ob eine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente erforderlich ist oder ob es reicht, den Pakt lediglich auf EU-Ebene abzusegnen.

Vietnam Seit 2015 ist der Vertragstext fertig, aber – siehe Singapur – noch nicht zur Ratifizierung vorgelegt.

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