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„Wien hat stärker profitiert als jede andere Stadt im Westen“

Aus dem FALTER 43/2014

Vor 25 Jahren fiel der Eiserne Vorhang. Der Historiker Philipp Ther zieht Bilanz über das, was danach geschah. Ein Gespräch über Polenmärkte, neoliberale Schocktherapie und Putin in der Wirtschaftskammer

INTERVIEW: JOSEPH GEPP, WOLFGANG ZWANDER

Philipp Ther ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Gerade erschien sein Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“.

Falter: Herr Ther, wie hat sich Osteuropa in den vergangenen 25 Jahren seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft verändert?

Philipp Ther: In Osteuropa hat sich nach 1989 vollzogen, was im Westen bereits in den 1980er-Jahren begann: die Durchsetzung des Neoliberalismus. Dieser wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel geht auf den Thatcherismus und die „Reaganomics“ zurück. Nicht nur der Staatssozialismus, auch die westeuropäischen Wohlfahrtssysteme zeigten immer stärkere Krisensymptome. Das blieb unter östlichen Wirtschaftsexperten nicht unbemerkt. Nach dem Systemwechsel folgten die Eliten in vielen Staaten des Ostens dem neoliberalen Denken in Großbritannien und den USA.

Wie konnte es passieren, dass Staaten so schnell von Kommunismus auf Neoliberalismus umschalteten?

Ther: Trotz des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs waren Ost und West immer kommunizierende Gefäße; einige östliche Wirtschaftsexperten hatten in den USA oder in England studiert, man war informiert über die Lehren und Rezepte der Chicago School. Spätestens nachdem Michail Gorbatschow mit seiner Perestroika und der graduellen Reform des Systems gescheitert war, waren radikale Reformen eine Option. Zudem hatten die Eliten im Osten den Staat ja überwiegend als gängelnd und ineffizient kennengelernt.

Aber es gab doch im Osten auch Anhänger eines Dritten Weges: Intellektuelle, die gegen die Diktatur waren, aber auch keine Rückkehr zum Kapitalismus wollten.

Ther: Das Potenzial eines Dritten Weges wird oft überschätzt. Dieses Schlagwort war mit keinem konkreten Wirtschaftsmodell verbunden, das man schnell hätte umsetzen können. Ein Teil der Demonstranten in Prag und Ostberlin forderte im Herbst 1989, einige Errungenschaften des Sozialismus zu bewahren, aber bald darauf folgten die neoliberalen Schocktherapien. Man kann am Beispiel der Tschechoslowakei auch sagen, Václav Klaus hat sich gegen Václav Havel durchgesetzt.

Wie fällt nun, ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Ihre Bilanz dieser Übergangsphase aus?

Ther: Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man den Blick über Osteuropa hinaus richtet. Neoliberale Reformen gab es in den vergangenen 25 Jahren nämlich in ganz Europa – und in Staaten wie Deutschland, Schweden und in mancher Hinsicht Österreich kann man geradezu von einer Ko-Transformation sprechen, die durch den Umbruch im Osten angestoßen wurde. In Osteuropa selbst fällt die Bilanz gemischt aus.

Osteuropahistoriker Philipp Ther (Foto: Gepp)

Osteuropahistoriker Philipp Ther (Foto: Gepp)

Inwiefern gemischt?

Ther: Man sollte dort nicht nur nach einzelnen Ländern differenzieren, sondern etwa auch nach Regionen oder dem Unterschied zwischen Stadt und Land. Vergleicht man Staaten miteinander, kann man beispielsweise Polen als Erfolgsbeispiel nennen. 22 Jahre lang gab es dort teils sehr hohe Wachstumsraten, die nicht einmal von der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 unterbrochen wurden. Auf der anderen Seite fällt die Bilanz in manchen Staaten sehr negativ aus, in wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht, etwa in Russland und der Ukraine. Dazu muss man allerdings wissen, dass die Krise von 2008/09 die Situation in fast allen Staaten Ostmittel-und Osteuropas massiv verschlechtert und die Bilanz stark eingetrübt hat.

Wo am stärksten?

Ther: Die lettische Wirtschaft zum Beispiel schrumpfte in der Krise um 18 Prozent. Die Regierung reagierte mit eisernen Sparmaßnahmen, zum Beispiel Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst um 25 Prozent. Im Gesundheitsbereich wurden nur noch absolut überlebensnotwendige Operation durchgeführt, die Arbeitslosigkeit verdreifachte sich. Infolge der Krise verloren Länder wie Lettland, Litauen oder Rumänien durch Auswanderung bis zu zehn Prozent ihrer Bevölkerung, unter ihnen viele hochqualifizierte Menschen. Das sind Verluste, die an die gesellschaftliche Substanz gehen.

Zurück zu den Umbrüchen der 90er-Jahre: Wenn man die Lage zusammenfasst, wer waren die Gewinner und wer die Verlierer?

Ther: Die Gewinner waren sicher die Jungen, die sich selbstständig machen oder gute Stellen finden konnten, denen der Staat nicht mehr vorschrieb, wie sie ihr Leben gestalten sollten. Der Verlierer war nach 1989 vor allem die Landbevölkerung, noch mehr als die Industriearbeiter. Die Kolchosen und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gingen massenweise bankrott. In vielen Dörfern gab es dann über Jahre nichts, außer Alkohol. Es war kein Staat da, der etwas getan hätte. Kein Wille, Regionalpolitik zu betreiben. Kein Investor, weil auf dem Land das Kapital fehlte und es wenig Aussicht auf Gewinne gab.

Aber was hat zum Beispiel ein Land wie Polen richtiger gemacht als etwa Russland?

Ther: In beiden Ländern gab es ein vergleichbares Reformprogramm, nicht zuletzt unter dem Einfluss des US-Ökonomen Jeffrey Sachs, der in Polen und Russland als Berater tätig war. In Polen hat es einigermaßen funktioniert, in Russland überhaupt nicht. Der Grund liegt wohl darin, dass es in Polen noch einen funktionierenden Staat gab. Entgegen der Staatsskepsis der Chicago School ist ein funktionierender Staat eine Voraussetzung für den Erfolg neoliberaler Reformen. In Polen wurde der Staat außerdem erfolgreich reformiert, etwa durch Selbstverwaltung. In Russland hingegen wurde die Privatisierung selbst privatisiert, indem man sie von undurchsichtigen Banken durchführen ließ. Russische Oligarchen nutzten die zerfallende Ordnung, um den Staat auszuplündern. Es gab aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt, mit dem sich der Unterschied im Erfolg zwischen Polen und Russland erklären lässt.

Der wäre?

Ther: Es geht um die Frage, inwiefern die Gesellschaften auf den Wandel vorbereitet waren. Also wie die „Transformation von unten“ funktionierte. In Polen haben die Kommunisten als Reaktion auf die Krise des Staatssozialismus, wie etwa auch in Ungarn, relativ früh private Unternehmen zugelassen. Es gab viele Händler, außerdem einen blühenden Schwarzmarkt. Viele Polen und Ungarn waren daher mit Formen der Marktwirtschaft vertraut, bevor diese offiziell ausgerufen wurde. In Russland war das ganz anders, aber auch in der DDR. Diese Länder waren stärker reguliert, auch die Eigeninitiative der Menschen wurde viel mehr eingeschränkt. Mein Buch ist der Versuch, diese Entwicklung mit einer längeren historischen Perspektive und wie gesagt „von unten“, also mit einem sozialhistorischen Blickwinkel auszuleuchten.

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich auch mit der Rolle Wiens. Sie schreiben, Wien habe die Transformation viel besser genutzt als etwa Berlin. Wie denn das?

Ther: Die Revolutionen von 1989 haben nicht nur den Osten, sondern auf die Dauer ganz Europa verändert. Wien hat vom Umbruch im Osten stärker profitiert als jede andere Stadt im Westen. Berlin hingegen verzeichnete eine lange Phase der Stagnation, die von Mitte der 1990er-Jahre bis 2005 andauerte. Nach der EU-Erweiterung ließen auch ostmitteleuropäische Hauptstädte wie Prag und Warschau Berlin beim kaufkraftbereinigten BIP pro Kopf, also etwas vereinfacht gesagt der Wirtschaftskraft, hinter sich. Der Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass in Berlin die Transformation von unten nicht so gut funktionierte, etwa im Bereich des Klein- und Einzelhandels. Es gab dort 1989 einen riesigen Polenmarkt, der aber schnell überwacht, behindert und schließlich ganz zugesperrt wurde. Berlin war wegen der Teilung der Stadt sehr stark auf den Westen orientiert und verschlossen gegenüber dem Osten. Obendrein wurde das frisch wiedervereinigte Berlin bald zur nationalen Hauptstadt, auch deshalb ging man weniger auf die damals noch armen Nachbarn aus dem Osten zu.

Und Wien?

Ther: In Wien ist man mit den Veränderungen offener umgegangen. Die Wiener Geschäftsleute haben auf die Öffnung des Eisernen Vorhangs recht geschickt reagiert, was sich etwa an kleinen Details wie der Anzahl fremdsprachiger Beschriftungen ablesen ließ. Die polnischen Händler am Mexikoplatz ließ man gewähren, und die Geschichten von der „Magyarhilfer Straße“ sind ja inzwischen bereits ein Stück Stadtmythologie. Nach Finnland hatte Österreich von allen westlichen Staaten den höchsten Außenhandelsanteil mit dem Ostblock.

Aber die FPÖ hetzte doch sofort nach dem Ende des Kommunismus gegen die Nachbarn in Ost- und Südosteuropa.

Ther: Es gibt natürlich immer gegenläufige Tendenzen. Selbstverständlich riefen die Umbrüche auch Angst hervor und verstärkten den Fremdenhass. Andererseits gab es aber auch, teils noch aus der k.-u.-k.-Zeit, Kontakte in den Osten, sodass man an eine lange gemeinsame Geschichte anknüpfen konnte. Die Nachbarn im Osten sahen Wien immer als ein wirtschaftliches Zentrum. Und Wien war während des Kalten Krieges eine Drehscheibe zwischen Ost und West, ob nun auf politischer Ebene oder für viele größere und kleinere Geschäfte. Politisch verlor Wien nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich an Bedeutung, doch etwa 300 Firmen eröffneten hier ihre Osteuropa-Zentralen. Die Banken expandierten früh in den Osten, auch hier gab es ältere Traditionen. So konnte man in Wien schon vor 1989 Westwährungen in Ostwährungen tauschen, allerdings nicht zum staatlich festgesetzten Kurs, sondern beinahe zum Schwarzmarktkurs. Natürlich war es verboten, mit diesem Geld zurück in den Osten zu reisen, aber der Schmuggel blühte.

Warum stehen Staaten wie Bulgarien oder Rumänien wirtschaftlich viel schlechter da als etwa Polen oder Tschechien?

Ther: In Südosteuropa gab es nach dem Systemwechsel eine schlechtere Ausgangslage. Rumänien war eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft, die sich erst von Ceaușescus Gewaltherrschaft erholen musste. Hinzu kommt, dass sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Postkommunisten bei den ersten freien Wahlen durchsetzen konnten; es gab also eine viel stärkere politische Kontinuität, die einen Neuanfang blockierte und im Zeichen von Korruption und Bereicherung stand. Durchgreifende Reformen gab es daher erst Mitte und Ende der 1990er-Jahre. Zu diesem Zeitpunkt hatten die westlichen Investoren ihr Kapital schon in anderen Ländern angelegt und dort Produktionsstätten aufgebaut. Obendrein destabilisierte der Jugoslawienkrieg in den 1990ern Südosteuropa, was auch kein Vorteil für Rumänien oder Bulgarien war.

Heute droht der Konflikt in der Ukraine Osteuropa zu destabilisieren. Wie beurteilen Sie das?

Ther: Der Konflikt in der Ukraine ist der Ausdruck einer neuen Systemkonkurrenz. Russlands Präsident Putin hat zwar einige neoliberale Reformen und eine prinzipiell marktwirtschaftliche Ordnung beibehalten, sie aber mit einem autoritären System ergänzt. Dieser autoritäre Staatskapitalismus ist eine handfeste Systemkonkurrenz zum Westen. Die Ukraine ist ein Lackmustest dafür, inwieweit der Westen für seine Werte steht. Das Beispiel Ungarns und die dortigen autoritären Tendenzen zeigen, dass diese Systemkonkurrenz inzwischen auch in der Europäischen Union angekommen ist. Ich habe den Eindruck, man ist sich im Westen dieser Herausforderung noch nicht genügend bewusst. Wäre das anders, wäre Putin bei seinem Besuch in Wien in der Wirtschaftskammer nicht mit Standing Ovations begrüßt worden.

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Suhrkamp, 432 S., € 27,70

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