Archiv der Kategorie: Stadtleben

Lagerkoller

Aus dem profil 07/2019 vom 10.2.2019

Ballungsräume wachsen, Wohnraum wird knapp – Lagerraum erst recht. Wohin mit den Dingen, die man nicht ständig braucht, aber auch nicht entbehren will? Die boomende Selfstorage-Branche erzählt viel über das Leben in der Stadt.

Von
Joseph Gepp

Es gibt in Großstädten wie Wien grosso modo zwei Arten von Kellern. Da wären zunächst die alten, ziegelsteinernen, oft modrig-feuchten. Und dann jene, auf welche Neubauten aufgesetzt werden: rechtwinkelig, funktional, mit sauber aneinandergereihten, hellen Abteilen.

Bei „MyPlace“ in Wien-Döbling sieht es aus wie in einem Keller des zweiten Typs. Nur befindet man sich nicht unter der Erde, sondern mehrere Stockwerke darüber. Schmucklose Gänge, Halogenlicht, Abteile aus Blechwänden, jeweils mit Vorhängeschloss. Von außen sind diese Gebäude voluminöse, gesichtslose Kästen an vielbefahrenen Straßen. Drinnen säuselt Musik durch die Gänge. „Damit sich die Kunden nicht einsam fühlen beim Ein-und Ausräumen „, sagt Christian Beiglböck, MyPlace-Manager in Wien. Der Standort ist einer von mittlerweile 46 in Österreich , Deutschland und der Schweiz, fünf weitere sind in Bau, drei in Planung. Gegründet wurde MyPlace 1999 vom Wiener Unternehmensberater Martin Gerhardus, kurz nach der Gründung stiegen die Brüder Herbert und Harald Hild in die Betreibergesellschaft Selfstorage – Dein Lager Lagervermietungs GmbH ein (später kam vorübergehend auch die Immofinanz-Gruppe hinzu). Das Geschäft läuft. Die Firma beschäftigt mittlerweile 165 Menschen und schreibt knapp 50 Millionen Euro Umsatz jährlich. Das Geschäftsjahr 2017/2018 schloss mit einem Nettogewinn nach Steuern in der Höhe von 13,3 Millionen Euro, im Jahr davor waren es 11,46 Millionen Euro gewesen und im Jahr davor 11,67 Millionen. MyPlace war der erste Anbieter seiner Art in Österreich, ist aber längst nicht mehr der einzige. Auf dem österreichischen Markt ist eine Reihe von Mitbewerbern entstanden, mit Namen wie „Localstorage“ oder „Extraspace“. Manche bieten wie MyPlace Abteile in Gebäuden an, bei anderen, wie dem Anbieter „Easy Storage“, kann man Container mieten.

Das 2016 gegründete Start-up Storebox zum Beispiel, ebenfalls ein österreichisches Projekt dreier Jungunternehmer, verfügt bereits über rund 25 Filialen in Wien und dem Umland. Im vergangenen Oktober ist die Signa Holding des Tiroler Immobilienmagnaten René Benko bei Storebox eingestiegen; um kolportierte fünf Millionen Euro erwarb Benko 20 Prozent des Unternehmens. Für heimische Start-up-Verhältnisse ein großer Deal. Was Leute einlagern und warum, erzählt viel über die Mobilität der Menschen und deren Lebensweise in den Städten. Mit dem „Phänomen Selfstorage“ befasst sich nun auch eine höchst sehenswerte Ausstellung im Wien-Museum, die am 14. Februar anläuft (im Ausweichquartier in der Felderstraße in der Wiener Innenstadt, weil das Haupthaus am Karlsplatz renoviert wird).

Die Schau fügt sich ins Bild. Rund um die Themen Aufräumen und Ausmisten ist in letzter Zeit eine regelrechte Beratungsindustrie entstanden. Im Internet findet man haufenweise Tipps fürs richtige Aussortieren von Kleiderschrank bis Bücherregal. Ob Wüstenrot-Versicherung, Versandhaus Otto oder Frauenzeitschrift „Brigitte“: Alle bieten Hilfe. Dazu kommt eine viel diskutierte Doku-Serie auf der Streaming-Site Netflix: In „Aufräumen“ hilft die Japanerin Marie Kondō, Bestsellerautorin von Ratgeberbüchern, Leuten beim Ausmisten -mit nachgerade religiöser Hingabe. In andächtiger Langsamkeit sprechen die Protagonisten Abschiedsworte zu den Dingen, ehe sie diese weggeben. Botschaft: Wer seine Wohnung von überflüssigen Sachen befreit, befreit auch seine Seele. Wer sich noch nicht ganz so weit fühlt, kann sich sein Zeug zumindest vorerst vom Hals schaffen, indem er es einlagert. Im Kellerabteil. Oder eben im angemieteten Lager. Drei bis fünf Quadratmeter sind diese gemeinhin groß. Meist mieten sie die Kunden für ungefähr eineinhalb Jahre, sagt MyPlace-Gründer Martin Gerhardus. Kosten für ein durchschnittliches Abteil: grob 100 Euro monatlich, je nach Lage und Auslastung. Was Leute so einlagern?“Im Wesentlichen Hausrat und Dinge, von denen man sich nicht trennen will“, so Gerhardus. „Das können Ski sein, das Kinderbett von der Großmutter, die alte Plattensammlung.“ Gerhardus schätzt, dass der Selfstorage-Markt im deutschsprachigen Raum jedes Jahr um fünf bis sieben Prozent zulegt – wobei die Deutschen noch einlagerungsfreudiger seien als die Österreicher.

Die Gründe für das rasche Wachstum haben nicht nur mit dem Bedürfnis nach Minimalismus à la Marie Kondō zu tun, sondern auch mit handfesteren Entwicklungen: Die Lebensweise der Menschen in großen Städten ändert sich rasant.

Foto: Klaus Pichler/Wien-Museum

Der Raum wird knapper und folglich teurer. In Wien zum Beispiel ist die durchschnittliche Miete inklusive Betriebskosten pro Quadratmeter seit dem Jahr 2007 um beachtliche 37 Prozent gestiegen, auf 7,78 Euro im Jahr 2017. Bei Wohnungseigentum beträgt die Preissteigerung im selben Zeitraum laut Oesterreichischer Nationalbank gar 89 Prozent. Viele Städter müssen deshalb mit kleineren Wohnflächen vorliebnehmen, die weniger Stauraum bieten. Im Jahr 2011 fand im Wohnungswesen der Hauptstadt eine Zeitenwende statt: Erstmals seit einem halben Jahrhundert stieg die durchschnittliche Wohnfläche pro Bewohner nicht mehr an, sondern sank. Derzeit steht sie laut Statistik Austria bei 34 Quadratmetern, 2011 waren es noch 38.

Aus der zunehmenden Knappheit ergeben sich bauliche und gesetzliche Veränderungen. So hat das lukrative Geschäft, Dachgeschosse auszubauen, Lagerflächen unter Dachstühlen stark reduziert. Um mehr leistbaren Wohnraum zu schaffen, nimmt die Stadtregierung auch Veränderungen in der Bauordnung vor, die den Stauraum weiter schmälern. So fiel im Jahr 2008 der Passus, wonach jede Neubauwohnung über einen Abstellraum verfügen muss. Auch auf Kellerabteile darf heute verzichtet werden. Außerdem sind die Städter äußerst mobil unterwegs: Im Jahr 2017 gab es in Wien ganze 366.000 Wohnsitzwechsel -heißt: Jeder fünfte Bewohner der Stadt zog in diesem Jahr um.

Kein Wunder, dass die Selfstorage-Lager boomen – wenngleich nur in Ballungsräumen. Das Stadt-Land-Gefälle ist wenig überraschend stark, im ländlichen Raum ist die Platznot nicht annähernd so ausgeprägt. Elf der 13 österreichischen MyPlace-Lager stehen in Wien, je eines in Graz und in Linz. Wer in die Lagerabteile blickt, wird „ganze Schichten an Erinnerungen übereinander“ entdecken , erzählen Martina Nußbaumer und Peter Stuiber, Kuratorinnen der Ausstellung im Wien Museum. Sie haben recherchiert, wofür genau Menschen ihre Abteile nutzen (siehe Fotos). Sie sind zum Beispiel auf einen Jazz-Musiker gestoßen, der berufsbedingt häufig aus dem Koffer lebt – und Kompositionen und Aufnahmen aus Jahrzehnten im Storage-Abteil bunkert. Oder die Frau, die ihre komplette Familiengeschichte dort verstaut hat: von den Fotos der Großmutter beim Wörther-See-Urlaub in den 1930er-Jahren bis zu den selbst gebastelten Schultüten beim Volksschuleintritt ihrer Kinder, ein halbes Jahrhundert später.

Miranda M., Wienerin, legte sich nach einem Umzug in eine kleinere Wohnung vor einigen Jahren ein Selfstorage-Abteil zu. Darin hat sie ihre Familiengeschichte verstaut: von Fotoalben ihrer Großeltern, die im Jahr 1945 als Deutschsprachige aus Brünn fliehen mussten, bis zu einer Puppe, die sie 1995 ihrer vierjährigen Tochter schenkte.
Foto: Klaus Pichler/Wien-Museum

Weil der Platz in den Städten so bald nicht wieder zunehmen wird, darf man der Selfstorage-Branche auch in Zukunft Zuwächse voraussagen. Die Tendenz geht allerdings weniger in Richtung kastenartige Großlager, wie MyPlace sie betreibt. Sondern eher zu Lagern nach Art der jungen Firma Storebox: Dieses Unternehmen gründet seine Filialen in zuvor leerstehenden Erdgeschosslokalen -und von denen gibt es eine ganze Menge. Die Zahl der Storebox-Filialen, die von außen mit knallbunter Folie beklebt sind, wächst rasant. Nur drei Jahre nach Gründung findet man sie in Wien, St. Pölten, Salzburg, Linz, Mainz, München und Berlin. Nachteil des Geschäftsmodells: Zugepickte Erdgeschosslokale bereichern das Straßenbild nicht gerade. Vorteil: Man ist extrem nahe dran am Kunden. Es ist fast so, als habe man einen eigenen Keller, nur muss man eben bezahlen.

Und was, falls Selfstorage-Benutzer nicht zahlen? Davon handeln in den USA ganze Fernsehserien. Dort hat sich unter den Unternehmern der Branche die Praxis eingebürgert, den Inhalt von Selfstorage- Lagern nach einer Wartefrist zu versteigern. Die Bieter wissen jedoch nicht, was sich im Abteil befindet. Doku-Soaps wie „Storage Wars“ handeln davon, wie glückliche Auktionsteilnehmer auf millionenschwere Schätze stoßen. Oder doch eher auf Gerümpel.

In Österreich erlaubt das Gesetz keine Versteigerungen, sagt MyPlace-Manager Christian Beiglböck. Aber dass Kunden nicht bezahlen, käme trotzdem immer wieder vor. In diesem Fall gibt es mehrere Kontaktaufnahmeversuche und eine 90-tägige Frist. Bleibt alles ergebnislos, wird das Abteil geöffnet. Die darin befindlichen Dinge werden entweder weggeworfen oder, falls sie Wert haben, durch spezialisierte Verwertungsunternehmen verkauft. „Aber so lang ich mich erinnere, war noch nie etwas Wertvolles dabei“, sagt Beiglböck. „Nur Müllsäcke mit Gewand, Bügelbretter, alte Möbel.“

Renata Werdung verfügt über ein Drei- Quadratmeter-Abteil, seit 2009 infolge eines Umzugs der Platz für ihre Kleidung nicht mehr reichte. Sie verwendet es wie einen begehbaren Kleiderschrank. Die Ex-Journalistin und Werbefachfrau besucht gern Veranstaltungen wie die Salzburger Festspiele. Die dazugehörigen Abendkleider hängen im Mietlager.
Foto: Klaus Pichler/Wien-Museum

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Sperrstund’ is!

Aus profil 21/2017

Das legendäre Altwiener Gasthaus „Ubl“ im 4. Bezirk ist in Existenznöten. Der Grund: ein Mietstreit mit einem Unternehmen aus dem Umfeld des Holzkonzerns Schweighofer.

Von Joseph Gepp, Christina Hiptmayr

Kaiserwetter in Wien, die Gastgärten sind voll. Nur in jenem des Traditionsgasthauses „Ubl“ in der Preßgasse in Wien-Wieden herrscht gähnende Leere. Dabei handelt es sich um ein besonders lauschiges Plätzchen mit Rosensträuchern und gusseisernem Zaun drumherum. Der Hauseigentümer ließ den Gastgarten im Mai räumen. „Wir büßen deshalb derzeit rund 70 Prozent unseres Umsatzes ein“, sagt Claudia Messenlehner, die das Altwiener Wirtshaus in dritter Generation führt.

Ob in der Kärntner Straße, auf dem Michaelerplatz oder am Beginn der Favoritenstraße – an einigen der besten Adressen Wiens haben sich in den vergangenen Jahren mehrere finanzstarke Immobiliengesellschaften eingekauft. Deren Hintermänner sind oft dieselben: Gerald Schweighofer, einer der wichtigsten Holzindustriellen Österreichs mit großen Sägewerken in Rumänien, sowie dessen Kompagnon und Geschäftsführer Frank Aigner.

Von einer dieser noblen Adressen kam vergangene Woche eine schlechte Nachricht: Das berühmte Literatencafé „Griensteidl“ am Michaelerplatz nächst der Hofburg sperrt zu. Dem Betreiber, dem börsennotierten Catering-Unternehmen Do&Co, sind die Kosten für die Verlängerung des Mietvertrags in der Schweighofer-Immobilie zu hoch.

Ähnlich gelagert sind Probleme betreffend das Gasthaus „Ubl“. Diese Immobilie gehört der Gefra GmbH, die sich im Eigentum von Schweighofer-Geschäftsführer Aigner befindet.

Dem sei das „Ubl“ ein Dorn im Auge, sagt Eric Agstner, Anwalt von „Ubl“-Wirtin Messenlehner. Der Hintergrund ist eine komplexe Causa. Es geht um verwickelte Eigentums- und Mietverhältnisse, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Jedenfalls argumentiert die Hauseigentümergemeinschaft rund um die Gefra seit 2014, dass das Recht auf Benützung des Gastgartens erloschen sei. „Ubl“-Anwalt Agstner hält dagegen, dass der Hauptmietvertrag für das Gasthaus auch die Nutzung des Gartens umfasse. Der Fall wurde bisher in zwei gerichtlichen Instanzen zugunsten des „Ubl“ entschieden. In der dritten, beim Obersten Gerichtshof, ist das Verfahren noch anhängig.

Die Gefra jedenfalls hat heuer eine Räumungsklage eingebracht, der von einem anderen Gericht, dem Bezirksgericht Innere Stadt, trotz des noch laufenden Verfahrens stattgegeben wurde. Hintergrund: Der formelle Adressat dieser Räumungsklage war nicht das Gasthaus selbst, sondern eine Stiftung, die der ursprüngliche Bauherr des Hauses vor mehr als einem Jahrhundert gegründet hatte – und die bis dahin das Nutzungsrecht innehatte. Solcherart, sagt Anwalt Agstner, habe die Gefra vor Beendigung des Verfahrens vollendete Tatsachen geschaffen. Der Gastgarten ist derzeit mit Vorhängeschlössern und einer einzementierten Eisenstange vom Gasthaus abgetrennt.

profil bat Gefra-Chef Frank Aigner um Stellungnahme, die Antwort kam von Thomas Huemer, Sprecher der Schweighofer-Gruppe. Er weist die Vorwürfe zurück. Der Anwalt des „Ubl“ habe die Klage auf Unzulässigkeit der Räumung selbst zurückgezogen. Man stelle das Gasthaus „Ubl“ überhaupt nicht infrage, so Huemer, habe aber geklagt, weil dessen Betreiber für den Gastgarten – trotz mehrmaliger Gesprächsversuche – keine Miete zahlen wollten. Im Übrigen, schreibt Huemer auch mit Blick auf das „Griensteidl“, bekenne man sich zur „gastronomischen Tradition von Wien als wichtigen Bestandteil des Lebensgefühls dieser Stadt“.

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Frisches Brot für das Viertel

Aus dem FALTER 7/2015

Der Unternehmer Walter Asmus rettete die alte Ankerbrotfabrik in Favoriten und ließ sie als Künstlerquartier wieder aufleben. Porträt von einem, der ein Grätzel verändert hat

Bericht: Joseph Gepp
Foto: Heribert Corn

Wer wissen will, wie die Ankerbrotfabrik noch vor einigen Jahren aussah, braucht nur in ihren alten Silo schauen. „Da gibt‘ s nicht viel zu sehen“, sagt Walter Asmus, als er die Tür aufsperrt. Einst wurde Getreide aus Wiens Umland in diesen Bau gekippt, um zu Brot verarbeitet zu werden. Jetzt steht der ziegelsteinerne Turm schon lange leer. Wo einst Arbeiter schufteten, liegt Gerümpel. Staub und der Geruch von Taubendreck steigen einem in die Nase. Doch der Silo ist das letzte Gebäude hier, in dem es so ausschaut.

Es war 2006, als der Immobilienunternehmer Asmus, heute 64, mit einem Team aus Architekten und Technikern große Teile der historischen Ankerbrotfabrik erwarb. Seither ist am Ostrand von Favoriten, zwischen Call-Shops und Schnitzelhäusern, etwas entstanden, was man hier zuvor nicht gekannt hat: eine Art Künstler-und Sozialgrätzel.

Bis auf den Silo zeigen sich heute die Ziegelfassaden der Fabrik aufpoliert. Moderner Sichtbeton ergänzt alte Gemäuer. 48 Parteien haben sich bislang in die historische Anlage eingekauft. Etwa Filmschulen, Medienakademien, der Galerist Ernst Hilger oder die Firma Lichterloh, Restaurateur antiker Designermöbel. Die Käufer zahlen je nach Ausbaugrad zwischen 1300 und 3600 Euro pro Quadratmeter. Wie einst eilen heute wieder Menschen durch die Höfe, zum Beispiel in ein Café der Caritas.

Ihre moderne Arbeitsstätte war zuvor nahezu ein Jahrhundert die größte Brotfabrik Europas, gegründet 1891. In der Nachkriegszeit galten die Opel-Blitz-Lieferwägen mit dem Anker-Logo als Wiener Wahrzeichen. Doch seit den 1980ern ging es bergab mit dem Betrieb. Anfang der 2000er-Jahre schließlich musste Anker rund die Hälfte seines Geländes an die Banken abtreten, bei denen man verschuldet war.

Schuf ein Künstlerviertel im Zehnten: Walter Asmus (Foto: Heribert Corn)

Schuf ein Künstlerviertel im Zehnten: Walter Asmus (Foto: Heribert Corn)

Die zweite Hälfte der Anlage verblieb zwar bei Anker – dort, gleich nebenan, wird bis heute Brot gebacken –, doch das Schicksal jener historischen Industriehallen, die abgetreten worden waren, schien besiegelt. Sie standen großteils nicht unter Denkmalschutz. Man hätte sie abreißen können, um lukrative Wohnungsneubauten aus dem Boden zu stampfen. „Mit dem Abbruchheft in der Hand“ sei ihm das Gelände angeboten worden, erzählt Asmus. Doch er hatte andere Pläne.

„Ich liebe alte Ziegel“, sagt er. Und er liebe die Freiheit der Kunst. Diesen beiden Leidenschaften ist es zu verdanken, dass das Industrieareal erhalten geblieben ist und eine neue Funktion erhalten hat. Und noch etwas macht Asmus‘ Projekt besonders: In Wien gehen größere städtebauliche Initiativen zumeist von der Gemeinde aus. Dass ein Privater sich vorwagt und ein ganzes Grätzel mit seinem Tun verändert, das ist selten.

Es erfordere „rigorose Selbstbeherrschung“, sagt Asmus. Nicht jeder Kaufinteressierte darf zum Zug kommen, das Areal soll den Charakter als Künstlerquartier beibehalten. „Wir schauen, wen wir nehmen. Es darf nicht nur ums Geld gehen.“ Derzeit etwa sucht Asmus‘ Team einen Käufer für eine alte Maschinenhalle -bevorzugt unter der Voraussetzung, dass der künftige Besitzer auch gleich den Platz vor der Halle bespielt, etwa in Form eines Cafés oder Bistros mit Schanigarten. Das verringert zwar die Zahl der Kaufinteressierten und damit den Profit, sorgt aber dafür, dass „Synergien entstehen und Leute zusammenfinden“. Asmus betritt die sogenannte Expedit-Halle, mit 2200 Quadratmetern die größte auf dem Gelände. Einst wurde hier das fertige Brot verladen, erst auf Pferdewagen, später auf Lkw. Um die Hufe zu schonen, lag in der Halle ursprünglich ein Holzstöckelboden. Später überzog man ihn mit Gussasphalt, weil dieser den Lkw-Reifen besser tat. „Aus diesem Sandwichboden ergibt sich eine einzigartige Akustik“, sagt Asmus. Heute finden in der Expedit-Halle etwa Theateraufführungen statt. Das Publikum kommt aus ganz Wien, „aber immer wieder schauen auch Leute aus der Nachbarschaft bei uns vorbei“. Die Fabrik wird wieder zum Ort im Grätzel, den man kennt.

Asmus, der den Prozess losgetreten hat, begann vor über drei Jahrzehnten als normaler Immobilienentwickler in Wien: Er suchte Gebäude, richtete sie her, verkaufte sie wieder. Bei einem Haus im sechsten Bezirk entdeckte er seine Leidenschaft – und eine Marktlücke in Wien. Im Hinterhof lag eine stillgelegte Manufaktur, die sich bald als das eigentlich Interessante am Gebäude erwies. „Es gibt eine kreative Klientel, die solchen Objekten viel Interesse entgegenbringt“, sagt Asmus, „wegen der großen Flächen, die sie frei gestalten kann“.

Auf das Haus im Sechsten folgte Asmus‘ erste Fabrik, die Meidlinger Stollwerkfabrik. Schließlich stieß er auf die Ankerbrotfabrik, deren Zukunft ungewiss war. Heute gibt sein bisheriges Lebenswerk dem Viertel ein neues Gepräge. Nur im alten Silo riecht es noch nach Staub und Taubendreck.

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Eingeordnet unter Stadtleben, Stadtplanung, Wien

Am Praterstern

Aus dem FALTER 41/2014

Es soll ja Städte geben, in denen alle Bevölkerungsgruppen hübsch voneinander separiert sind, reich neben arm, schwarz neben weiß, und so weiter. In Wien ist das glücklicherweise nicht so. Am allerwenigsten ist es so am Praterstern. Wobei, ob hier auch ein „glücklicherweise“ angebracht ist – schauen Sie am besten selbst hin, liebe Leser.

Am Praterstern mischen sich Bahnhofspendler mit Radfahrern, Radfahrer mit Prater-Joggern, Prater-Jogger mit Partygehern, Partygeher mit Kleinkriminellen und Kleinkriminelle mit Alkoholikern. Dazwischen hält die Polizei notdürftig die allgemeine Ordnung aufrecht.

Besonders skurril wird es in diesen Tagen. Denn nun kommt noch eine neue Gruppe hinzu: die Lederhosen-und Dirndlträger vom nahegelegenen neuen Wiener Oktoberfest. Sturzbetrunken torkeln diese, solcherart verkleidet, über den Platz. Mühevoll versuchen sie, ihre motorischen Fähigkeiten so weit wiederzuerlangen, dass sie Bankomaten bedienen und Pizzastücke vom Bäcker entgegennehmen können.

Ach, Praterstern!

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Eingeordnet unter Kurioses, Prater, Stadtleben

Migration: Zeit für ein Stück vernachlässigte Stadtgeschichte

Aus dem FALTER 36/2014

Bericht: Joseph Gepp

Ende des 19. Jahrhunderts waren es die berühmten „Ziegelböhm“, in der Nachkriegszeit waren es Gastarbeiter aus Jugoslawien und der Türkei, heute schließlich sind es vor allem Einwanderer aus EU-Staaten, zum Beispiel Deutsche und Ungarn: Die Geschichte Wiens besteht – auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen -aus aufeinanderfolgenden Migrationswellen.

Eben diese Geschichte aufzuarbeiten und stärker im städtischen Bewusstsein zu verankern, hat sich ein aktuelles Rathausprojekt vorgenommen. „Migration sammeln“ heißt es; es soll von heuer bis zum Jahr 2016 laufen. Anlass ist das 50-Jahre-Jubiläum des ersten Gastarbeiteranwerbeabkommens Österreichs. „Migration hat Wien entscheidend geprägt“, sagt SPÖ-Stadträtin Sandra Frauenberger, die das Projekt initiiert hat. „Es ist höchste Zeit, das auch entsprechend aufzuarbeiten.“ Immerhin haben in der Stadt, die seit Jahren rapide wächst, ganze 46 Prozent der Bevölkerung irgendeine Art von Migrationshintergrund.

Konkret wird per Ausschreibung eine wissenschaftliche Institution gesucht, die in den kommenden Jahren Objekte findet und ordnet, die die Migrationsgeschichte der Stadt darstellen. Das können etwa Gegenstände und Briefe sein, aber auch Lebensgeschichten von Migranten, die im Rahmen von Oral-History-Projekten aufgezeichnet werden. Die Sammlung wird danach in die Bestände des Wien Museum integriert, das sich mit der Historie der Stadt auseinandersetzt. Ziel: Die Migration soll, so Frauenberger, „in der Wahrnehmung der Städter jenen Rang einnehmen, die ihr gebührt“.

Immerhin sickert die wahre Bedeutung von Entwicklungen oft erst nach Jahrzehnten ins gesellschaftliche Bewusstsein ein. Während etwa die Ziegelböhmen längst Teil des populären Wiener Geschichtsbildes sind, ist die Tatsache, dass die meisten modernen Migranten heutzutage EU-Bürger sind, noch lang nicht im Bewusstsein der Wiener angekommen.

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Eingeordnet unter Migranten, Minderheiten, Stadtgeschichte, Stadtleben

Hans Staud: Ein Unternehmer erwägt die Abwanderung aus Wien

Aus dem FALTER 23/2014

Bericht: Joseph Gepp
Foto: Julia Fuchs

Schon seit über 100 Jahren lebt seine Familie hier, erzählt der bekannte Wiener Marmeladenfabrikant Hans Staud. Er steht in seiner Fertigungshalle, öffnet einen mannshohen Kessel, süßer Marillenduft steigt empor. Hier, in mehreren alten Gebäuden um den Ottakringer Yppenplatz, hat Staud in jahrzehntelanger Arbeit sein kleines Imperium aufgebaut. Doch nun könnte die Geschichte enden.

Staud’s will eine neue, modernere Produktionsstätte errichten -und überlegt, teilweise aus Ottakring fortzuziehen. Denn in Niederösterreich seien einige Dinge einfacher.

Zum Beispiel müsste er in Wien unter dem neuen Produktionsgebäude teure Parkplätze errichten, sagt Staud, dazu kommen etwa komplizierte Auflagen in Sachen Lärmschutz. „Ich hänge an diesem Grätzel“, sagt er, „aber als Kaufmann muss ich auch die wirtschaftlich günstigste Variante bedenken“.

Derzeit laufen Verhandlungen mit der Gemeinde Wien.

Blick in den Marillenkessel: Die Zukunft von Hans Stauds Marmeladenfabrik in Ott akring ist derzeit offen, es geht auch um 40 Arbeitsplätze. Staud überlegt die Abwanderung nach Niederösterreich FOTO: JULIA FUCHS

Blick in den Marillenkessel: Die Zukunft von Hans Stauds Marmeladenfabrik in Ott akring ist derzeit offen, es geht auch um 40 Arbeitsplätze. Staud überlegt die Abwanderung nach Niederösterreich FOTO: JULIA FUCHS

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Eingeordnet unter Stadtleben, Wien, Wirtschaft

Gruft: Eine Sozialeinrichtung mit Tradition wird neu

Aus dem FALTER 31/2014

Bericht: Joseph Gepp
Foto: Julia Fuchs

Dort, wo Rudolf N. jahrelang sein Mittagessen einnahm und Karten spielte, dröhnen heute Bohrmaschinen und liegen halbleere Zementsäcke herum. Rudolf N., 71, geborener Niederösterreicher, ist seit sechs Jahren obdachlos und regelmäßiger Besucher der Gruft, einer Sozialeinrichtung der Caritas unter der Barnabitenkirche in Mariahilf. Doch die Gruft, so wie er sie kennt, gibt es nicht mehr.

Wo jahrelang Obdachlose mit warmen Mahlzeiten und Matratzen versorgt wurden, entsteht bis Anfang September ein größeres und moderneres Nachtquartier aus 30 Stockbetten, erklärt Christof Mitter, 29, Sozialarbeiter in der Gruft. Der Tagesbetrieb ist bereits vergangenen Herbst aus dem Gewölbe unter der Kirche in den Pfarrhof nebenan abgewandert.

Knapp 3,6 Millionen Euro hat der Gesamtumbau laut Caritas gekostet – eine Ausgabe, die hochnotwendig geworden war. Denn die Zahl der Obdachlosen in der Gruft hat sich im vergangenen Jahrzehnt fast verdoppelt.

Wo es früher warme Suppe und Matratzen gab, ist jetzt Baustelle: Der Obdachlose Rudolf N. und der Sozialarbeiter Christof Mitt er in der Gruft ,der wohl traditionsreichsten Sozialeinrichtung Wiens, die derzeit renoviert wird (FOTO: JULIA FUCHS)

Wo es früher warme Suppe und Matratzen gab, ist jetzt Baustelle: Der Obdachlose Rudolf N. und der Sozialarbeiter Christof Mitt er in der Gruft ,der wohl traditionsreichsten Sozialeinrichtung Wiens, die derzeit renoviert wird (FOTO: JULIA FUCHS)

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Eingeordnet unter Soziales, Stadtleben

Die Stadt der Wiener Türken

Aus dem FALTER 21/2014

Jeder zehnte Wiener Türke stammt aus der Kleinstadt Akdağmadeni mitten in Anatolien. Warum?

Reportage & Fotos: Joseph Gepp

Wie schaut sie wohl aus, die Stadt, aus der jeder zehnte Wiener Türke stammt? Wie sieht die Kleinstadt aus, die Wien geprägt und verändert hat wie vielleicht keine zweite – genauso wie umgekehrt?

Der Himmel über Akdağmadeni strahlt wie gekehrt, die Hausfassaden leuchten im Sonnenlicht. Man spürt die 1500 Meter Seehöhe, auf denen man sich hier befindet. Rund um die Stadt, die in einem Tal liegt, lässt die Sonne kahle, braune Hügelhänge schimmern. Unten führt die Hauptstraße, die „Straße der Unabhängigkeit“, zur großen Moschee. Von ihr aus brandet alle paar Stunden der Ruf des Muezzins wie eine Flutwelle durch die Stadt.

An den Straßenecken stehen Männergruppen, rauchen, spielen mit Gebetskettchen. Sie tragen dunkle Sakkos und ausgetretene Halbschuhe, aus denen sie vor den Moscheegängen rasch schlüpfen können. Neugierig und freundlich mustern sie jeden Fremden, der aus dem Bus steigt.

Das ist also Akdağmadeni. Frei übersetzt heißt der Name „Weißkohlenberg“, wegen der Kohlevorkommen der Region und der im Winter weißen Hänge. Akdağmadeni hat 25.000 Einwohner, so viele wie Baden bei Wien. Es liegt in Zentralanatolien, vier Busstunden östlich der Hauptstadt Ankara. Es ist eine Gegend, die seit jeher als bäuerlich, religiös und traditionell gilt. Eine Gegend, die viele verlassen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Vor allem in Wien.

Die Moschee im Zentrum von Akdağmadeni

Die Moschee im Zentrum von Akdağmadeni

Die Geschichte dieser Beziehung begann vor genau 50 Jahren, im Mai 1964. Damals schlossen Österreich und die Türkei ein Anwerbeabkommen. Das boomende Nachkriegsösterreich brauchte Arbeitskräfte; in der Türkei sehnten sich Bauernkinder nach Wohlstand und Perspektive. In Ankara leitete man das Gesuch Österreichs an das Arbeitsamt der Provinzhauptstadt Yozgat nahe Akdağmadeni weiter, weil diese besonders arm war, erzählt Suphi Daştan, Bürgermeister der Kleinstadt. Die Auswanderung aus dem Landstrich dauerte bis in die 1990er. „Leute aus Akdağmadeni haben in Wien Geld verdient und das daheim ihren Freunden und Verwandten erzählt“, sagt Daştan. „Also gingen immer mehr nach Wien.“

„Kettenmigration“ nennen Forscher dieses weltweit auftretende Phänomen, wenn sich Menschen gesammelt auf die Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen machen. Heute stammt jeder zehnte der rund 130.000 Wiener Türken und Kurden aus Akdağmadeni. Jeder dritte ist es gar, bezieht man die umliegende Provinz Yozgat mit ein.

Im Straßenbild jedoch merkt man nichts von dieser speziellen Beziehung. Nur im Sommer füllt sich die Stadt mit Heimaturlaubern, erzählt eine Gruppe am Busbahnhof. Dann schwillt Akdağmadenis Einwohnerzahl von 25.000 auf 60.000 an. Die Heimkehrer decken sich mit billiger Kleidung ein, etwa für Hochzeiten. Sie verstopfen die Unabhängigkeitsstraße mit ihren Autos mit österreichischen Kennzeichen. Abseits der Saison jedoch geht das kleinstädtische Leben seinen gewohnten, ruhigen Gang.

In den Geschäften gibt es alles, was der Typ Mensch braucht, der noch vieles selbst kocht und baut. Blecherne Ofenrohre etwa und Draht aller Stärken, auf Spulen feilgeboten. Trockenmarillen und Reiskörner liegen sackweise bereit, man misst ihr Gewicht auf altertümlichen Waagen. Ein Hotel? Gebe es in der Nebensaison keines, sagt die hilfsbereite Gruppe am Busbahnhof. Aber man könne das hiesige staatliche Heim für Lehrer empfehlen. Die Regierung betreibt solche Einrichtungen, um den Abgesandten der kemalistischen Staatsideologie das Provinzleben angenehm zu machen. Die Lehrer, die hier residieren, sollen Republikstreue und Laizismus verbreiten; es sind altmodische Männer mit Strickgilets und goldenen Brillenkettchen. Im Erdgeschoß des Heims steht eine Büste des Staatsgründers Kemal Atatürk, inmitten ihres Blumenschmucks wirkt sie wie ein Schrein.

Akdağmadeni präsentiert sich als gastfreundliche und gesellige, aber auch als konservative und strikt geregelte Welt. Frauen ohne Kopftuch sieht man kaum, anders als in türkischen Großstädten. Sie besuchen ausschließlich die Baklavakonditoreien von Akdağmadeni, während die rauchschwangeren Teestuben den Männern vorbehalten sind. Bürgermeister Suphi Daştan gehört der konservativ-islamistischen AKP des umstrittenen Premiers Recep Tayyip Erdoğan an. Seine Partei feiert nirgendwo in der Türkei solche Erfolge wie hier. Der Bürgermeister thront im Rathaus von Akdağmadeni in einem mächtigen, holzvertäfelten Büro. Jedes Jahr, sagt er, reise er nach Wien und treffe Türken aus Akdağmadeni. Er kenne auch österreichische Politiker, sagt er, zum Beispiel Außenminister Sebastian Kurz. Hinter Daştan blicken Atatürk und sein moderner Gegenspieler Erdoğan ehrfurchtgebietend von der Wand. Wenn Daştan auf seinem Schreibtisch einen Knopf drückt, huscht eine Sekretärin herein und bringt Schwarztee in Tulpengläsern. Die konservative türkische Provinzelite zelebriert ihre Macht ausgiebig.

Machtbewusster Lokalpolitiker einer neuerdings aufstrebenden       Provinz: Suphi Daştan, AKP-Bürgermeister von Akdağmadeni

Machtbewusster Lokalpolitiker einer neuerdings aufstrebenden
Provinz: Suphi Daştan, AKP-Bürgermeister von Akdağmadeni

Daştan erzählt von denen, die nach Wien gezogen sind. Ihre Geschichten würden einander gleichen. Immer handeln sie von Männern, die ohne Frauen und Kinder gingen. Immer planten sie die baldige Rückkehr, sobald sie in Wien genug Geld verdient hätten. Immer schwankten die Auswanderer jahrelang qualvoll zwischen alter und neuer Heimat. Es peinigte sie zwar das Gefühl der Fremde – aber sie wussten, dass sie zu Hause nur Armut und Chancenlosigkeit erwartete. Viele Migranten entschieden sich am Ende für Wien und holten ihre Familien nach. Es gibt aber auch jene, die zurückgekommen sind. So wie Hüseyin Akol.

Akol, 48, ist Traktorhändler.
Sein Geschäft liegt am Ende der Unabhängigkeitsstraße, dort, wo sich Akdağmadeni in den schimmernden Hängen verliert. Es war das Jahr 1985, als er nach Wien ging, erzählt er. Ein Teenager, das Kind einer Bauernfamilie. Akol schuftete 13 Jahre lang, oft sieben Tage pro Woche. Wochentags auf der Baustelle, am Wochenende im Pfusch bei Privatleuten. Er pflügte Beete und verlegte Fliesen. Dann, 1998, kam Akol zurück. Mit einer halben Million Schilling Erspartem eröffnete er sein Geschäft. „Wien war gut. Das Geld war gut. Aber das Heimweh war zu stark.“ Das habe Akol seiner Frau und seinen vier Kindern nicht antun wollen.

Hüseyin Akol sparte in Wien und eröffnete dann in Akdağmadeni sein Geschäft für türkische Tümosan-Traktoren

Hüseyin Akol sparte in Wien und eröffnete dann in Akdağmadeni sein Geschäft für türkische Tümosan-Traktoren

Damals, in den 1980er-Jahren, wohnte er im dritten Bezirk nahe des Gürtels. Jedes Jahr reiste er zweimal mit dem Bus nach Akdağmadeni, zwei Tage und zwei Nächte lang: Abreise vom alten Südbahnhof, Belgrad, Sofia, Umsteigen in Istanbul. Akol erinnert sich noch, wie verregnete Landschaften endlos am Busfenster vorbeizogen.

Rund 1000 Bürger von Akdağmadeni
sind bisher wie Akol zurückgekehrt, sagt Bürgermeister Daştan. Es sind neben einigen Unternehmern vor allem Pensionisten. Sie kehren an einen Ort zurück, der sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewandelt hat – Akdağmadeni ist heute kein Ort der Hoffnungslosigkeit mehr.

In mehreren Textilfabriken entsteht Kleidung für H&M und C&A; zudem wurden in den vergangenen Jahren im Umland ein Thermalbad und die größte Skipiste der Türkei eröffnet. Akdağmadeni profitiert von einem Boom in Anatolien, den eine vielzitierte Studie der NGO European Stability Initiative im Jahr 2005 dem sogenannten „islamischen Calvinismus“ zuschrieb. Die These: So wie einst Europas Protestanten in gottgefälliger Arbeit den Kapitalismus schufen, sorgen heute konservative Muslime für einen Boom im zuvor rückständigen Anatolien. 2005 klang dieser Befund noch euphorisch, heute hat sich die Freude ob Erdoğans autoritärer Tendenzen gelegt. Dennoch – es scheint, als schwinge das Pendel zurück: Nicht die neue Heimat Österreich bietet den Arbeitern heute Chancen, sondern eher die alte Türkei.

Bei jenen aus Akdağmadeni, die fix in Wien geblieben sind, erlebe er bei seinen Besuchen „viel Unzufriedenheit“, sagt Bürgermeister Daştan. Die Leute würden nichts mehr sparen können heutzutage. Es bleibe eben nicht viel, wenn man 1400 Euro verdient und davon allein 700 Miete bezahlt.

Ein Betroffener ist Hüseyin Duman,
42*). Der Mann mit Goldkettchen und offenem Hemdkragen sieht aus, als wäre er in den 1980er-Jahren steckengeblieben – und ein bisschen ist so auch sein Schicksal: Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten arbeitet Duman als Bauarbeiter am Flughafen Wien, „und im zweiten habe ich nichts mehr sparen können“. Dumans Familie lebt noch immer in Akdağmadeni – eine Ausnahme heutzutage, denn längst haben die meisten eine Entscheidung getroffen. Duman spielt in einer Teestube Tavla, eine Art Backgammon. Wenn ihm sein Arbeitgeber in Wien Urlaub gewähre, sagt er, reise er heim. Nicht nur wegen der Familie – er tue sich auch schwer „mit der europäischen Kultur“. Zum Beispiel wohnt Duman seit 15 Jahren in derselben Wohnung im fünften Bezirk und kennt seinen Nachbarn nicht.

Die meisten Türken aus Akdağmadeni haben in Wien längst Wurzeln geschlagen, sagt Duman. Sie kommen im Sommer mit ihren Autos mit österreichischem Kennzeichen. Sie haben längst Kinder, die Deutsch sprechen, in Österreich arbeiten oder studieren. Andere, wie Duman, haben weniger Fuß gefasst. „Spätestens nach meiner Pensionierung kehre ich heim“, sagt er. Und, wer weiß, vielleicht ergibt es sich auch früher.

*) Name von der Redaktion geändert

Im Stadtzentrum on Akdağmadeni

Im Stadtzentrum on Akdağmadeni

ZUSATZ-INFOS:

Wo Österreichs Türken herkommen
Akdağmadeni ist das größte Beispiel, aber kein Einzelfall: Österreichs türkisch- stämmige Bevölkerung kommt laut der Tageszeitung Zaman und Migrantenorganisationen vornehmlich aus einigen wenigen Orten:
Burdur (nach Wien)
Uşak (nach Kufstein)
Sorgun (nach Wien)
Akdağmadeni (nach Wien)
Samsun (nach Wien)
Bingöl (nach Wels)
Ordu (nach Salzburg)
Çarşamba (nach Wien)

Zu 50 Jahren Anwerbeabkommen
Die Initiative Minderheiten plakatiert Originalzitate aus Zeitungsartikeln und Presseaussendungen, die sich in den 1960er-Jahren mit Gastarbeitern auseinandersetzten

Das Projekt „Generationenpfade“ präsentiert Interviews und Porträts türkischer Migranten mehrerer Generationen. Derzeit zu sehen in Ankara, ab Herbst in Österreich

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Was spricht gegen Winter-Schanigärten, Frau Brauner?

Aus dem FALTER 13/2014

INTERVIEW: JOSEPH GEPP

Ob Grüne, ÖVP, FPÖ oder Wiens Gastronomen: Fast alle halten Schanigärten im Winter für eine gute Sache. Bisher jedoch sind sie von November bis März verboten – woran die SPÖ auch festhalten will. Doch was spricht dagegen, die Regelung zu ändern? Das fragte der Falter die zuständige SPÖ-Vizebürgermeisterin Renate Brauner.

Frau Brauner, alle außer der SPÖ sind gegen die Wintersperre bei Schanigärten. Warum ziehen Sie nicht mit?

Renate Brauner (Wikipedia)

Renate Brauner (Wikipedia)

Ganz so schwarz-weiß ist die Welt nicht: Die neue Reform ist erst seit der letzten Saison in Kraft. Die haben wir gemeinsam mit dem grünen Koalitionspartner und der Wirtschaftskammer im Jahr 2012 ausgearbeitet. Am Ende kam ein Zonenmodell raus, in dem Schanigärten je nach Attraktivität der Lage unterschiedlich viel kosten. Und es ist flexibler: Früher musste man immer für eine ganze Saison bezahlen, jetzt ist es auch monatlich möglich. Wir haben vereinbart, dass wir uns die Sache anschauen und dann eine Evaluierung machen.

Aber was spricht dagegen, die Schanigärten einfach ganzjährig zu öffnen?

Es gab viele Einwände von Umweltschützern wegen der Heizschwammerln. Ich bin ja keine Grüne, sondern eine Rote – aber bei der Energieverschwendung von Heizschwammerln drückt es mich schon ein wenig. Dazu gibt es Dinge, die für das Funktionieren einer Stadt einfach wichtig sind – Schneeräumungen und Anrainerinteressen zum Beispiel. Deswegen unser Ergebnis: Prüfen wir einmal, wie dieses Modell funktioniert.

Und wann sind Sie bereit, über eine Reform der Reform zu reden?

Jetzt wollen wir einmal erfahren: Welche Wünsche gibt es noch? Was sagen Interessengruppen? Die Stadt ist ja ein öffentlicher Raum, in dem auf viele Interessen Rücksicht genommen werden sollte. Wir bemühen uns, Konsens anzustreben, statt auf Wickel aus zu sein. Auf jeden Fall werden wir in dieser Saison einmal evaluieren, ob dieses System gut läuft oder nicht. Dann sehen wir weiter.

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Gegen den Klimawandel: Schafft ein, zwei, viele Alt-Wiener Vorhänge!

Aus dem FALTER 13/2014

Glosse: Joseph Gepp

Eine verantwortungsvolle Stadtzeitung wie der Falter achtet stets darauf, welche Wiener Besonderheit das Potenzial hat, der Welt in der schwierigen Zeit des Klimawandels weiterzuhelfen. Und hier sind wir kürzlich auf etwas Brauchbares gestoßen: den Alt-Wiener Windschutzvorhang.

Den Windschutzvorhang findet man in Kaffeehäusern, wo er hinter der Eingangstür ein Halbrund beschreibt. Wind und Kälte bleiben draußen, Zigarettenrauch bleibt drinnen. Dort bewirkt er auch eine angenehme Ritterburg-Atmosphäre. Eine Abart des Vorhangs findet sich auch in Straßenbahnen, wo er als schwerer Lederlappen Fahrer von Fahrgästen trennt.

Wie viel Energie könnte man sparen, würde man den Vorhang einfach allen Bürgern gesetzlich vorschreiben. Also, EU oder sonst wer: Baut keine Mauern – spannt Vorhänge!

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