Archiv der Kategorie: Weltpolitik

Österreich und der Iran: Geldwäsche und Gewäsch

Aus dem FALTER 46/2012

Das Wiesenthal-Institut wirft Wiener Banken Unterstützung für das iranische Atomprogramm vor. Zu Recht?

Der Iraner Hamid Reza Amirinia ist ein Mann mit guten Kontakten in die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Einmal trifft er Forscher in der türkischen Hauptstadt Ankara. Dann referiert er über Technikinnovationen im Emirates Tower von Dubai. Dann wieder leitet er einen Workshop zum Thema Nanotechnologie im syrischen Damaskus.

Auch in Wien sei Amirinia schon gewesen, berichtete der britische Daily Telegraph. Zweimal kam er allein heuer, im April und September, jeweils für eine Woche. Was Amirinia hier getan hat, ist Gegenstand wilder Anschuldigungen.

„Wien ist eine Drehscheibe für Geldwäsche“, kritisierte vergangene Woche Shimon Samuels, Europa-Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums. Regimetreue Iraner wie Amirinia würden Millionen von Euro auf Konten von heimische Banken einzahlen, sagte Samuels der israelischen Jerusalem Post. Damit umgehen sie das Embargo gegen den Mullah-Staat und beschaffen Material für das Atomprogramm. Österreich schaue untätig zu, kritisiert Samuels. Es mache sich indirekt mitschuldig an der nuklearen Aufrüstung des Iran, die vor allem den Israelis große Sorgen bereitet. Österreich verhalte sich „wie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“, sagt Samuels. „Es dient dem Bösen.“

Der Wien-Reisende Hamid Reza Amirinia ist Direktor des iranischen Zentrums für Innovation und Technologie-Kooperation (CITC). Das ist nicht etwa ein privater Thinktank, sondern eine Behörde im direkten Umfeld des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Das CITC befasst sich laut Eigenbeschreibung etwa mit „Nano- und Biotechnologie“. Inoffiziell sei jedoch seine tatsächliche Aufgabe, „unter dem Schlagwort‚ Technologiediplomatie‘ die Sanktionen gegen den Iran zu umgehen“. So heißt es in einem dem Falter vorliegenden Dossier der „Volksmudschaheddin“ – einer Gruppe im Iran, die gegenüber Ahmadinedschads Regime militanten Widerstand leistet.

Laut den Volksmudschaheddin läuft die Geldwäsche in etwa so ab: Iranische Diplomaten schmuggeln Bargeld in der Höhe von jeweils 100.000 Dollar nach Österreich. In Tranchen unterteilt, gelangt das Geld auf Konten in Deutschland, Italien und Österreich. Weiterüberwiesen nach China und Russland finanziert es Technologieimporte in den Iran. Laut den Volksmudschaheddin gibt es auch ein Schreiben, in dem Amirinia seinen Vorgesetzten von der Geldwäscheaktivität in Wien berichtet. Darin heißt es, man halte „Kontakt (…) mit Leuten im wirtschaftlichen Umfeld der Politik“. Es sei „zudem möglich, österreichische Banken zu benutzen“.

Freilich: Eine untadelige Quelle sind die Volksmudschaheddin ganz und gar nicht. Das Anschwärzen des Regimes ist ihnen Programm, die EU und Großbritannien listen sie aufgrund brutaler Anschläge im Iran gar als Terrororganisation.

Schickt enge Vertraute nach Wien: Irans Präsident Mahmud
Ahmadinedschad (Foto: Wikipedia)

Amirinias häufige Reisen nach Wien sind allerdings nicht nur iranischen Oppositionellen aufgefallen, sondern auch dem österreichischen Verfassungsschutz. Seit Jahren verfolge man die Besuche aufmerksam, berichtet ein Insider dem Falter. Offiziell teilt das Innenministerium lediglich mit, dass in der Causa Geldwäsche aufgrund mangelnder Belege gegen niemanden ermittelt werde. Auch die Raiffeisenbank – ihr Name fällt im Zusammenhang mit Iran-Geschäften häufig – will sich mit Verweis auf das Bankgeheimnis nicht zu Amirinia äußern. Raiffeisen lässt nur wissen, das Institut verfolge schon seit dem Jahr 2010 „geschäftspolitisch eine strikte Ablehnung jeglichen Iranneugeschäfts und die Beendigung existierender Geschäftsbeziehungen“.

Der Schattenwirtschaftsexperte Friedrich Schneider von der Johannes-Kepler-Universität Linz hält es für „sehr unwahrscheinlich“, dass die Geldwäsche in Wien abläuft, wie die Volksmudschaheddin in ihrem Dossier berichten. „Heutzutage wird Geld nicht mehr auf diese Art gewaschen“, sagt er.

Viel geeigneter sei dafür ein internationales Netzwerk aus Scheinfirmen. Deren einzelne Filialen stellen dann untereinander Scheinrechnungen aus, zum Beispiel für fingierte Warenlieferungen oder Konsultationsleistungen. „Mit dem Millionenkoffer Bargeld auf die Bank gehen und aufs Konto einzahlen“, sagt Friedrich Schneider, „das ist heute kaum noch möglich, das hätte man vor 30 Jahren so gemacht.“

Vieles deutet also darauf hin, dass der Iraner Hamid Reza Amirinia tatsächlich regelmäßig nach Wien gekommen ist. Nur was er hier getan hat, das bleibt im Dunklen.

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Geheimdienste: ein Einbruch in Wien mit weltpolitischen Folgen

Aus dem FALTER 45/2012

Was geschah in den ersten Tagen des März 2007 in Wien? Glaubt man dem US-amerikanischen Nahostexperten David Makovsky, dann ein folgenreicher Einbruch.

Der israelische Geheimdienst Mossad entwendete in diesen Tagen aus der Wiener Wohnung eines syrischen Diplomaten Unterlagen, schrieb Makovsky im September im Magazin New Yorker. Die Fotos und Pläne zeigten die Anlage Al Kibar in Syrien. Israel hielt Al Kibar für einen Atomreaktor, so Makovsky, der über enge Verbindungen zu hohen israelischen Politikern und Militärs verfügt.

Al Kibar vor und nach der Zerstörung

Die Agenten reichten das Material nach Washington und Tel Aviv weiter. Ein halbes Jahr nach dem Einbruch, am 6. September 2007, zerstörten vier israelische Kampfjets Al Kibar.

Hat in Wien tatsächlich ein Diebstahl von weltpolitischer Tragweite stattgefunden? Bei der Polizei weiß man auf Falter-Nachfrage jedenfalls nichts davon. Es ging keine Anzeige ein, heißt es. Auf frischer Tat ertappt, würde sich der Mossad des Hausfriedensbruchs und vor allem der Amtsanmaßung schuldig machen – schließlich dürfen ausländische Agenten nicht einfach in Österreich tätig werden.

So sah Al Kibar angeblich aus (Foto: CIA/AP)

Die israelische Botschaft will sich zu dem Vorfall nicht äußern, dementiert aber auch nicht. Und die Syrer?

Hier findet sich immerhin ein wichtiger Hinweis auf die Richtigkeit der Geschichte – nämlich jener Diplomat, der bestohlen worden sein soll. Laut David Makovsky heißt er Ibrahim Othman. Einen Mann dieses Namens gibt es tatsächlich in Wien: Othman ist stellvertretender Delegierter Syriens bei der IAEO, der Internationalen Atomenergieorganisation der Vereinten Nationen. Die aktuellen politischen Umwälzungen in Syrien scheinen seiner Karriere offenbar ebenso wenig Abbruch getan zu haben wie ein möglicherweise folgenreicher Einbruch in seiner Wohnung.

Für den Falter war Ibrahim Othman nicht zu sprechen. Die syrische Botschaft wollte nicht mehr gewusst haben, als dass der Diplomat in Wien lebt und arbeitet.

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„Obama wird nach rechts rücken müssen“

Aus dem FALTER 44/12

Der US-Autor Thomas Frank erklärt, wie reiche Amerikaner die Krise umdeuten. Ein Gespräch über Obama und den „Sozialismus“

Wie konnte es ausgerechnet nach der großen Bankenkrise 2008 zu Begeisterungsstürmen für marktwirtschaftliche Deregulierungen kommen? Diese Frage beschäftigt Thomas Frank, Herausgeber des linksliberalen US-Magazins The Baffler, in seinem brillanten Bestseller „Arme Milliardäre“. Der Falter erreichte den Autor nahe Washington, D.C., zum Vorwahlgespräch.

Falter: Herr Frank, wer wird nächster US-Präsident?

Thomas Frank: Es ist knapp. Umfragen sagen sogar einen Sieg Romneys voraus. Ich glaube trotzdem, dass Obama gewinnen wird.

In jedem Fall wird der nächste Präsident mit viel Polarisierung in der politischen Kultur Amerikas konfrontiert sein. Wie ist es dazu gekommen?

Frank: Über „Polarisierung“ zu sprechen ist eigentlich eine nette Umschreibung für das, was mit der Republikanischen Partei geschieht. Die Demokraten sind kein Teil einer Polarisierung. Obama ist Zentrist, kein Radikaler. Wir reden über ein Problem der Rechten. Wenn diese, wie derzeit, nicht den Präsidenten stellt, betreibt sie eine absolute Blockadehaltung. Und wenn sie den Präsidenten stellt, geschieht, was wir während der Ära Bush erlebt haben. Also etwa zwei Kriege und das Aushungern von Regulierungsbehörden. Die Republikaner sind Quertreiber und Vandalen.

Warum wählen sie dann die Menschen?

Frank: Weil sie eine Antwort auf die Frage anbieten, was mit Amerika in den vergangenen Jahren passiert ist. Diese republikanische Lesart der Krise ist zwar ziemlich verquer, aber im Gegensatz zu den Demokraten liefern sie wenigstens eine. Und zwar: Wir haben das gute amerikanische Ideal des freien Marktes nicht konsequent genug verfolgt. Der Glaube an den freien Markt hat in den USA fast religiöse Züge. Die Republikaner bedienen sich dieses Motivs und stillen so das Bedürfnis des Volkes nach Idealismus und Gerechtigkeit.

Wenn man sich die massiven Verwerfungen der Wirtschaftskrise anschaut, würden sich auch genug Argumente gegen diese Position finden. Warum bedienen sich Obamas Demokraten ihrer nicht?

Thomas Frank (Wikipedia)

Frank: Obama will die Fehler der Vergangenheit nicht thematisieren. Er spricht vielleicht über die Reichen, aber niemals über die Wall Street. Er kritisiert nicht mehr die Ära Bush. Dabei gäbe ihm das die Möglichkeit, ihr die Fehler eines ganzen Systems anzukreiden, die immerhin beinahe zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt hätten. Obama jedoch ist ein Schiedsrichtertyp. Er will politische Partnerschaft, den „großen Ausgleich“, wie er selbst sagt. Er fürchtet ein noch stärkeres politisches Auseinanderdriften, und er will nicht noch mehr als bisher als Sozialist gelten.

Woher kommt diese amerikanische Angst vor dem Sozialismus?

Frank: Das ist ein Kampfbegriff, der sich von seinen Ursprüngen entkoppelt hat. Der Sozialismus der Amerikaner hat nichts mit Sowjetunion oder DDR zu tun. Die Entwicklung dieses Begriffs zeigt, wie weit die Gesellschaft nach rechts gerückt ist. Sozialismus ist alles, was liberal ist und nach Elite riecht – so wie der Zentrist Obama.

Als Obama zum ersten Mal gewählt wurde, schien es, als könne er mit seinem Charisma die Blockade der US-Politik aufbrechen und einen großen Wandel herbeiführen.

Frank: Das Gegenteil ist eingetroffen. Das System hat versagt und bräuchte dringend eine Neubewertung. Nach dem letzten Systemkrach in den 30er-Jahren betrieb Amerika intensive Nabelschau. Neue Denkbilder breiteten sich aus von Präsident Roosevelt abwärts. Heute jedoch passiert gar nichts.

Was müsste geschehen, damit wieder ein konstruktiverer Ton zwischen den Lagern einkehrt und sich die politische Lage in den USA normalisiert?

Frank: Ich bin da pessimistisch. Selbst wenn Obama gewinnt, werden die Republikaner das Repräsentantenhaus halten. Das bedeutet, dass die Politik weitergeht wie bisher: Die Republikaner treiben quer, die Demokraten lenken ein. Obama könnte seinen großen Ausgleich in der zweiten Amtszeit durchaus bekommen – um den Preis sozialer Errungenschaften, die er den Republikanern opfern muss. Obama wird nach rechts rücken müssen, er hat keine Wahl. Meine Stimme hat er aber trotzdem.

Thomas Frank
Der US-Kolumnist schreibt unter anderem für das Wall Street Journal und Harper’s Magazine. In seinem ersten Buch „What’s The Matter With Kansas“ beschäftigt er sich mit dem Konservatismus im sogenannten Bibelgürtel Amerikas


Thomas Frank: Arme Milliardäre! Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt. Verlag Antje Kunstmann, 224 S., € 19,50

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Schunkelstimmung kurz vor Sirte: die Botschafterin im Dirndl

AUS DEM FALTER 41/2011

Wüstenmode Glosse

Dass der Österreicher selbst in wahrhaft ungemütliche Gefilde ein bisschen fröhliche Schunkelstimmung zu bringen vermag, bewies gekonnt Dorothea Auer, ihres Zeichens heimische Botschafterin in Libyen. Anlässlich des Besuchs von Außenminister Michael Spindelegger, den kluge Berater wohl im letzten Moment vom Tragen eines Lodenjankers abgebracht haben, zog sich Auer flugs ein Dirndl an, um damit durch Tripolis zu flanieren.

Wer dies für etwas merkwürdig hält, wo doch im selben Land zur selben Zeit Granaten einschlagen und Menschen sterben, dem sei gesagt: Libyen und Kleidung, das ging für Österreicher noch nie gut. Liegt wohl am schlechten Vorbild des vormaligen Machthabers. Man erinnere sich nur an den massigen Kamelhaarmantel, den dieser Bruno Kreisky schenkte.

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Westsahara: Umstrittenes EU-Abkommen

Aus dem FALTER 40/2011

Darf die EU mit Kolonialherren Geschäfte machen? Diese Frage steckt hinter der Debatte über ein Fischereiabkommen mit Marokko, das die Küsten der marokkanisch besetzten Westsahara betrifft (siehe Falter 13/11). Nun votierte das EU-Parlament trotzdem gegen eine fundierte Prüfung des Deals durch europäische Juristen. Von Österreichs Abgeordneten stimmten die Grünen für die Prüfung, die ÖVP nicht. Die FPÖ war ebenso geteilter Meinung wie – interessanterweise – die SPÖ. Letztere gilt sonst als Unterstützer der saharauischen Sache.

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Zehn Jahre 9/11: Stichwort UMBAU

Aus dem FALTER 36/2011

Umbau

Dort, wo man kürzlich noch Schotter und Gestrüpp übersah, wächst heute ein Turm. 16 Stockwerke ist der „DC-Tower“ des französischen Architekten Dominique Perrault am Wiener Donauufer schon hoch. Sechzig sollen es sein, wenn das Haus 2013 mit 220 Metern Österreichs höchstes Gebäude sein wird.

Gerhard Brunner, Projektleiter von der Wiener Entwicklungsgesellschaft für den Donauraum (WED), sitzt im Gebäude vis-à-vis. Ein Bild vom Empire State Building ziert seine Bürowand. Inwieweit hat 9/11 den Hochhausbau verändert? Welche Auswirkungen haben sie auf die Turmbaustelle in Wien? Brunner klappt einen Bauplan auf. „Ein wesentlicher Faktor ist wohl dies hier“, sagt er und zeigt auf ein graues Kästchen, das mitten im Grundriss des Turms verzeichnet ist.

Es ist eine Säule aus Stahlbeton, um die herum der Turm entsteht. Sie bildet buchstäblich den harten Kern des Gebäudes, mit Fluchtstiegen, Lift- und Versorgungsschächten. Das sei eine in Europa übliche Bauweise, erklärt Brunner. In Amerika nehme man traditionell keinen Stahlbeton, sondern reinen Stahl.

Die US-Methode ist zwar baulich weniger aufwendig, zeitigte aber bei 9/11 fatale Folgen: Die Wucht der aufprallenden Flugzeuge riss die Schutzplanken weg, die die Stahlträger abschirmen sollten. Das Kerosin brachte dann den Stahl zum Schmelzen, bis ein Stockwerk auf das nächste stürzte. Beim Stahlbeton europäischer Bauten wäre das in dieser Form wohl nicht passiert.

Während Hochhäuser in den 80er-Jahren möglichst technisch verspielt und in den 90ern nachhaltig errichtet sein mussten, trat mit 9/11 die Sicherheitsfrage in den Vordergrund. „Zukünftige potenzielle Kriegsschauplätze“ nannte sie etwa 2003 die Frankfurter Rundschau und ortete eine „Militarisierung des Ingenieurwissens“. Evakuierungsszenarien wurden durchgespielt, doppelte Glasfassaden sollten den Druckwellen von Autobomben standhalten.

In Wien begegnet man dieser Gefahr mit einer Fußgängerzone um den Perrault-Turm – Autos können nur durch ein Untergeschoß zufahren. Außerdem, erklärt Brunner, würden Zivilschutzübungen durchgeführt, um auf Notfälle vorbereitet zu sein. „Insgesamt“, sagt er, „glaube ich, dass wir – sowohl planerisch als auch von der technischen Ausstattung her – bestmöglich auf einen möglichen Terrorakt vorbereitet sind.“ JOSEPH GEPP

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Zehn Jahre 9/11: Stichwort JIHAD

Aus dem FALTER 36/2011

Mut zur Lücke – so könnte man die Art bezeichnen, wie sich postmoderne Radikale historischer Versatzstücke bedienen, um sich eine ideologische Rechtfertigung für ihre Gewalt zu basteln.

Aktuelles Beispiel ist der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik, der auf Hunderten Seiten ein wirres Weltbild aus Umvolkungs-und Islamisierungsängsten niederschrieb. Aber auch die islamistischen Massenmörder von New York, Madrid, London bedienten sich eines extrem frei interpretierten historischen Unterbaus. Dieser ist vor allem mit einem Begriff verbunden: mit „Jihad“, meist übersetzt mit „Heiliger Krieg“.

Dabei stammt der Gedanke dahinter ursprünglich aus dem Okzident. Die alten Griechen etablierten den Begriff „Heiliger Krieg“, als es galt, Tempel und Pilger militärisch zu schützen.

Später waren jene Kriege „heilig“, die sie gegen die barbarischen Perser führten. Nochmals 500 Jahre später zogen die Kreuzritter mit dem lateinisch nicht korrekten Schlachtruf „Deus lo vult“ („Gott will es“) nach Jerusalem.

Inzwischen war auf der Arabischen Halbinsel eine machtvolle Bewegung entstanden. Mohammed, Prophet der Muslime, propagierte seinerseits die „Anstrengung“ auf dem Weg zu Gott – so lautet die korrekte Übersetzung von Jihad.

35 Mal kommt das Wort im Koran vor. Die Passagen befassen sich mit Kämpfen gegen arabische Christen, Juden und Animisten. Zur Zeit der Kolonialisierung entwickelten islamische Gelehrte eine zweite Definition von Jihad: den spirituellen Kampf gegen sich selbst. Diesen gewinne man nicht mit dem Schwert, sondern durch gottgefälliges Leben. Erst die Entstehung von arabischen Nationalstaaten ließ im 20. Jahrhundert Terrorgruppen entstehen, die unter Jihad den „gerechten“ Kampf gegen Ungläubige verstanden.

Al-Jihad nannte sich jene Vorgängerorganisation von al-Qaida, die 1981 den israelfreundlichen ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat ermordete. Zu dieser Zeit ging die Deutungshoheit des Jihad-Begriffes auf jene radikale Muslime über, die im September 2001 zu ihrem folgenreichsten Schlag ausholten.

Freilich: Nicht nur die innerislamische Sicht bestimmt, was Jihad bedeutet. In den 80er-Jahren etwa unterstützten die USA die afghanischen Taliban-Krieger im Kampf gegen die Sowjets. Zu dieser Zeit galten Jihadisten im Westen noch als tapfere Freiheitskämpfer. JOSEPH GEPP

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Eingeordnet unter Religion, Weltpolitik

War Ihre Mission bei Muammar Gaddafi ein Fehler, Herr Lasar?

Aus dem FALTER 34/2011

Telefonkolumne

Bei seinem Versuch, die FPÖ als Instanz internationaler Friedensvermittlung zu etablieren, setzte der jüdische Wiener Gemeinderat David Lasar Mitte Juli auf das falsche Pferd: Libyens Diktator Muammar Gaddafi, den er als „Emissär“ seiner Partei in Tripolis besuchen wollte, ist dieser Tage praktisch schon besiegt.

Herr Lasar, sehen Sie Ihren Vermittlungsversuch im Nachhinein als Fehler?

Mit Sicherheit nicht. Wenn die Sache geklappt und Gaddafi mit den Rebellen verhandelt hätte, dann hätte man sich in den letzten Wochen noch viel Leid erspart. Deshalb habe ich diese Fahrt in Kauf genommen, die ja auch mit gewissen Gefahren behaftet war.

Vor sechs Wochen verwiesen Sie auf den Häuserkampf in Tripolis und meinten, der Kampf und das Nato-Bombardement würden noch 100 Jahre dauern. Warum ging es jetzt doch so schnell?

Das kann ich nicht beantworten. Als ich anwesend war, war Gaddafi noch so stark, dass er mit Sicherheit sehr lange durchgehalten hätte. Dass das Nato-Bombardement nicht gefruchtet hat, hat man außerdem ja gesehen.

Also hat etwas anderes die Rebellen entscheidend gestärkt?

Richtig, bei den Rebellen oder bei Gaddafi selbst muss etwas passiert sein. Aber ich weiß nicht, was.

Wird sich die FPÖ bei Konflikten weiterhin als Vermittlerin anbieten?

Wir haben uns nicht angeboten. Man hat mich gefragt, ob ich hinfahren möchte, um zwischen den Streitparteien zu vermitteln. Das waren Freunde aus Israel und Amerika aus republikanischen Kreisen.

Was ist, wenn die Freunde Sie wieder fragen?

Das kann ich nicht beantworten. Es kommt darauf an, wer einen um welche Message bittet.

Sollte das nicht die Aufgabe staatlicher Außenpolitik sein?

Normalerweise schon. Aber 14 Tage vor meiner Reise nach Libyen hatte Österreich ja den Rebellenrat anerkannt und damit Partei gegen Gaddafi ergriffen.

Interview: Joseph Gepp

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Eingeordnet unter Weltpolitik, Wien

Warum fahren Sie bei der Gaza-Flotte mit, Herr Leo Gabriel?

Aus dem FALTER 26/11

Telefonkolumne

Zehn Österreicher befinden sich an Bord der zweiten Gaza-Flottille, die diese Woche von verschiedenen europäischen Häfen ablegen soll. Einen davon, den Autor und Linksaktivisten Leo Gabriel, erreichte der Falter in der Metro von Athen.

Herr Gabriel, wann legt Ihr Schiff ab?

Das kommt auf viele Faktoren an. Im Augenblick geht es wegen des griechischen Generalstreiks darum, wann die Schiffe auslaufen können. Aber es wird im Laufe dieser Woche sein.

Wie viele Personen sind an Bord?

Auf dem großen Schiff sind ungefähr 70, auf dem Cargoboot 20. Wo ich sein werde, weiß ich nicht.

Fürchten Sie sich? 2010 starben neun Aktivisten, als israelische Streitkräfte die Gaza-Flotte beschossen. Heute nennt Österreichs Außenministerium die Aktion „lebensgefährlich“.

Das Ministerium tut, als handle es sich um eine Naturkatastrophe. Was wir fürchten, sind israelische Menschenrechtsverletzungen. Spindelegger sollte also besser bei der israelischen Regierung protestieren, statt uns zu sagen: Das ist gefährlich.

Laut Kritikern lassen gerade Aktionen wie diese den Konflikt eskalieren.

Wir sind eine unbewaffnete Friedensbewegung, die ausdrücken will, dass die Gaza-Blockade ungerechtfertigt ist. Dies als Provokation aufzufassen und – wie im Vorjahr – mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, ist böse politische Absicht.

Machen Sie sich nicht auch zum Komplizen eines Islamistenregimes?

Parlamentsabgeordnete und Schriftsteller sind an Bord, Islamisten habe ich dagegen noch keinen gesehen. Mit der Hamas habe ich keinen Kontakt.

Ägypten nach Mubarak beginnt ohnehin allmählich, die Gaza-Grenze zu öffnen.

Ein Nadelöhr wurde geöffnet, mehr nicht. Der Personenverkehr läuft schleppend, der Güterverkehr überhaupt nicht. Und: Die aktuellen Veränderungen wurden nur durch einen Regimewechsel möglich – weil in Kairo eine Bewegung auf die Straße ging, wie auch die unsrige eine ist.

Interview: Joseph Gepp

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Sami und Europa

Aus dem FALTER, 21/2011

24.000 tunesische Auswanderer haben eine Debatte über Europas offene Schengengrenzen entfacht. Sami Adel ist einer von ihnen. Wie Wirtschaftsmigranten zum Spielball europäischer Spitzenpolitik werden

Reportage und Fotos: Joseph Gepp / Ventimiglia

Sami Adel und andere Tunesier vor dem Bahnhof von Ventimiglia

Das Einzige, was Sami Adel neben der Kleidung am Körper und einigen Dokumenten noch besitzt, ist sein Handy. Telefonieren kann er damit zwar nicht, dazu fehlt ihm das Geld für Guthaben. Doch hinter den abgegriffenen Tasten und dem zerkratzten Display des Nokia verbirgt sich alles, was für sein Leben wichtig ist. Ein paar französische Rap-Songs, die Sami gern hört. Fotos seiner Schwestern und Brüder. Einige Textnachrichten. Ein verwackeltes Video, das ihn inmitten einer Menschenmenge zeigt, auf dem Deck eines Fischkutters von Afrika nach Europa.

Sami Adel*, 22, dunkle Haut, dunkle Haare, ein Gesicht wie ein Teenager, ist vom südtunesischen Gabés ins norditalienische Ventimiglia gekommen. Jeden Morgen steigt er hier zusammen mit 150 anderen Tunesiern aus einem Bus. Jeden Abend holt sie derselbe Bus wieder ab und bringt sie zur Nachtruhe in ein nahes Rotkreuz-Lager. Dazwischen vergeht Samis Tag.

Auf dem Schiffsdeck: Handyvideo von der Überfahrt

Immer beobachtet von Polizeistreifen, sitzen die Tunesier von Ventimiglia am Rand des leeren Springbrunnens, der den Bahnhofsvorplatz ziert. Sie dösen auf Pappkartons im Gebäudeinneren, die Köpfe auf kleine Rucksäcke gestützt. Sie borgen sich Zigaretten, schauen ins Leere, führen Gespräche ohne Anfang und Ende. Manchmal gehen sie ein wenig durch die Stadt, aber weil sie kein Geld haben, führen die Spaziergänge nicht weit. Es sind ausschließlich Männer, 19 bis 29, neben der arabischen Muttersprache sprechen sie allesamt Französisch, manche Italienisch, manche Englisch. Arbeiten dürfen sie ebenso wenig wie sich untertags im Rotkreuz-Lager aufhalten. Was sie essen, kommt vom Lager. „So“, sagt Sami Adel, „habe ich mir Europa nicht vorgestellt.“

Vom Rand in die Mitte Europas

Dies ist eine Migrationsgeschichte, aber nicht von dort, wo solche Geschichten sonst spielen. Nicht von der Felseninsel Lampedusa, von der spanischen Stadt Ceuta auf afrikanischem Boden oder der hochgerüsteten EU-Außengrenze zwischen der Slowakei und Ukraine. Nicht von jenen Vorposten und Randgebieten, wo sich der Kontinent gegen seine Nachbarn schützt.

Die Kleinstadt Ventimiglia liegt mitten in Europa, einen Steinwurf von der französischen Côte d’Azur entfernt. Eigentlich wollte die EU Probleme von der Art, die Ventimiglia jetzt hat, an ihren Rändern lösen, in Lampedusa oder an der ukrainischen Grenze. Aber das System, wie es sich die Union ausgemalt hat, mit Freiheit im Inneren und strikter Abgrenzung nach außen, funktioniert so nicht mehr. Die Probleme sind ins Herz Europas gerückt.

Ventimiglias Stärke ist eigentlich der Sommertourismus. Schon Mitte Mai aalen sich Urlauber in den besonnten Gastgärten der Strandpromenade. Vespas knattern über die elegante Via Roma. Einige Dutzend Kilometer westlich von hier enden gerade die Filmfestspiele von Cannes. Sami Adel und die anderen Gestrandeten sitzen in einer anderen Welt. Sie können weder nach vorne noch zurück, obwohl sie Visa für ganz Europa in ihren Taschen tragen.

„Wir hatten ja nichts zu verlieren“

In einem schmutzigen Seitentrakt des Bahnhofs

Samis Geschichte beginnt im März 2011. Acht Wochen zuvor hat in Tunesien der arabische Frühling, die große Revolutionswelle begonnen. Nun herrscht Chaos. Die Wirtschaft stockt, Touristen bleiben weg, Hunderttausende kommen aus dem umkämpften Libyen ins Nachbarland. Schon vor zwei Monaten hat Sami seinen Job als Souvenirverkäufer in der Stadt Sousse verloren. „Ich hatte nichts mehr“, sagt er, „wie wir alle hier.“ Rund um ihn, in einem schmutzigen Seitentrakt des Bahnhofs von Ventimiglia, nicken ein einstiger Supermarktangestellter, ein Elektriker, ein Kellner und der Türsteher einer Touristendiskothek. Alle waren sie arbeitslos geworden, alle wollten sie ein neues Glück versuchen. „Wir wussten, dass die Überfahrt gefährlich und das Leben in Europa nicht einfach ist. Aber wir hatten ja nichts zu verlieren.“

In diesen Tagen öffnet sich für die Tunesier ein Zeitfenster. Die Behörden können die Küsten des Landes nicht mehr überwachen. Samis Familie kratzt 1500 Euro für die Überfahrt zusammen. Am 22. März bricht er gemeinsam mit einem Freund von der Stadt Zarzis auf. 230 Menschen befinden sich an Bord des Fischkutters. Nach einem Tag und 21 Stunden ankern sie vor der italienischen Insel Lampedusa.

Tunesier vor dem Bahnhof

24.000 Tunesier wie Sami Adel erreichen in diesen Tagen die Insel. In Europa erregt der „menschliche Tsunami“, wie Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi sagt, weit mehr Sorge als die Tatsache, dass einige der klapprigen Kutter kentern und rund 600 Menschen im Meer ertrinken oder auf seiner Oberfläche verdursten. Als Sami europäischen Boden betritt, treffen sich Europas Politiker schon zu Krisensitzungen. Zwar wäre es ihnen möglich, die Tunesier zurückzuschicken, weil es sich bei ihnen großteils nicht um Flüchtlinge handelt, sondern um irreguläre Einwanderer: Weder flohen sie aus Lebensgefahr noch baten sie in Italien um Asyl. Aber das Zielland muss einer Abschiebung zustimmen – und das krisengeschüttelte Tunesien wollte die eigenen Leute nicht mehr. Berlusconi forderte daraufhin von Resteuropa die Aufnahme von Tunesiern. Doch auch dieses legte sich quer. Also machte der Premier am 16. April unter großem Protest Europas eine Drohung wahr: Er gab den Einwanderern Sondervisa. Wie Touristen können sie sich mit den Aufenthaltsgenehmigungen bis zu sechs Monate frei bewegen, in allen 25 Ländern des Schengen-Raums.

Zwei Tage darauf bekommt Sami sein Visum. Es ist ein rotes Heftchen mit Foto, das wie ein Reisepass aussieht. Wie die meisten tunesischen Migranten möchte er damit nach Frankreich weiterreisen, nach Lyon, wo ein Onkel lebt. „Der will mich zwar gar nicht sehen“, sagt Sami, „aber er ist der Einzige, den ich in Europa kenne.“

Im eigenen Interesse unterstützt Italien seinen Wunsch nach Weiterreise. Von Lampedusa aufs süditalienische Festland gebracht, darf sich Sami eine Zugfahrt innerhalb Italiens auf Staatskosten aussuchen. Wie viele andere wählt er als Ziel Ventimiglia, die letzte Stadt vor Frankreich. Dann muss er nur noch rüber. Wenn Frankreich die Migranten nicht nimmt, kommen die Migranten eben von selbst, so stellt sich Silvio Berlusconi das vor.

Für spätentschlossene Tunesier, die erst jetzt den Aufbruch nach Europa wagen, ist inzwischen die Chance vertan. Elf Tage nach Samis Ankunft in Lampedusa, am 6. April, hat Italien mit Tunesien ein Abkommen geschlossen. Die Italiener zahlen 150 Millionen Euro Finanzhilfe. Die Tunesier nehmen dafür alle irregulären Einwanderer zurück, außerdem wird die Küste besser überwacht. Doch Sami braucht das nicht mehr zu kümmern.

Plötzlich gilt das Visum nicht mehr

Er hat es bis kurz vor Frankreich geschafft. Und er bekommt ein Schengen-Visum. Nur gilt es plötzlich nicht mehr.

Schwer bewacht von der Polizei: Das Rote Kreuz bringt Essenspakete zum Bahnhof von Ventimiglia

Am 17. April – tags zuvor begann Italien mit der Visumverteilung – lässt Frankreichs Präsident Sarkozy Zugverbindungen nach Italien einstellen. Polizeisondereinheiten marschieren in Grenzorten auf. Zum ersten Mal seit 1997, als Frankreich und Italien das Schengen-Abkommen implementierten, schließen die Grenzen. Silvio Berlusconi handelte willkürlich, als er illegalen Einwanderern Visa gab. Nicolas Sarkozy handelt nun willkürlich, indem er Schengen aussetzt. Beiden bietet die Hysterie um die Affäre einen willkommenen Anlass, um von den internen Schwierigkeiten ihrer Länder abzulenken.

Mittendrin hat Sami plötzlich Probleme, die eigentlich an Europas Rändern gelöst hätten werden sollen. Wie an einer verstopften Ader im geeinten Kontinent ballen sich in Ventimiglia und Umgebung tausende Tunesier wie er zusammen, die trotz Visum nicht nach Frankreich reisen dürfen.

Offiziell rechtfertigen Frankreichs Behörden die Maßnahme mit einer Gesetzesklausel, wonach Reisende mindestens 62 Euro an täglichem Lebensunterhalt nachweisen müssen, damit das Schengen-Visum gültig ist. Manchmal stößt sich Frankreich auch am Ausdruck „humanitäre Angelegenheit“ im Dokument – dies dürfe kein Grund für eine Visumvergabe sein. Aufgegriffene Tunesier werden in Zügen und Flugzeugen nach Italien zurückgebracht.

Am 11. Mai versucht Sami Adel von Ventimiglia mit dem Zug ins französische Nizza zu gelangen. Dort angekommen, wartet schon die Polizei am Bahnsteig. Sami wird festgenommen. Er habe die Wahl zwischen freiwilliger Rückkehr nach Italien oder Gefängnis, drohen die Beamten. Sami kennt die Geschichten von der Brutalität französischer Polizisten, die Migranten einander erzählen. Er hat Wunden an Beinen gesehen, die angeblich von Fußtritten stammen. Geld für ein Rückfahrticket hat er nicht. Eingeschüchtert geht Sami 40 Kilometer zu Fuß zurück nach Ventimiglia.

Wegen 24.000 wankt Schengen

Insgesamt sind so viele Tunesier nach Europa gekommen, wie Baden bei Wien Einwohner hat – wenig im Vergleich zu den 400 Millionen Schengen-Europäern. Aber sie treffen auf eine Stimmung, die von Fremdenangst, Sicherheitssorgen und Rechtspopulismus geprägt ist. Dass Europa auf vielerlei Art von der Arbeitskraft der Migranten abhängt – in der Landwirtschaft, in der Gesundheit, am Bau – ist in Vergessenheit geraten. Die irregulären Einwanderer aus Tunesien bringen das Fass zum Überlaufen. Schengen beginnt zu scheitern.

Nachdem Frankreich aufgrund von Berlusconis Visumvergaben die Reisefreiheit ausgesetzt hat, fordern andere Länder für sich dasselbe Recht. Drei Wochen später verkündet Dänemark die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Schweden liefert dem Nachbarn Schützenhilfe. Deutschland erwägt Grenzkontrollen; auch Österreich verweigert Tunesiern am Brenner trotz Visa die Einreise. Schließlich einigen sich die EU-Innenminister auf eine Schengen-Reform bis Juli – neue Grenzkontrollen sollen illegale Einwanderung unterbinden helfen. Ohne Einschränkung der Reisefreiheit sei dies jedoch unmöglich, warnen Kritiker. Flugs bringen 24.000 Tunesier das ins Wanken, was vor kurzem noch als unumstößliche und allseits sichtbare Errungenschaft des vereinten Europa gegolten hat: offene Grenzen. Sami Adels arabischer Frühling ist in einen europäischen Winter umgeschlagen.

Trotz Kontrollen hat es ein Großteil der Tunesier laut der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR nach Frankreich geschafft. Trotz Visa leben sie dort in einer schwammigen Halblegalität. Andere Tunesier sind in Italien geblieben, vor allem in Provinzen nahe Frankreich. Wie Sami versuchen sie immer wieder, über die Grenze zu gelangen, und werden zurückgeschickt.

Sami Adel hat von seinem missglückten Versuch vorerst genug. Er bleibt am Bahnhof von Ventimiglia. Was nach Ablauf des sechsmonatigen Schengen-Visums mit ihm geschehen soll, ist unklar. Italienische Regionalpolitiker wollen sich um Unterkünfte und Beschäftigungen für die Migranten bemühen. 300 Euro habe er bei seiner Ankunft in Europa dabeigehabt, erzählt er. Die Summe sei längst verbraucht. Sami lebt von Zuwendungen des Roten Kreuzes. Nach zwei Monaten in Europa hängt er in der Luft. Auch wenn er sich in Italien im Gegensatz zu Frankreich frei bewegen kann, so fehlt ihm doch das Geld für Bus- und Zugtickets, so sagt er zumindest.

Das Rotkreuz-Lager am Stadtrand

Polizeikontrollen bei Ankunft der Einwanderer

Abends bringt ihn der Bus an den Stadtrand zum Rotkreuz-Lager, einer heruntergekommenen Industriehalle, an deren Wänden in braunen Schlieren Feuchtigkeit herunterrinnt. Wie am Bahnhof steht auch hier überall Polizei. Beamte in Brustpanzern und blauen Plastikhandschuhen empfangen die Einwanderer, durchsuchen die wenigen Rucksäcke peinlich genau auf Drogen und Alkohol. Eine notwendige Maßnahme, sagt eine danebenstehende Rotkreuz-Krankenschwester. Die Bewohner von Ventimiglia hätten Angst vor den Tunesiern, „sie werden schnell aggressiv“. Man könne nicht einmal die Kinder auf die Straße lassen, sagt die Schwester. „Das sind ja alles Kriminelle, die in Tunesien aus den Gefängnissen ausgebrochen sind.“

Dies ist nicht nur eine Migrationsgeschichte, die vom Rand in die Mitte Europas gerückt ist. Es ist auch die Geschichte einer selbsterfüllenden Prophezeiung, die Fremdzuschreibungen ein Stück weit wahr werden lässt, wenn man konsequent nach ihnen handelt. Sami Adel verbringt den ganzen Tag am Bahnhof. Das obdachlose, untätige und bedürftige Leben, mit dem man ihn konfrontiert, ängstigt die Einheimischen. Sollte Sami eines Tages seinen Zustand nicht mehr aushalten, sollte er sich vor Verzweiflung betrinken und zu toben beginnen – dann wird er tatsächlich zu dem Sicherheitsrisiko, das Europa von Anfang an in ihm sah. Dann wird die Polizei, die man ihm ständig zur Seite stellte, von Anfang an gerechtfertigt erschienen sein.

In schwammiger Halblegalität

Aymen und Mohamed im Zug nach Nizza

Es ist der nächste Tag am Bahnhof von Ventimiglia. Obwohl sie schon mehrmals zurückgeschickt wurden, wollen zwei von Samis Freunden erneut versuchen, nach Frankreich zu kommen. Je sechs Euro für die 30-minütige Bahnfahrt nach Nizza konnten Aymen Mafyouzi, 25, und Mohamed Khaled, 24, auftreiben. Sami verabschiedet sich nur flüchtig von ihnen, er rechnet ohnehin mit der unfreiwilligen Rückkehr. Aymen und Mohamed haben ihren ganzen Besitz bei sich – Jacke, Rucksack, Handy, Schengen-Visum. So jung und unbeschwert, wie sie wirken, könnten sie auch zwei Austauschstudenten sein.

Polizei am Bahnsteig von Menton, der ersten Stadt hinter der Grenze

Der Zug fährt los und überquert sogleich die Grenze. Tennisplätze und Villen mit Meerblick ziehen am Fenster vorbei. Der Mistralwind lässt den Himmel so blau schimmern wie das Meer. Am ersten Bahnsteig hinter der Grenze, in Menton, stehen Polizisten mit Gummiknüppeln.

Doch Aymen und Mohamed fahren bis Nizza. Dort steigen sie unbeobachtet aus und gehen durch einen Seitentrakt in die Ankunftshalle des Bahnhofs. Am Haupteingang kontrollieren Polizisten. Aymen und Mohamed schlüpfen unbemerkt durch einen Seiteneingang ins Freie. „Wir haben’s geschafft“, sagt Aymen erleichtert.

Sie wollen jetzt weiter nach Toulon, sagen sie, zu einem Freund. Danach weiter nach Paris, zum Arbeiten. Aymen wedelt mit einem zerknitterten Zettel, Name und Nummer des Freundes in Toulon. Aber vorher, sagt er, müssten sie noch Geld für die Weiterfahrt auftreiben. Vielleicht könnten sie kurzfristig in einem Restaurant arbeiten, sie würden andere Tunesier auf der Straße um Hilfe bitten. Und wo schlafen? „Im Park“, sagt Aymen, „no problem.“

Vielleicht werden sich Aymen und Mohamed tatsächlich nach Paris durchschlagen, um dort illegal zu arbeiten. Oder die Polizei greift sie auf und schickt sie zurück nach Ventimiglia. Zurück zu Sami Adel, zum letzten Bahnhof vor der Grenze.

*) Name von der Redaktion geändert

Aymen und Mohamed in Nizza

„Der einzige Weg, um die Tunesier aufzuhalten, wäre, das
Schengen-Abkommen außer Kraft zu setzen. Ich hoffe, dass es
nicht zu diesem Punkt kommen wird. Das wäre das Ende der EU“

Italiens Innenminister Roberto Maroni (Lega Nord) Mitte April
vor dem römischen Parlament über die bevorstehenden
Visumvergaben an Tunesier. Einige Tage danach schloss
Frankreich die Grenze

Das Abkommen von Schengen geht auf einen Vertrag zurück, den Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten 1985 im Luxemburger Schengen unterzeichneten. Zum Schengen-Raum zählen alle EU-Staaten außer Rumänien, Bulgarien und Zypern sowie die Schweiz, Norwegen und Island. Im Sinn freier Personenbewegungen innerhalb Europas fallen Grenzkontrollen weg. Dafür wird an Außengrenzen streng und einheitlich kontrolliert. Einreisevoraussetzungen aus anderen Ländern sind für alle Schengen-Staaten gleich. Die Polizei kooperiert über das „Schengen-Informationssystem“. Mit dem Schengen-Visum eines Mitglieds genießen Nicht-Schengen-Bürger Reisefreiheit in allen Schengenstaaten. Bei Großereignissen, zuletzt in Österreich etwa bei der Fußball-EM 2008, darf auch an Grenzen innerhalb Schengens kontrolliert werden

Österreich und die Tunesier „Schengen wird in keinster Weise infrage gestellt“, sagt ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Dennoch wurden im Mai am Brenner mindestens zwei Tunesier trotz gültiger Aufenthaltsgenehmigungen nach Italien zurückgeschickt, weil die Reisenden keinen Unterhalt in Österreich nachweisen konnten. Sie waren bei Straßenkontrollen aufgegriffen worden. Damit rechtfertigt Österreich die Abweisung mit demselben Grund wie in vielen Fällen Frankreich – nur wurde dies im österreichischen Fall nicht als Anfang vom Ende von Schengen angesehen. Italien rechnete bei den Visa-vergaben nicht damit, dass andere Staaten die Unterhaltsklausel als rechtliche Hintertür zur Abweisung nutzen könnten

Ein Kommentar

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