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50 Milliarden Euro …

Aus dem profil 39/2015

… so viel Geld muss Griechenland auf Geheiß seiner europäischen Gläubiger durch Privatisierungen einnehmen. Doch wie kam diese Summe überhaupt zustande? Eine Einführung in den Brüsseler Zahlenzauber.


Von Joseph Gepp

An diesem Sonntag, dem 20. September, wählen die Griechen ein neues Parlament. Doch besonders wichtig ist das nicht.

Zwar wird sich entscheiden, ob der linksgerichtete Premier Alexis Tsipras sein Amt behält oder es an die konservative Opposition verliert. Aber so oder so, die Weichen sind gestellt. Mitte Juli hat sich die griechische Regierung zu einem weiteren harten Spar- und Liberalisierungsprogramm verpflichtet. Jetzt darf das Volk nur noch entscheiden, welche Partei es durchziehen wird.

Nach der Wahl muss die neue Regierung in jedem Fall tiefe Einschnitte ins Pensionssystem, massive Steuererhöhungen und andere Maßnahmen vornehmen. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Griechenland weiterhin Notkredite von den Euro-Staaten erhält. Diese Kredite verhindern den Staatsbankrott und damit das Rausfliegen des Landes aus der Eurozone.

Die wohl umstrittenste Vorgabe der Gläubiger: Mithilfe eines neuen Privatisierungsfonds soll das griechische Staatsvermögen abverkauft werden, unter der Aufsicht von Abgesandten der Eurostaaten. Zum Beispiel Griechenlands Flughäfen, Kraftwerke, Wasserversorger, Gasnetze.

Ende des Jahres soll dieser Fonds seine Arbeit aufnehmen, gab die Eurogruppe Mitte August bekannt. Die Gläubiger rechnen damit, dass „ein Zielwert von 50 Milliarden Euro realisiert werden kann“.

Woher stammt diese Summe von 50 Milliarden? Diese Frage mag wie ein Detail in der langen, komplexen Griechenlandkrise erscheinen. Aber die Entstehungsgeschichte der Zahl zeigt, auf welch wackligem Fundament Europas Krisenpolitik steht. Sie hilft zu verstehen, wie die Krise immer teurer und eine immer größere Gefahr für die Stabilität der EU werden konnte. Denn statt sich die Tatsachen rechtzeitig einzugestehen und danach zu handeln, operieren Europas Politiker lieber mit Fantasiezahlen. So wie mit besagten 50 Milliarden Euro.

Doch der Reihe nach. Woher kommen sie nun, die Milliarden? Erster Versuch das herauszufinden: ein Blick in die Medien.

Hier taucht die Zahl nicht etwa im Jahr 2015 erstmals auf, sondern bereits 2011, bei einer Pressekonferenz in Athen. Damals war es gerade ein Jahr her, da Griechenland erstmals Notkredite von der Eurozone erhalten hatte. Ob Athen die Auflagen seiner Gläubiger erfüllte, kontrollierte seither die sogenannte Troika: ein Experten-Team aus Vertretern von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission. Regelmäßig berichtete die Troika in Athen über die Fortschritte beim Reformprogramm. So auch am 11. Februar 2011.

Die Summe der 50 Milliarden nahm damals erstmals Servaas Deroose in den Mund, ein Belgier und Repräsentant der EU-Kommission bei der Troika. Diesen Betrag könne man bis zum Jahr 2015 durch Privatisierungen einnehmen, sagte der EU-Beamte. Die Summe habe unter den anwesenden Journalisten ungläubiges Staunen ausgelöst, berichtete die APA.

Wie Deroose auf die 50 Milliarden gekommen war, darauf ging er damals nicht ein. Und auch heute gibt sich die EU-Kommission – zuständig ist das Wirtschaftskommissariat des Franzosen Pierre Moscovici – verschlossen. Welche Berechnung liegt den gewünschten Privatisierungserlösen von 50 Milliarden Euro zugrunde? Antworten bekommt profil trotz mehrmaliger E-Mail-Nachfragen nicht; auch ein Gespräch mit Deroose ist nicht möglich.

Bleibt ein Blick in die schriftlichen Griechenland-Berichte der EU-Kommission. Seit Jahren veröffentlichen die Brüsseler Beamten regelmäßig auf jeweils Hunderten Seiten, wie es um die Reformen im Krisenstaat steht und ob Änderungen nötig sind. In den Berichten werden auch die erwarteten Privatisierungserlöse vermerkt.

Hier zeigt sich eine erstaunliche Entwicklung: Im Mai 2010 ging die Kommission noch von Einnahmen von „mindestens einer Milliarde Euro zwischen 2011 und 2013“ aus. Im Bericht vom Dezember desselben Jahres hieß es bereits, man rechne nun „aufgrund verstärkter Privatisierungsbemühungen“ mit sieben Milliarden Euro bis 2013. Und im nächsten Bericht vom Februar 2011 steht schließlich zu lesen: „50 Milliarden Euro bis 2015“.

Um seine Schulden zu bedienen, muss Griechenland auf Teufel komm raus privatisieren (so wie den Hafen von Piräus, im Bild). 50 Milliarden Euro soll das Land damit einnehmen, sagen die Gläubiger in Brüssel. Doch woher kommt diese Zahl) (Foto: Wikipedia)

Um seine Schulden zu bedienen, muss Griechenland auf Teufel komm raus privatisieren (so wie den Hafen von Piräus, im Bild). 50 Milliarden Euro soll das Land damit einnehmen, sagen die Gläubiger in Brüssel. Doch woher kommt diese Zahl? (Foto: Wikipedia)

Innerhalb von zwei Monaten also sprangen die erwarteten Erlöse von sieben auf 50 Milliarden. Diese Zielvorgabe bleibt seither aufrecht – bis heute taucht die Summe in fast jedem offiziellen Bericht der Gläubiger auf.

Wie kam es zu dem Sprung? Sollte von irgendetwas mehr als zuvor privatisiert werden? Wurde Griechenlands Staatsvermögen anders bewertet? Zu diesen Fragen findet sich im Bericht kein Wort. Die einzige Erklärung lautet: „Die griechische Regierung wird ihr Privatisierungsprogramm wesentlich vergrößern.“

Immerhin: Wer zwischen den Zeilen liest, entdeckt in dem Bericht vom Februar 2011, warum es der EU-Kommission gelegen kam, plötzlich mit hohen Privatisierungseinnahmen zu rechnen. Denn nur mit ihrer Hilfe ließ sich prognostizieren, dass die griechische Staatsverschuldung bald wieder auf ein erträgliches Niveau absinken werde.

Der Aspekt der Staatsschulden ist ein wichtiger. Je niedriger sie sind, desto leichter kann sich Griechenland auf dem freien Markt Kredite besorgen. Der Staat wäre also nicht mehr abhängig von den Notkrediten der Eurostaaten. Weitere harte Verhandlungen über Radikalreformen für Athen könnte man sich dann sparen.

Unglücklicherweise geht aus den Szenarien der EU-Kommission im Jahr 2011 eher das Gegenteil hervor. Selbst wenn die Wirtschaft wachse, bleibe Griechenlands Staatsverschuldung im kommenden Jahrzehnt enorm hoch, ungefähr bei zwei Dritteln über jener von Österreich. Nur in einem Fall prognostizieren die Brüsseler Beamten, dass die Schulden in absehbarer Zeit auf ein durchschnittliches Niveau zurücksinken: wenn man die Privatisierungserlöse von 50 Milliarden einrechnet.

Hätten Europas Politiker also jahrelang nicht auf zusätzliche 50 Milliarden Einnahmen gehofft, hätten sie viel eher eingestehen müssen, dass Griechenland viele Jahre hoch verschuldet bleiben wird. Sie hätten über eine Maßnahme nachdenken müssen, die bei vielen Wählern unpopulär ist: einen großen Schuldenerlass für Griechenland. Doch über solch unschöne Einsichten schummelt sich Europa hinweg.

Damit mag zwar geklärt sein, warum es für die EU günstig war, mit 50 Milliarden Euro an Privatisierungseinnahmen zu rechnen. Eines jedoch ist immer noch offen: Woher stammt die Zahl nun?

profil wollte dies nicht nur – erfolglos – von der EU-Kommission wissen. Angefragt wurde auch bei den anderen beiden Troika-Institutionen, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank. Während vom Währungsfonds gar keine Reaktion kam, antwortete die Zentralbank immerhin per Mail, dass die 50 Milliarden 2011 „auf Schätzungen der griechischen Behörden basiert“ hätten.

Nächste Anfrage: jene Stelle bei der griechischen Regierung, die für Privatisierungen verantwortlich ist. Doch auch dieses Mail bleibt unbeantwortet. Bleibt nur noch ein Interview, das einige Rückschlüsse zulässt. Anfang 2012 sprach das griechische Fernsehen mit Jannis Koukiadis. Der Jus-Professor leitete das Privatisierungsprogramm, nominiert von der damals sozialdemokratischen Regierung.

Im Interview sagte Koukiadis, die Zahl von 50 Milliarden Euro sei „auf gut Glück“ festgelegt worden.

Was das genau bedeutet, bleibt offen. Das Fazit jedenfalls lautet: Die griechische Regierung schlug 2011 eine fragwürdige, vielleicht frei erfundene Zahl vor. Die europäischen Gläubiger übernahmen sie, weil sie ihnen gelegen kam. Sie schreiben sie bis heute in internationale Abkommen. Sie rechnen sie in alle Szenarien mit ein. Die Zahl dient als Basis für milliardenschwere Kreditprogramme.

Wenn die Wahl am Sonntag geschlagen ist, muss Griechenland auf Geheiß seiner Gläubiger die Privatisierungsanstrengungen intensivieren. Eine Liste, die an die Öffentlichkeit drang, zeigt, was verkauft werden soll. Hotelressorts auf Rhodos, Athens Flughafen, Thessalonikis Wasserwerke.

Wie viel all das wert sein könnte, weiß niemand. Alle bisherigen Privatisierungen zusammen seit Beginn der Griechenland-Krise haben rund drei Milliarden Euro eingebracht.

Sagen wir einfach, es folgen noch weitere 47 Milliarden. Oder so.

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