Archiv der Kategorie: Migranten

Halal, aber richtig

Aus profil 42/2016

Hunderttausende österreichische Muslime kaufen ihr Fleisch „halal“, also den Speisevorschriften des Islam entsprechend. Doch Supermarktketten werden angefeindet, Missbrauch und Schlampereien grassieren, Standards sind unterschiedlich. Einblicke in ein schwieriges Millionengeschäft.

Von Joseph Gepp und Ulvi Karagedik (Religionswissenschafter und Universitätsassistent im Bereich der islamischen Religionspädagogik der Uni Wien)

Wien, ein türkisches Restaurant im 16. Bezirk, Ottakring, unweit des Brunnenmarkts. Eine Tafel mit Fotos von Speisen macht Appetit auf Kebab und Köfte. Ein Siegel daneben preist alle Gerichte als „halal“ an, also den islamischen Speisevorschriften entsprechend. Fragt man allerdings beim Kellner nach, zeigt sich ein anderes Bild.

Einen Teil des Fleisches kaufe man ganz konventionell bei der Supermarktkette Spar ein, erzählt er vertrauensselig. Nur der Rest stamme aus einer halalzertifizierten Schlachterei. Damit könne man kritischen Kunden auf Nachfrage eine Rechnung vorweisen. Und das Siegel? Halalfleisch lasse sich eben teurer verkaufen als herkömmliches, antwortet der Kellner freimütig. So streng gehe es nun auch wieder nicht.

„Halal“ bedeutet „legitim“ oder „zulässig“ im Arabischen (das Gegenteil wäre „haram“,“verboten“). Das kann sich im Islam auf viele Belange des Alltags beziehen. Doch im Allgemeinen denkt man bei „halal“ an Lebensmittel, vor allem an Fleisch. Diesbezüglich ist ein großer weltweiter Markt entstanden.

Auch in Österreich sei der Markt für Halal-Produkte „stark steigend“, sagt Günther Rusznak, Präsident des Islamischen Informations-und Dokumentationszentrums (IIDZ), eine der wichtigsten zertifizierenden Organisationen. Immer mehr der 600.000 Muslime in Österreich, sieben Prozent der Bevölkerung, legen Wert auf den religionskonformen Konsum. Sie geben jährlich rund 110 Millionen Euro für Fleisch-und Wurstwaren im Einzelhandel aus. In der -ansonsten eher gesättigten -Lebensmittelbranche stellen Halal-Produkte somit einen Wachstumsträger dar.

Doch es gibt Probleme. Kritiker sprechen von massenhaften Schlampereien und Betrügereien. Allseits anerkannte Standards, die Halal-Lebensmittel erfüllen sollen, existieren nicht. Folge: ein Wildwuchs an Siegeln, Regeln, Auslegungen. Halal-Produkte sind zwar durchwegs teurer als herkömmliche -doch was wirklich dahintersteckt, bleibt oft ungewiss. So erzählt ein Ex-Mitarbeiter eines halalzertifizierten Schlachthofes nahe Wien unter der Zusicherung der Anonymität: „Es ist ganz normal, dass die Maschinen nach der Verarbeitung von Schweinefleisch nicht gereinigt werden, bevor Halal-Fleisch produziert wird.“ Schweinefleischrückstände im Halal-Produkt? Das ist eigentlich absolut haram – kommt aber offenbar vor.

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Nicht einfacher wird die Causa dadurch, dass das Halal-Geschäft vorwiegend von einer Vielzahl kleiner, migrantisch geprägter Geschäfte und Gaststätten betrieben wird -statt von großen Supermärkten, die leichter zu kontrollieren wären. Doch die Ketten trauen sich bisher kaum einzusteigen. Nachdem im Jahr 2013 die Rewe-Gruppe in ihren Merkur-Märkten Halalfleisch anzubieten begann, ergoss sich im Internet eine Welle des islamfeindlichen Hasses über den Konzern. Die Spar-Kette kapitulierte 2015 gar vor dem Shitstorm; sie entfernte ihre Halal-Waren wieder aus 25 Wiener Filialen.

Zu den bekannteren Firmen, die heute Halal-Produkte anbieten, zählen austro-türkische Supermärkte wie Etsan, Hizmet und ER&ER. Die dahinterstehenden Zertifikate stellen vor allem zwei Organisationen aus: die Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) und -deutlich teurer -das Islamische Informations-und Dokumentationszentrum (IIDZ). Die Preise für die Zertifizierung schwanken von wenigen 100 bis 10.000 Euro pro Jahr.

Zusätzlich bemerkt man an zahlreichen Läden und Imbissständen andere, oft nicht zuordenbare Halal-Zertifikate – quasi Marke Eigenbau. Auf profil-Frage verweigern die Inhaber von rund einem Dutzend solcher Lokale, den Halal-Nachweis herzuzeigen. Der Verdacht liegt nahe, dass sie sich einfach ohne jede Grundlage beliebige Siegel verpassen. Es gibt kein Gesetz, das dies verbietet. Grundsätzlich kann jeder sich selbst (oder anderen) die Halal-Konformität bescheinigen.

Solche Probleme liegen nicht allein am mangelnden Konsumentenbewusstein, sondern wurzeln auch in einer tieferliegenden Ursache: Ein wesentlicher Bestandteil der Halal-Lehre ist das klassisch-theologische Konzept der Schächtung ohne betäubenden Bolzenschuss – und dieses darf in Österreich gesetzlich nicht praktiziert werden. Also sucht man nach Rechtsgutachten, die mit der heimischen Rechtsprechung vereinbar sind. Sie beziehen sich auf Textstellen im Koran – doch diese werden von verschiedenen islamischen Rechtsschulen und Denkern unterschiedlich interpretiert, je nach Gesinnung. Händler und Zertifizierer schließen sich der Auslegung an, die ihnen am besten passt.

Im Vers 3 der fünften Sure des Koran ist der Konsum von Schweinefleisch und Alkohol verboten, dazu der Verzehr „von verendeten Tieren und Blut“. Weiters heißt es in Sure 6, Vers 121: „Und eßt kein Fleisch, worüber (beim Schlachten) der Name Allahs nicht ausgesprochen worden ist!“ Ähnliche Regeln (außer Alkoholund Schweinefleischverbot) finden sich übrigens auch im christlichen Neuen Testament , wiewohl nicht praktiziert.

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Doch wie sind sie im Islam zu verstehen? Für die sogenannte schafiitische Rechtsschule reicht es etwa, vor dem Verzehr die Formel „Bismillah“ („Im Namen Gottes“) auszusprechen. Andere sind rigoroser: Viele Rechtsgelehrte betrachten die rituelle Schächtung des Tieres ohne Betäubung als zwingend erforderlich. Tiere dürfen auf keine andere Weise als durch den Schächtungsschnitt sterben, argumentieren sie, um dem Verbot des Verzehrs von Blut Rechnung zu tragen. Aus Tierschutz-Perspektive ist die Schächtung (die auch im Judentum praktiziert wird) umstritten: Gegner sprechen von größerem Tierleid; Befürworter orten bei der Methode, richtig angewendet, weniger Schmerzen als etwa bei der modernen Bolzenschussmethode.

Als würden derlei unterschiedliche Auslegungen nicht schon genug Verwirrung stiften, sind auch die nationalen Gesetzgebungen in Europa völlig unterschiedlich. Das traditionelle Schächten ist etwa in Frankreich, Belgien und Großbritannien erlaubt, in Österreich und Deutschland nicht.

Das spiegelt sich auch in den Halal-Zertifikaten wider. In Österreich gilt Fleisch auch dann als halal, wenn das Tier mit Bolzenschuss geschächtet wurde. IGGÖ und IIDZ gestatten dies, weil den Organisationen aufgrund der Rechtslage gar nichts anderes übrig bleibt. Ist ein gläubiger Muslim damit nicht einverstanden, muss er auf Importfleisch zurückgreifen , dessen Herkunft und Qualität mitunter fragwürdig sind. Einige austro-türkische Fleischproduzenten lassen Tiere deshalb in Ungarn traditionell schächten und importieren deren Fleisch danach nach Österreich.

Das Problem: Die meisten Konsumenten sind sich derartiger Feinheiten nicht bewusst. Sie sehen nur das Siegel und zahlen für Halal-Produkte bereitwillig mehr Geld. Dass je nach Staat und religiöser Auslegung unterschiedliche Kriterien gelten, bedenken sie nicht.

Abhilfe könnten genauere Regeln auf österreichischer und europäischer Ebene schaffen. Beispielsweise ließe sich das heimische Islamgesetz um Passagen ergänzen, die den Modus von Schächtungen ohne Bolzenschuss regeln. Würde man den Muslimen die Möglichkeit bieten, unter bestimmten Bedingungen auf traditionelle Weise zu schächten, dann würden wohl nicht nur fragwürdige Fleischimporte aus dem Ausland zurückgehen – auch bei den verschiedenen Halal-Zertifikaten könnte mehr Ordnung einkehren. Der Streit um die theologische Zulässigkeit diverser Schächtungsarten wäre entschärft. Auf EU-Ebene sind bisher jedoch alle Versuche gescheitert, bei der Frage der Schächtungen eine rechtliche Vereinheitlichung zu erzielen.

Und das weitverbreitete Problem der vielen kleinen Geschäftsleute, die sich selbst Eigenbau-Halal-Zertifikate verpassen? Die Islamische Glaubensgemeinschaft gibt sich auf profil-Anfrage machtlos. „Viele Betriebe sind gar nicht halal, obwohl sie es von sich behaupten“, bestätigt Noureddinne Boufalgha, Halal-Beauftragter der IGGÖ. „Aber die Glaubensgemeinschaft hat keine Befugnis, dagegen vorzugehen.“

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Bleibt nur der Appell ans Bewusstsein der Konsumenten. Wenn sie Halalfleisch nach hohen Standards kaufen, müssen sie – so wie bei jedem anderen Produkt -genau auf den Produzenten achten. Genauso wie neben der Schlachtung auf Tierhaltung, Tierfutter, Hygiene und Schlachtpraxis. Derartige Aufforderungen finden sich, auch wenn sie sehr zeitgenössisch klingen, im Ansatz bereits in den Überlieferungen des Propheten Mohammed aus dem 7. Jahrhundert.

Denn eines steht fest: Das Halal-Siegel alleine bedeutet noch nichts.

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Der große Andere

Aus dem profil+ 34/2016

Einst Auswanderer, heute „Wirtschaftsflüchtling“: Der Begriff ist aus der Asyldebatte nicht mehr wegzudenken. Aber was bedeutet er? Joseph Gepp und der Versuch einer Definition.

Beginnen wir mit der Austria Presse Agentur (APA), Österreichs größter Nachrichtenagentur. Sie liefert nicht nur Informationen, sondern zeichnet auch wie ein Seismograf gesellschaftliche Wertungen auf. Was darf man zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen, was nicht?

Das Wort „Neger“ zum Beispiel taucht (von Zitateninhalten abgesehen) im Jahr 1991 zum letzten Mal in einer APA-Meldung auf. Der „Zigeuner“ hält sich länger, bis 1998. Seither gelten diese Begriffe zu abwertend, um sie noch zu verwenden.

Und der „Wirtschaftsflüchtling“?

Im Duden steht neben dem Begriff zwar die Erläuterung, dieser werde „auch abwertend“ gebraucht. Dennoch taucht der Wirtschaftsflüchtling in APA-Meldungen – genauso wie in allen anderen heimischen Medien, auch im profil – derzeit so häufig auf wie noch nie. Genau 212 Mal kam er in der APA im Jahr 2015 vor. Heuer bereits 104 Mal. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2014 gab es ihn nur zwölfmal.

Während Neger und Zigeuner der Vergangenheit angehören, bleibt der Wirtschaftsflüchtling nicht nur erhalten, er wird sogar immer salonfähiger.

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Der Wirtschaftsflüchtling ist der große Andere, so die gängige Sichtweise. Einer, der, im Gegensatz zum Kriegsflüchtling, kein Recht hat zu fliehen – und vor allem keines, hier anzukommen. Er nützt das System aus; profitiert, wo er nicht profitieren sollte. Er ist der falsche Flüchtling, nicht der echte. Vor ihm müssen wir uns schützen, auch deshalb, damit wir den echten schützen können. Weil alle schützen können wir auch nicht. Am Gegenbild des Wirtschaftsflüchtlings besteht offenbar gerade in Zeiten großer Fluchtbewegungen Bedarf. Sonst würde der Begriff nicht derart häufig auftauchen.

Aber was ist das überhaupt, der Wirtschaftsflüchtling? Erster Versuch einer Definition.

Einer, der aus Armut weggeht, statt vor Krieg zu fliehen.

Das Problem ist, dass sich diese Beschreibung auflöst wie eine Fata Morgana, sobald man genau hinsieht. Krieg, Elend und Gefahr erzeugen und verstärken einander. Ab wann wird ein Mensch vom Kriegs- zum Wirtschaftsflüchtling? Wenn zwar in der Ferne Geschütze grollen, er persönlich aber noch mehr unter leeren Geschäftsregalen und ständig ausfallendem Strom leidet? Wenn er nicht direkt aus dem Kriegsgebiet aufbricht, weil er sich zuvor bereits in ein Elendslager in ein Nachbarland retten hat können? Wenn er sich Jahre in diesem Nachbarland aufhält? Oder gar irgendwo in Europa?

Doch so tragisch müssen die Umstände gar nicht sein. Wenn man so will, ist die ganze Welt voller Wirtschaftsflüchtlinge. Viele Menschen ziehen wegen der besseren wirtschaftlichen Perspektiven in ein anderes Land. Die rumänische Altenpflegerin in Österreich etwa, die zu Hause nur 200 Euro Monatslohn verdienen würde (und deren Tätigkeit hier dringend gebraucht wird). Oder der polnische Koch in Großbritannien, der in seiner Heimat keinen Job findet. Oder, um ein historisches Beispiel zu nennen: Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen bauten die USA auf, Iren, Deutsche, Italiener, Engländer.

All diese jedoch würde niemand je als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Eher schon als mutige Auswanderer, die dem verkrusteten Europa in Richtung Neue Welt den Rücken kehrten. Oder, im Fall der Polen und Rumänen: als mobile, dynamische Arbeitskräfte, die ihren Jobs quer über den Kontinent hinterherreisen.

De facto unterscheiden sich Polen, Rumänen und andere Osteuropäer freilich in einem Punkt klar von jenen Afrikanern und Asiaten, die man üblicherweise als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet: Die Osteuropäer beantragen kein Asyl, also Schutz vor persönlicher Verfolgung. Darauf sind sie auch nicht angewiesen, weil ihre Staaten der EU angehören. Und in ihr herrscht Niederlassungsfreiheit.

Die Anderen hingegen, die von draußen hineingelangen möchten, haben meist keine andere Wahl, als Asyl zu beantragen – egal, weshalb genau sie kommen. Denn legale Wege der Migration, etwa zu Arbeitszwecken, sieht Europa kaum vor.

Von Wirtschaftsflucht lässt es sich also nur im Zusammenhang mit Nicht-EU-Ländern sprechen, beispielsweise Ghana, Pakistan oder Kosovo. Der Formalakt des Asylantrags – noch dazu einer, um den der Migrant nicht herumkommt – entscheidet darüber, ob wir etwas als Arbeitskräftemobilität begreifen (eher gut) oder als Wirtschaftsflucht (ziemlich böse).

Fazit all dessen: Nicht jeder, der vor Armut flieht, gilt deshalb auch als Wirtschaftsflüchtling. Bei Weitem nicht. Der Begriff hängt davon ab, wo die jeweilige Person herstammt. Außerdem lässt sich eine klare Grenze zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtling nicht ziehen. Unsere erste Definition taugt nicht. Daher eine andere.

Einer, den die Genfer Flüchtlingskonvention nicht als Flüchtling klassifiziert.

Diese Konvention aus dem Jahr 1951 ist das wichtigste Dokument der internationalen Asylpolitik. Erstmals sichert sie Flüchtlingen das einklagbare Recht auf Aufenthalt und Arbeitsmarktzugang zu. Sie haben jetzt Ansprüche, nicht nur Bitten. Zu einem derart epochalen Beschluss rangen sich die Staatschefs vor allem angesichts der schlimmen Erfahrungen durch, die ihre Völker gerade hinter sich hatten: die Judenvernichtung in Hitler-Deutschland und seinen besetzten Gebieten, die Massendeportationen in Stalins Sowjetunion. Dazu kamen neuerdings zahlreiche Dissidenten, die dem gerade entstandenen Ostblock entflohen.

Vor diesem Hintergrund legte man nun in der Konvention die Kriterien fest, wer als Flüchtling gilt: alle, denen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, sozialer Gruppe oder politischer Überzeugung staatliche Verfolgung droht. Juristen, Aktivisten und Politiker führen bis heute gern die Genfer Flüchtlingskonvention im Mund. Anhand dieses grundlegenden Papiers müsste sich wohl leicht der Unterschied zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen feststellen lassen. Sollte man meinen.

Ist aber nicht so. Denn von Anfang an erfüllten zahlreiche Flüchtlinge nicht die Kriterien der Konvention. Zum Beispiel solche, die wegen ihrer Homosexualität verfolgt werden – an sie dachte man in den 1950er-Jahren schlicht nicht. Oder an Deserteure. Oder an alle, die von privaten Milizen verfolgt werden statt von staatlichen Regimes. Vor allem aber: Der normale, klassische Kriegsflüchtling fällt auch nicht unter die Konvention. Selbst wenn er möglicherweise aus seiner zerbombten Stadt fliehen muss – er wird nicht persönlich verfolgt.

Viele Lücken in der Konvention wurden später repariert. Höchstgerichte entschieden, dass der Geist des Dokuments auch auf Gruppen anzuwenden ist, die sein Wortlaut nicht erfasst. So gelten Homosexuelle und Deserteure heute als Konventionsflüchtlinge. Allerdings: Der Kriegsflüchtling fällt nach wie vor raus (für ihn gibt es andere, weniger weitgehende Schutzpflichten in anderen Dokumenten, etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention, in welcher der sogenannte „subsidiäre Schutz“ verankert ist). Außerdem verliert die Genfer Flüchtlingskonvention über eine weitere wichtige Frage kein Wort: Wer ist zuständig? Stehen einem Flüchtling etwa auch dann noch seine Rechte zu, wenn er auf seinem Fluchtweg bereits sichere Länder durchquert hat?

In der Praxis gehen die Asylbehörden heutzutage mitunter weniger strikt vor. So gelten syrische Flüchtlinge in Österreich und Deutschland gern pauschal als asylberechtigt im Sinn der Konvention. Trotzdem ergibt sich aus all dem: Die Genfer Flüchtlingskonvention lässt viele Fragen offen, die von Bedeutung wären. Es ist ein Dokument aus einer anderen Zeit; notdürftig hat man es an die Gegenwart angepasst. Es umfasst nicht einmal Kriegsflüchtlinge, geschweige denn grenzt es sie gegenüber etwaigen Wirtschaftsflüchtlingen ab.

Könnte man die Konvention nicht abändern? Die alten Mängel ausgleichen? Könnte man nicht beispielsweise Kriege, persönliche Verfolgung, Naturkatastrophen und Hungersnöte gleichstellen – und all jenen, die davon bedroht sind, Asyl zusichern? Und dabei auch gleich die Zuständigkeit möglicher Aufnahmeländer klären? Bei einer solchen Reform ließe sich endlich klar definieren, was ein Wirtschaftsflüchtling ist – und ab welchem Grad er ebenfalls des internationalen Schutzes bedarf. Doch diese Idee ist „politisch nicht durchsetzbar“, sagt der Wiener Fremdenrechtsanwalt Georg Bürstmayr. „Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht, zumindest für einen Teil der Schutzbedürftigen, relativ strikte Instrumente vor. Das ist schon viel. Bei der derzeitigen internationalen Lage würden sich die Regierungen auf weitergehende Schritte wohl nicht einigen können.“

Im Asylrecht, national wie international, kommt der Wirtschaftsflüchtling also nicht vor. Weder ist er jemand, der manchmal ebenfalls Schutz brauchen könnte, etwa bei einer Hungersnot. Noch ist er jemand, den das Gesetz gegenüber dem Kriegsflüchtling abgrenzt, damit die Gruppe der Asylberechtigten klarer umrissen ist. Der Wirtschaftsflüchtling bleibt eine rein moralische Zuschreibung. Ein Begriff, der uns das Gefühl vermittelt, dass manche Menschen ein Recht haben und andere nicht. Indem wir sie – vorgeblich streng und rational – in Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge teilen.

Solange es Flüchtlinge gibt, muss es daher auch die Anderen geben. Jene, die es angeblich nicht sind. Im Gegensatz zum „Neger“ und „Zigeuner“ wird uns der „Wirtschaftsflüchtling“ deshalb noch lange erhalten bleiben.

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Money Maker

Aus profil 52/2015

Flüchtlinge, Arbeitsmigranten, Geschäftsreisende: Wer ohne Bankkonto und Kreditkarte Geld verschicken will, nutzt dafür oft die Dienste von Western Union. Doch die Gebühren sind horrend. Joseph Gepp über einen US-Konzern, der mit der Flüchtlingskrise viel Geld verdient.

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Wien, direkt neben dem neuen Hauptbahnhof. Das Geschäftslokal hier ist eines derjenigen, an denen man Hunderte Mal vorbeilaufen kann, ohne sie zu registrieren. Ein Schaufenster, zwei Kassenschalter, ein paar Bildschirme. Über einen flimmern gerade Wechselkurse, daneben sieht man Werbespots mit fröhlichen Gesichtern. In dieser Einrichtung gebe es Geld, „wo immer es benötigt wird, zu jeder Zeit, an jedem Ort“, lautet der dazugehörige Schriftzug.

Western Union ist das größte Bargeldtransferunternehmen der Welt. Wo es keine Banken oder Bankomaten gibt, wo die Menschen keine Bankkonten und Kreditkarten besitzen (oder gerade nicht darauf zugreifen können), dort findet man garantiert irgendwo eine Western-Union-Filiale – weltweit insgesamt eine halbe Million, in den Steppen Zentralasiens, den Slums von Afrika oder eben hier, auf dem Wiener Hauptbahnhof. Die Anzahl der Western-Union-Filialen übersteigt jene der McDonald’s-Restaurants um mehr als das Zehnfache. Die wichtigsten Zielgruppen: Arbeitsmigranten, die jedes Jahr Hunderte Milliarden Euro in ihre Heimatländer schicken. Und, gerade derzeit: Flüchtlinge.



Um bei Western Union eine bestimmte Summe Geld abzuheben, brauche man einen achtstelligen Code, erklärt der junge Mann mit der selbstgewuzelten Zigarette, der gerade aus dem Lokal getreten ist. Diesen Code erfährt man vom Absender, der das Geld in einer anderen Filiale eingezahlt hat. Wasim*, 20 Jahre alt, stammt aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Seit drei Monaten lebt er in Wien, erzählt er. Wasim lässt seine Finger kurz durch die Geldscheine gleiten, die er gerade überreicht bekommen hat, dann steckt er sie weg. Sein Vater, der sich noch in Damaskus aufhält, schicke ihm alle paar Wochen etwas, sagt er. Manchmal sind es 100 Euro, manchmal 200 – gerade so viel, wie sich der Vater vom Mund absparen kann.

Die Zentrale von Western Union liegt in Englewood, einem Vorort von Denver, Colorado. Hier wurde das Unternehmen vor mehr als 150 Jahren gegründet. Seine Mission: die Weiten des Westens mit Kommunikationslinien zu durchziehen. Ursprünglich verlegte Western Union Telegrafenleitungen oder solche für Börsenfernschreiber. Im darauf folgenden Jahrhundert verstand man es, neue Entwicklungen früh zu erkennen. Die größte: die Globalisierung seit den 1990er-Jahren. Die immer stärker und schneller werdenden Ströme von Geld und Menschen speisen das heutige Geschäftsmodell. Wen es in fremde Länder gespült hat, der kann dank Western Union Geld transferieren, und zwar unabhängig von jeder sonstigen finanziellen Infrastruktur. Und je mehr Menschen sich auf den Weg machen, desto höher fällt der Konzerngewinn aus. Vergangenes Jahr belief er sich, bedingt auch durch die Flüchtlingskrise im Nahen Osten und Europa, auf beachtliche 5,6 Milliarden Dollar. Zu beachtlich, meinen Kritiker.



Wasims Vater betreibt ein Café in Damaskus, der Sohn arbeitete dort bis zu seiner Flucht als Manager. Früher sei das Lokal gut gelaufen, erzählt er: „Heute kommt an manchen Tagen kein einziger Gast.“ Im Viertel rundherum fielen Bomben, man müsse sich vor herabstürzenden Trümmern und Querschlägern hüten. Wasim flüchtete im Sommer, als ihn das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zur Armee einziehen wollte. „Ich mochte weder unschuldige Menschen töten noch selbst getötet werden“, sagt er. Sein Englisch ist fast perfekt; mit seinen Sportschuhen und seiner Sportjacke unterscheidet er sich äußerlich nicht von seinen österreichischen Altersgenossen. In Wien ist Wasim in einer privaten Wohnung untergekommen. Dort leben auch seine Tante und deren Kinder, ebenfalls Flüchtlinge.

Die Kosten dafür, Geld mit Western Union zu schicken, sind immens. Bis zu 20 Prozent Gebühren fallen pro Überweisung an, rechnet das deutsche Web-Portal geldtransfair.de vor. Die Spesen variieren von Land zu Land extrem -besonders hoch fallen sie dort aus, wo Menschen kaum andere Optionen als Western Union haben. Schickt ein Flüchtling beispielsweise 150 Euro nach Jordanien, um seine Familie in einem der dortigen Camps zu unterstützen, betragen die Gebühren dafür 22 Euro, also mehr als 15 Prozent. Zusätzlich werden Wechselgebühren verrechnet, die höher als marktüblich sind.

Man könnte Western Union zugute halten, dass es teuer und riskant ist, ein derart riesiges Filialnetz zu betreiben. In Wahrheit funktioniert dies jedoch über eine Art Franchise-System: Jeder kleine Laden – oft sind es Gemüsehändler und andere Kioske in Entwicklungsländern – kann sich darum bewerben, ein Partner von Western Union zu werden. Pro Überweisung erhält die lokale Filiale dann eine kleine Provision. Die Folge dieses System: Bei Western Union selbst arbeiten nur 10.000 Menschen. Sie verwalten ein lukratives Netzwerk, das bis in die entlegensten Gebiete der Erde reicht.

Damit Wasim in Wien 100 Euro bekommt, muss sein Vater in Damaskus 130 Euro einzahlen, sagt er. „Aber was sollen wir sonst tun?“ Nicht nur seien keine regulären Banküberweisungen von Syrien nach Österreich möglich, er habe hier auch gar kein Konto, um das Geld entgegenzunehmen. Inzwischen haben sich zwei weitere Flüchtlinge dazugesellt. Joseph und Masser, 30 und 34 Jahre, stammen aus dem Irak, nördlich von Bagdad. Dort haben sie als Köche gearbeitet und studiert, Kommunikationswissenschaft und Englisch, bis sie vor einem halben Jahr flüchteten. Die „Daesh“ hätten sie vertrieben, erzählen sie, der sogenannte „Islamische Staat“. Heute sind sie zu Western Union gekommen, um einem Freund in Deutschland mit etwas Geld auszuhelfen. Er brauche dringend 100 Euro, hat er ihnen per Facebook-Chat geschrieben. Joseph und Masser haben das Geld gerade überwiesen; neun Euro Gebühren waren dafür fällig.

„Senken Sie die horrenden Gebühren!“, wird Western Union derzeit von Aktivisten aufgefordert, die sich auf der Online-Petitionen-Plattform avaaz.org organisiert haben. Mehr als 352.000 Menschen haben unterzeichnet. Kritik kommt nicht nur von engagierten Bürgern, sondern auch von der Weltbank. Deren Experten rechnen in ihren Berichten vor, dass den Entwicklungsländern weltweit jährlich 20 Milliarden Euro entgehen, weil Geldtransferunternehmen wie Western Union überhöhte Gebühren verlangen. Im Jahr 2009 haben sogar die G8, die acht größten Industriestaaten der Erde, einen Vorstoß unternommen. Bei einer Konferenz in Rom im November dieses Jahres verkündeten die Regierungen das „5-Mal-5-Ziel“: Innerhalb der nächsten fünf Jahren sollen die Kosten für Geldtransfers auf maximal fünf Prozent sinken. Geschehen ist bisher nichts.

Ihr Freund in Deutschland sei ebenfalls irakischer Flüchtling, erzählen Joseph und Masser. Es habe ihn nach Bonn verschlagen. Das Geld brauche er, weil es kälter werde und er Winterkleidung kaufen müsse. Das Lager in Bonn habe keine mehr zur Verfügung. Joseph und Masser kennen ihren Bonner Freund noch aus Bagdad. Sie wissen zwar, dass die 100 Euro nicht lange reichen werden, „aber was soll’s, er braucht das Geld eben“. Dann verabschieden sie sich, um ihren Zug nach Neusiedl am See im Burgenland zu nehmen. Dort wohnen Joseph und Masser in einer Flüchtlingsherberge.

Überall entlang der sogenannten Balkanroute – in der Türkei, Griechenland, den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens – schießen in diesen Monaten die Western-Union-Filialen aus dem Boden. Flüchtlinge gelten derzeit als besonders gute Kunden des US-Unternehmens – nicht nur, weil sie in Europa keine Bankkonten besitzen und auf Geldtransfers aus instabilen Kriegsgebieten angewiesen sind, sondern auch, weil sie häufig nur kleine Summen abheben. Das erhöht die Gebühren zwar noch weiter, aber viele Flüchtlinge fürchten, dass ihnen größere Summen auf ihrem Weg geraubt werden könnten.

„Die meisten Flüchtlinge laufen ständig zu Western Union“, erzählt Wasim von den Erfahrungen seiner Flucht. Einerseits verschicken sie untereinander Geld, andererseits bezahlen sie Schlepper über Western Union. Wasim selbst ist jedoch anders vorgegangen, sagt er: „Ich habe bei meiner Flucht mein ganzes Geld immer bei mir getragen, versteckt in den Socken und der Unterhose.“ Wasim wollte sich die Gebühren ersparen und hatte außerdem Angst, dass bei den Geldtransfers irgendetwas schiefgehen könne.

Die Eigentümer von Western Union zählen zu den größten Geld-und Investmenthäusern der USA. Im Auftrag wohlhabender Kunden verwalten sie Billionen von Dollars – und diese Gelder investieren sie in Unternehmen wie Western Union. Zu den größten Aktionären zählen derzeit etwa der New Yorker Vermögensverwalter Blackrock, der Finanzdienstleister Fidelity aus Boston und der Vermögensverwalter Vanguard Group aus Pennsylvania.

Martina, eine gebürtige Salzburgerin, ist die erste Western-Union-Kundin an diesem Abend auf dem Wiener Hauptbahnhof, die nicht unbedingt auf die Leistungen des Unternehmens angewiesen ist. Die 32-Jährige hat in den USA internationale Politik studiert. Heute reist sie im Auftrag von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen oft zu Konferenzen im Ausland, bei denen sich Experten austauschen, etwa über das Management internationaler Konflikte. Kürzlich fand eine solche Konferenz im mittelamerikanischen Panama statt. Martina hätte nach der Rückkehr die Kosten für den Flug von ihrem Auftraggeber überwiesen bekommen sollen. „Doch irgendetwas hat nicht gleich geklappt“, sagt sie. Die Bank in Panama habe nicht sofort an jene in Österreich überweisen können. Deshalb vereinbarten Martina und ihr Auftraggeber, das Geld über Western Union zu schicken. „Das hat zwar ungefähr 100 Euro zusätzlich gekostet, aber es war die schnellste und unkomplizierteste Variante“, sagt Martina.

Der Vorstandsvorsitzende von Western Union, der in Englewood den Konzern führt, ist selbst Migrant. Der 54-jährige Hikmet Ersek wurde im türkischen Istanbul geboren: türkischer Vater, österreichische Mutter, österreichischer Reisepass, wienerischer Zungenschlag. Als Teenager zog Ersek nach Wien, um hier an der Wirtschaftsuniversität zu studieren. In den 1980er-Jahren begann er bei Mastercard, 1999 wechselte er zu Western Union. Dort fungierte er viele Jahre als Europa-Chef mit Büro am Wiener Schubertring. Im Jahr 2010 stieg er zum Vorstandschef auf. Vergangenes Jahr betrug sein Verdienst acht Millionen Dollar. Ersek ist nicht nur der einzige Österreicher, der einen der 500 wichtigsten börsenotierten Konzerne der USA leitet, sondern nebenbei auch österreichischer Honorarkonsul in den US-Bundesstaaten Wyoming und Colorado. In Interviews erzählt Ersek gern, dass er selbst seinem Vater in der Türkei Geld über Western Union schicke.

Wasim, der 20-Jährige aus Syrien, wartet derzeit auf den Ausgang seines Asylverfahrens in Österreich. Die Leute hier seien „gut und großzügig“, sagt er. Doch er sorgt sich um seinen Vater in Damaskus. „Dort wird es immer gefährlicher.“ Am liebsten würde Wasim den Vater nach Österreich nachholen. „Aber momentan hat er so wenig Geld, dass er Hunger leidet. Er könnte sich nicht einmal die Flucht in den Libanon oder die Türkei leisten, geschweige denn hierher.“

Als das deutsche Wochenblatt „Die Zeit“ kürzlich Western-Union-Chef Ersek auf die Kritik wegen der hohen Gebühren ansprach, rechtfertigte er sich so: „Aktionäre wollen immer mehr. Mehr Umsatz, höhere Margen, mehr Geld.“ Zwar gibt es Kunden wie Martina, die den Finanzdienstleister vor allem aus Bequemlichkeit nutzen. Doch insgesamt hat sich Western Union die vielleicht lukrativste Kundenschicht überhaupt erschlossen: jene, die kaum andere Möglichkeiten haben, als Kunden von Western Union zu sein.

Es heißt, die Erde sei – zumindest in finanzieller Hinsicht – ein globales Dorf geworden, in dem die Geldströme immer schneller und ungehinderter fließen. Wenn das so ist, dann kassiert Western Union den Wegzoll von denjenigen, die am Dorfrand wohnen. Und das werden derzeit immer mehr.

Einige Namen und Details wurden auf Wunsch der interviewten Personen geändert.

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Fluchtfolgenschätzung

Aus profil 43/2015

Wird die Integration Tausender Asylwerber tatsächlich Milliarden kosten? Oder wird Österreich am Ende gar davon profitieren? Ein Blick auf die letzte große Fluchtbewegung in den 1990er-Jahren liefert Anhaltspunkte.

Von Joseph Gepp

Sind es eine Milliarde Euro? Oder eineinhalb? Oder gar zwölf Milliarden? Seit Monaten bewegt sich ein Zug an Flüchtlingen aus dem Nahen Osten durch Europa. Auf seinem Weg nach Deutschland passiert er auch Österreich. Ungefähr 35.000 Menschen, vor allem Syrer und Afghanen, haben seit dem heurigen Juni – als die Flucht über die sogenannte Balkanroute ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte – in Österreich Asyl beantragt. Weitere werden folgen. Damit hat das Land, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, für nicht weniger Flüchtlinge zu sorgen als Deutschland.

Wie viel werden die Flüchtlinge die heimische Volkswirtschaft kosten? Oder werden sie ihr, im Gegenteil, gar etwas bringen? Politisch verfolgten Menschen das Recht auf Asyl zu gewähren, dazu haben sich die Staaten in internationalen Konventionen verpflichtet. Insofern dürfen solche Nützlichkeitserwägungen keine Rolle spielen. Trotzdem beschäftigen sie die österreichische Öffentlichkeit intensiv.

Mit rund einer Milliarde Mehrkosten im nächsten Jahr rechnet ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, er geht dabei von insgesamt 85.000 Asylwerbern aus. Dieses Geld soll etwa für die Versorgung der Flüchtlinge oder für Sprachkurse fällig werden. Von einer etwas höheren Summe, von 1,2 Milliarden, spricht der Ökonom Bernhard Felderer, Vorsitzender des sogenannten Fiskalrats, der Österreichs Budgetsituation im Blick hat. In einem angeblichen Geheimpapier der Bundesregierung, das im September auftauchte, ist gar von 12,3 Milliarden Euro die Rede, gerechnet auf die nächsten vier Jahre, inklusive Familiennachzug. All das sind hochpolitische Fragen. Die FPÖ warnt vor Arbeitslosigkeit, Sozialmissbrauch und Budgetnotstand. Die Regierung fürchtet, bei allzu hohen Kosten der rechtspopulistischen Forderung nach Abschottung Munition zu liefern.

Was wird die Fluchtbewegung nun bedeuten, finanziell gesehen? Diese Frage hängt von vielen Faktoren ab. Es greift jedenfalls zu kurz, lediglich auf höhere Kosten für Versorgung und Integration zu blicken; es geht auch um die Frage, inwiefern Flüchtlinge, etwa als Arbeitskräfte, langfristig etwas zum Wohlstand beitragen können. Eine klare Antwort gibt es nicht, aber man kann eine vorsichtige Einschätzung treffen. Zum Beispiel mithilfe einer Studie aus dem Jahr 1996.

Damals untersuchten die Ökonomen Fritz Breuss und Fritz Schebeck für das Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) die wirtschaftlichen Folgen einer anderen großen Migrationsbewegung: Rund 100.000 Osteuropäer hatten sich Anfang der 1990er-Jahre nach der Ostöffnung dauerhaft in Österreich niedergelassen. 60.000 von ihnen: Flüchtlinge, vor allem aus Bosnien-Herzegowina. Wenn die derzeitige Flucht aus Nahost weiter anhält, kann die Größenordnung durchaus ähnlich sein.

Breuss und Schebeck untersuchten, wie sich dies auf die Beschäftigung auswirkte, und damit auf die Wirtschaftssituation. Ihr Fazit: Insgesamt gab es damals einen leicht positiven Effekt. Das Bruttoinlandsprodukt, also die gesamte Wirtschaftsaktivität im Land, wuchs wegen der Einwanderung zwischen 1989 und 1993 um zusätzlich 0,2 Prozentpunkte. Auch das durchschnittliche Einkommen in Österreich stieg inflationsbereinigt leicht, ebenfalls um zusätzliche 0,2 Prozentpunkte. „Natürlich musste der Staat gleichzeitig Geld für Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge aufwenden“, sagt der Studienautor Breuss, ein inzwischen emeritierter Professor der Wiener Wirtschaftsuniversität. „Aber das fiel im Vergleich mit den positiven Effekten nicht ins Gewicht.“

Das Schema: Mehr potenzielle Arbeitskräfte bedeuten mehr Beschäftigung, mehr Konsum, mehr Produktion, höhere Steuereinnahmen des Staates, letztlich mehr Wirtschaftstätigkeit. „Diese volkswirtschaftliche Mechanik kann man, bei allen sonstigen Unterschieden, auch auf die heutige Situation übertragen.“

Alles gut also, zumindest in den 1990er-Jahren?
Bedeuteten mehr Flüchtlinge damals mehr Wohlstand für alle? Nicht ganz. Denn nicht allein der Zuwachs an Wirtschaftstätigkeit ist entscheidend, sondern auch, wem er zugute kommt. Und das waren vor allem die Unternehmer, weniger deren Beschäftigte. Immigration führe in der Regel wegen der höheren Zahl an Job-Suchenden „zu einem Druck auf die Löhne sowohl von gelernten als auch von ungelernten Arbeitskräften“, schreiben Breuss und Schebeck. Die 1990er-Jahre bildeten keine Ausnahme: Die Arbeitslosenquote lag zwischen 1989 und 1994 um durchschnittlich 2,5 Prozentpunkte höher, als sie es ohne Zuwanderung gewesen wäre. In der Folge seien auch die Löhne weniger stark gestiegen, berechnen Breuss und Schebeck: Zwischen 1989 und 1992 stieg das Bruttogehalt pro Kopf im Durchschnitt um 2,25 Prozentpunkte weniger als im Szenario ohne Migration.

Die Arbeitnehmer hatten höchstens indirekt etwas vom zusätzlichen Wohlstand, weil die Firmen mehr exportierten: „Durch die niedrigeren Lohnkosten hatte sich ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert“, erklärt Breuss. „Das ändert allerdings nichts daran, dass es infolge von Migration durchaus zu einem Verteilungsproblem kommen könnte. Diesem kann man etwa mit Mindest- und Kollektivvertragslöhnen entgegenwirken.“

International ist es unter Ökonomen umstritten, ob Flüchtlinge und andere Zuwanderer tatsächlich die Löhne drücken. Manche Untersuchungen – etwa aus Israel und Norwegen – kommen zu dem Schluss, dass es zwar Lohneinbußen gibt, diese jedoch nach einigen Jahren wieder verschwinden. Andere Forscher, etwa aus Dänemark, haben sogar erhoben, dass die bisher unqualifizierten Arbeitskräfte unter den Einheimischen in höhere Positionen aufsteigen, nachdem ihre alten Jobs mit Zuwanderern besetzt worden sind.

Lässt sich nun die Bilanz aus den 1990er-Jahren – in all ihrer Widersprüchlichkeit – auf die Gegenwart übertragen? Nur mit Vorbehalten. Zunächst konnten die damaligen Jugoslawien-Flüchtlinge äußerst rasch auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Dabei halfen ihnen oft schon vorhandene Deutschkenntnisse sowie ein persönliches Netzwerk: Etwa hatten die Zuzügler Kontakte zu ehemaligen Gastarbeitern, die sich bereits seit den 1970er-Jahren in Österreich aufhielten.

Außerdem gab es im Österreich der frühen 1990er-Jahre ungefähr 100.000 weniger Arbeitslose als heute (wenn auch bei weniger Erwerbstätigen). Der Verdrängungswettbewerb – vor allem unter Niedrigqualifizierten, oft selbst Migranten – fiel weniger hart aus. Eine Folge: Laut dem Ökonomen Felderer fanden 90 Prozent jener Balkan-Flüchtlinge, die arbeiten durften, bereits nach zwei Jahren einen Job.

Dies dürfte sich heute kaum wiederholen lassen.
Laut der OECD, einer Denkfabrik wohlhabender Staaten, dauert es heutzutage im Westen 15 Jahre, bis Flüchtlinge im selben Ausmaß arbeiten wie Einheimische. In Schweden beispielsweise schafft es nur jeder vierte Flüchtling, nach zwei Jahren einen Job zu finden – in Österreich war es einst fast jeder.

Das Fazit: Fraglos kommen mit den Flüchtlingen auch wirtschaftliche Probleme auf Österreich zu. Sind sie einmal angekommen und versorgt, gilt es, sie rasch in einen Arbeitsmarkt zu integrieren, der ohnehin bereits Probleme bereitet. Und – auch wenn sich die Forscher diesbezüglich nicht ganz einig sind – es gilt zu verhindern, dass infolge der Flüchtlinge die Löhne sinken und die Ungleichverteilung in Österreich zunimmt. Zum Beispiel, weil Arbeitnehmer in unregelmäßige Job-Verhältnisse oder gar den Schwarzmarkt gedrängt werden.

Wenn das gelingt, wird man vielleicht stolz auf die Flüchtlingskrise zurückblicken. Als eine Herausforderung, die man meisterte. Auch wirtschaftlich.

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Die (ganz besonders) Unerwünschten

Aus profil 35/2015

Kein Land will Flüchtlinge haben. Das gilt noch mehr für diejenigen, die keine Asylgründe vorweisen können: die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge. Wie viele sind es? Werden sie alle abgeschoben? Und: Können wir sie wirklich nicht brauchen? Zehn Antworten.

Von Joseph Gepp und Robert Treichler

Sie dürfen in keiner Diskussion über Asyl und Zuwanderung fehlen: die „Wirtschaftsflüchtlinge“ – (allein der Begriff ist schon umstritten, aber dazu später). Gegner jeglicher Aufnahme von Ausländern verweisen triumphierend auf diese Kategorie von Migranten, um zu belegen, dass die Flüchtlingsströme in Wahrheit mit Verfolgung wenig zu tun hätten. Dass gerade derzeit die grausamsten Kriege seit dem Ende des Zweitens Weltkrieges toben – etwa in Syrien -, stört sie bei dieser Argumentation nicht. 95 Prozent der Asylwerber seien Wirtschaftsflüchtlinge, behauptet etwa die ausländerfeindliche Bewegung Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) in Deutschland.

Immigrantenfreundliche Parteien wie die Grünen haben mit dem Thema Wirtschaftsflüchtlinge ihre liebe Not. Massenabschiebungen wollen sie aus politischer Überzeugung nicht befürworten; ein automatisches Aufenthaltsrecht für alle können sie wiederum nicht fordern, ohne politischen Selbstmord zu riskieren.

Europäische Regierungen – egal ob links oder rechts – brüsten sich indes damit, bei Abschiebungen von Wirtschaftsflüchtlingen rigoros zu agieren. Frankreichs sozialistischer Innenminister etwa verweist regelmäßig darauf, dass seit Amtsantritt seiner Regierung im Jahr 2012 die Zahl der Zwangsabschiebungen aus Frankreich um 13 Prozent gestiegen sei.

Als ausgerechnet Vincent Cochetel, Europa-Direktor des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), kürzlich forderte, Wirtschaftsflüchtlinge müssten „schneller zurückgeschafft“ werden, da sie „das System blockieren“, denn nur so könne „Platz für wirklich Schutzbedürftige“ gewährt werden, sorgte er für ungläubiges Staunen.

Ist es nun gerecht und notwendig, Wirtschaftsflüchtlinge abzuschieben, um mehr verfolgte Asylwerber aufnehmen zu können – oder ist es unmenschlich und nur ein Vorwand, um Menschen in Not loszuwerden? Ist die Unterscheidung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen noch zeitgemäß? Und kann es sein, dass man „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht sagen soll, sie abzuschieben aber moralisch legitim ist? profil gibt zehn Antworten.

Ist der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ problematisch?

Auf den ersten Blick nicht. Jemand, der sein Land aus wirtschaftlichen Gründen verlässt und illegal in ein anderes immigriert, kann wohl als Wirtschaftsflüchtling bezeichnet werden. Doch Kritiker wenden ein, der Begriff werde häufig abwertend verwendet und sei deshalb abzulehnen. „Wirtschaftsflüchtling“ impliziere, dass jemand keinen Asylgrund geltend machen könne und deshalb kein Recht habe zu bleiben.

Tatsächlich beschreibt dies jedoch sehr zutreffend, wer als Wirtschaftsflüchtling gilt: nämlich jemand, der Asyl beantragt, jedoch keines der dazu erforderlichen Kriterien erfüllt.

Als weniger negativ konnotierte Alternative zum „Wirtschaftsflüchtling“ gilt der „Arbeitsmigrant“. Dieser Begriff macht deutlich, dass es sich nicht um einen Flüchtling handelt – das soll verhindern, dass Asylwerber mit validen Fluchtgründen mit der Gruppe der Wirtschaftsflüchtlinge gleichgesetzt werden.

profil verwendet in diesem Artikel trotz aller Vorbehalte die Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtling“, da dieser Begriff in der Debatte eingeführt ist.

Ist die Trennung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen noch zeitgemäß?

Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, meint, die Unterscheidung in Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge sei „wenig hilfreich“, eine genaue Trennung sei nie zu ziehen. Trotzdem argumentieren nur wenige, dass wirtschaftliches Elend als Asylgrund etabliert werden soll. Eine Erweiterung der Kriterien, wer als Flüchtling gemäß der Genfer Konvention angesehen wird, brächte die Gefahr mit sich, das Bild des Flüchtlings zu verwässern – also das eines Verfolgten, dem bestimmte Rechte zustehen. Die hohe Akzeptanz der Flüchtlingskonvention in den vielen Unterzeichnerstaaten ist der beste Schutz für Verfolgte. Selbst Rechtspopulisten wagen es nicht, das Prinzip der Flüchtlingskonvention infrage zu stellen. Die Antwort lautet also: Ja.

Folgt aus der Trennung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen zwingend, dass Letztere abgeschoben werden müssen?

In letzter Konsequenz: Ja. Wer im Asylverfahren keine persönliche Verfolgung nachweisen kann und wer keinen subsidiären Schutz wegen Lebensgefahr im Herkunftsland bekommt, hat kaum Chancen, im Land bleiben zu dürfen – im Gegenteil: Das Zurückschicken von dieser Gruppe der Wirtschaftsflüchtlinge gilt als Beleg für ein funktionierendes Asylsystem.

Es gibt aber auch andere Stimmen, die argumentieren, dass Wirtschaftsflüchtlinge ebenfalls schutzbedürftig seien. In der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ schreibt etwa der Migrationsexperte Klaus J. Bade, sie wollten „aus existenziellen Gründen“ nach Europa, da sie nur die Alternativen „Flucht oder Verelendung“ sähen. Gern wird in diesem Zusammenhang auch auf Europas unfairen Handel verwiesen, etwa mit Afrika, der Flüchtlingsströme weiter anschwellen lässt.

Die Migrationssprecherin der Grünen, Alev Korun, verlangt, dass es für Arbeitsmigranten – sie lehnt den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ ab – ein Einwanderungsmodell geben soll, das berufliche Fähigkeiten, aber auch persönliche Bindungen des Migranten zum Gastland als Kriterien heranzieht. Wie viele Arbeitsmigranten aufgenommen werden können, sollte eine Expertenkommission anhand der Arbeitsmarktprognosen jedes Jahr ermitteln. Korun räumt aber ein, dass angesichts der aktuellen Rekordarbeitslosigkeit bei gleichzeitig enorm hohen Zahlen von Asylanträgen „keine massive Arbeitsmigrationspolitik“ möglich sei.

Abschiebungen, auch von Wirtschaftsflüchtlingen, seien „kurzsichtig“, meint Korun. Die Anstrengungen der Politik sollten vielmehr auf eine Verbesserung der Verhältnisse in den Herkunftsländern gerichtet sein. Was aber soll mit Wirtschaftsflüchtlingen geschehen, die nicht aufgenommen werden können, aber auch nicht abgeschoben werden sollen? Das will Korun nicht sagen.

Wie viele Flüchtlinge kommen überhaupt aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa?

Das ist extrem schwer zu sagen. Es gibt zwar Zahlen, doch sie sind mit Vorsicht zu genießen. Im Jahr 2014 wurden laut dem europäischen Statistikamt Eurostat in allen 28 EU-Staaten rund 358.010 Asylverfahren abgeschlossen. Rund 161.000 davon, also knapp die Hälfte, wurden positiv beschieden. In diesen Fällen erhielten die Menschen Asyl oder etwa subsidiären Schutz.

Bleiben – nach dem Ausschlussverfahren – 198.000 Fälle übrig. Von diesen Menschen könnte man sagen, sie seien aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen geflohen, zumindest nach Einschätzung der Asylbehörden, die sie als nicht schutzwürdig eingestuft haben.

Vorsicht bei dieser Zahl ist nicht nur geboten, weil es sich dabei um erstinstanzliche Entscheidungen handelt: Wenn ein Flüchtling also seinen abgelehnten Asylbescheid beeinsprucht, scheint er nicht mehr auf. Man muss auch bedenken, dass bei jenen Flüchtlingen, deren Verfahren im Jahr 2014 bereits abgeschlossen wurde, der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak eine viel kleinere Rolle spielte als heute. Inzwischen ist die Zahl der Asylwerber massiv gestiegen, allein Deutschland rechnet heuer mit 800.000 Antragstellern. Der Anteil der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge sinkt stark.

In Österreich stammen die jüngsten Zahlen von 2013. In diesem Jahr wurde laut Innenministerium – erst- und zweitinstanzlich – über 16.675 Asylfälle rechtskräftig entschieden. 10.379 davon, also fast zwei Drittel, gingen negativ aus. Dabei handelte es sich vor allem um Afghanen, Kosovaren, Pakistani und Russen.

Fazit: Ungefähr die Hälfte der Flüchtlinge scheint aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu kommen.

Beim Streit um Wirtschaftsflüchtlinge geht es oft um Asylwerber vom Westbalkan. Warum?

2014 kam die größte Gruppe der Asylwerber in der EU aus Syrien (128.020 Anträge). Gleich dahinter rangierten mit 109.970 Anträgen Personen aus den Staaten des Westbalkan. Das ist insofern überraschend, als die Asylchancen für dortige Bürger sehr gering sind. In Deutschland etwa gelang es im vergangenen Jahr einem einzigen von 21.878 serbischen Staatsbürgern, Asyl zugesprochen zu bekommen.

Auch die Verfahren von Antragstellern aus Albanien, Mazedonien oder Bosnien sind überwiegend aussichtslos, wohl aber aufwendig und teuer für die Gaststaaten. Weshalb versuchen es die Migranten dann überhaupt?

Zunächst ist es einfach, vom Westbalkan in die EU zu reisen, da für alle Bürger (mit Ausnahme des Kosovo) Visumfreiheit gilt – wohingegen die meisten anderen Migranten gar keine andere Möglichkeit haben, als illegal einzureisen. Während das Asylverfahren läuft, können die Menschen von Westbalkan legal im Land bleiben, und wenn das Verfahren abgeschlossen ist – und sie einer Abschiebung entgehen – können sie versuchen unterzutauchen.

Das sind zwar keine guten Aussichten, aber für viele eben immer noch bessere, als in der Heimat zu bleiben, wo die wirtschaftliche Lage aussichtslos ist.

Was ist ein sicheres Herkunftsland?

Diesen Status bekommen Staaten zugewiesen, bei denen die Behörden in Europa davon ausgehen, dass dort Rechtsschutz und keinerlei staatliche Verfolgung herrschen. Die Einstufung als sicheres Herkunftsland soll die Asylverfahren beschleunigen. Ein Asylantrag von dort wird zwar nicht automatisch abgelehnt, aber der Asylwerber muss besondere Umstände geltend machen.

In der Schweiz etwa entscheiden die Behörden über Anträge von Bewerbern aus „verfolgungssicheren Staaten“ innerhalb von 48 Stunden. Das österreichische Asylgesetz etwa kennt derzeit 40 sichere Herkunftsstaaten, etwa alle EU-Mitglieder, Kanada, alle ex-jugoslawischen Staaten und Albanien. In Deutschland wird gerade darüber gestritten, ob man Länder wie den Kosovo und Albanien als sicher definieren soll.

Viele Menschenrechtsorganisationen zeigen sich skeptisch, vor allem mit Blick auf die Situation der Roma auf dem Balkan. Im Fall dieser Minderheit sei der Schutz vor Verfolgung nicht gewährleistet, argumentieren sie. In Albanien wiederum existiert die Blutrache als Form der persönlichen Verfolgung.

Wie viele Menschen werden aus Europa abgeschoben?

Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex wurden im Jahr 2014 161.309 Menschen aus dem Schengen-Raum in ihre Heimatländer zurückgebracht. Entweder gingen sie freiwillig, oder man schob sie zwangsweise ab. Meist handelte es sich um Marokkaner, Albaner, Serben, Ukrainer, Russen und Inder.

Entgegen der gern vorgebrachten Behauptung von Rechtspopulisten schieben Europas Behörden also ziemlich viele Migranten ab – oder fordern sie erfolgreich zur freiwilligen Ausreise auf. Ganz grob geschätzt, folgt auf drei Viertel der jährlich abgelehnten Asylanträge in Europa auch die Abschiebung oder Ausreise.

In Österreich gab es übrigens allein von Jänner bis Juni laut Innenministerium 7393 sogenannte „Außerlandesbringungen“. 874 davon hatten einen anderen Schengen-Staaten zum Ziel, um dort das Asylverfahren neu aufzurollen. Die restlichen 6519 Personen gingen zurück in ihr Heimatland.

Nehmen die Herkunftsstaaten ihre Migranten denn zurück?

Auch an diese Antwort kann man sich nur herantasten. Denn genaue Statistiken darüber, welche Nicht-EU-Länder Migranten aus den Staaten des Schengen-Raums im welchem Ausmaß zurücknehmen oder nicht, gibt es kaum.

Die Statistiken der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigen immerhin, dass wichtige Länder durchaus kooperieren – darunter Marokko, die Ukraine und Albanien, die im Jahr 2014 Tausende Migranten zurücknahmen. Andere kooperieren nicht, etwa Afghanistan. Österreich versucht, mit Rücknahmeabkommen die Kooperationsbereitschaft von Herkunftsländern zu erhöhen, beispielsweise mit Pakistan und dem Kosovo.

Was passiert mit den Flüchtlingen, die nicht abgeschoben werden können?

Hier wird die Situation diffus, die Datenlage dünn. Migranten, deren Abschiebung nicht klappt, sind oft ohne Status. Darüber hinaus geben die verantwortlichen Staaten nicht gern zu, wenn ihre Maßnahmen scheitern. Österreichs Behörden beispielsweise erheben laut Innenministerium nicht einmal, wie viele Abschiebungen scheitern.

Manche Migranten tauchen wohl einfach als U-Boote unter, ohne jedwede soziale Absicherung. Andere werden (mitunter erneut) in Schubhaft genommen – wobei dies nur zulässig ist, solange eine realistische Chance auf einen erfolgreiche erneute Abschiebung besteht.

In Österreich gibt es auch den sogenannten Status der „Duldung“ aufgrund der Unmöglichkeit einer Abschiebung. Üblicherweise kommen die Geduldeten in die „Grundversorgung“ – sie erhalten also die gleichen Leistungen wie Asylwerber. Laut Innenministerium wurden im ersten Halbjahr 2015 180 Duldungskarten ausgestellt.

Ist der Wettbewerb der Staaten, möglichst wenige Wirtschaftsflüchtlinge zu behalten, sinnvoll?

Dieser Wettbewerb ist – auf den zweiten Blick – erstaunlich: Denn gerade in jenen Ländern, die sich am meisten vor Wirtschaftsflüchtlingen fürchten, gibt es zugleich Alarmrufe wegen extrem niedriger Geburtenraten. Deutschland etwa verzeichnet laut manchen Berechnungsmethoden die niedrigste Geburtenrate der Welt, was als eine der größten Gefahren für den Wirtschaftsstandort gesehen wird. Ungarn wird in einer Studie der Vereinten Nationen für dieses Jahrhundert ein Rückgang von 34 Prozent seiner Bevölkerungszahl prognostiziert.

Wie schlimm kann es da sein, wenn hochmotivierte Arbeitsmigranten ins Land kommen? Der Einwand dagegen lautet, die Migranten verfügten nicht über genau die Qualifikationen, die gesucht würden. Gut möglich. Aber Migranten bekommen statistisch mehr Kinder, und diese sind bei entsprechendem Bildungsangebot die Fachkräfte von morgen. Darauf zu warten, dass Leute über unsere Grenzen kommen, die exakt die Berufe erlernt haben, die aktuell nachgefragt werden, ist wenig erfolgversprechend.

Wirtschaftsflüchtlinge kommen oft nicht aus dem schlimmsten Elend dieser Welt. Sie kommen aus Ländern, in denen die wirtschaftlichen Aussichten trist sind. Beurteilt man sie nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention, kommt man zu dem Schluss, dass sie kein Recht haben hierzubleiben.

Es gibt jedoch gute Argumente dafür, ihnen in einem zweiten Einwanderungssystem – in einem Migrations- und keinem Asylsystem – eine Chance zu geben, in dem gewünschten Land bleiben zu dürfen. Erstens die pragmatische Überlegung, dass man ohnehin nie alle abschieben kann – auch wenn viel mehr abgeschoben wird, als die Rechtspopulisten behaupten. Zweitens die eigennützige Überlegung, dass Arbeitsmigranten geeignet sind, die schwächelnde Bevölkerungsentwicklung in Europa zu verbessern – auch wenn das politisch derzeit alles andere als durchsetzbar erscheint.

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Ist das die Rettung?

Aus profil 22/2015

Nachdem Hunderte Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, will die EU-Kommission die Flüchtlingspolitik in Europa neu aufsetzen. Zu diesem Zweck hat sie am 13. Mai die sogenannte „Migrationsagenda“ präsentiert. Ein Realitäts-Check.

Von Joseph Gepp und Bence Jünnemann

Eine europaweite Quote sorgt für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge

Es wäre eine Revolution in der Flüchtlingspolitik in Europa. Das sogenannte Dublin-System ist bislang, wenn man so will, das Grundmaß des Asylwesens. Es sieht vor, dass für einen Asylwerber im Allgemeinen jener Staat zuständig ist, den er zuerst betreten hat. Die EU-Kommission plant langfristig, dieses Prinzip aufzuweichen und durch ein Quotensystem zu ersetzen.

Vorerst soll im Rahmen einer kurzfristigen Notlösung der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen anders verteilt werden -und zwar zeitlich befristet ab Ende Mai. Ende des Jahres will die EU-Kommission darüber hinaus einen Gesetzesvorschlag vorlegen, der auch in Zukunft für eine permanente Quotenregelung sorgen soll. Denn das alte Dublin-System, so die Kritik, ist ungerecht.

Tendenziell müssen Länder am Rand Europas bisher mehr Flüchtlinge betreuen als jene im Zentrum, Länder mit einer liberalen Flüchtlingspolitik mehr als jene mit einer restriktiven. Fast drei Viertel der Asylanträge werden derzeit von nur fünf EU-Mitgliedsstaaten abgewickelt. Im Jahr 2014 behandelte der Spitzenreiter Schweden etwa 7,8 Anträge pro 1000 Einwohner, das Schlusslicht Tschechien lediglich 0,09.

Nun soll mit einem neuen Verteilungsschlüssel Gerechtigkeit einkehren. Die Flüchtlinge sollen künftig den einzelnen EU-Staaten zugeteilt werden, je nach Bevölkerungszahl, Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquote und bisheriger Flüchtlingspolitik. Vorläufig soll die Quotenregel das Dublin-System aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, wenn es zu besonders großen Flüchtlingswellen kommt.

Die Abnahme von Fingerabdrücken soll dafür sorgen, dass der Flüchtling in dem Land bleibt, in dem man ihn haben will – so wie das schon derzeit im Dublin-System mehr schlecht als recht praktiziert wird.

Hier setzt auch schon die Kritik am Quotensystem an. Zunächst verhindert es per se noch keine lebensgefährlichen Fahrten über das Mittelmeer. Weiters bindet es die Flüchtlinge zwingend an jenen Ort, dem sie zugeteilt worden sind. Das trennt sie nicht nur von Landsleuten anderswo, es liefert sie auch an Asyl- und Versorgungssysteme aus, die bislang von Staat zu Staat extrem unterschiedlich ausfallen. Diese Probleme gelten aber auch für das derzeit geltende Dublin-System.

Aber vielleicht spielen solche Fragen ohnehin bald keine Rolle mehr. Denn etliche EU-Staaten lehnen die Quote vehement ab – etwa Frankreich, Spanien, Polen und die baltischen Länder. Die Befürworter finden sich in den Reihen der Staaten, die bisher schon viele Flüchtlinge aufnehmen und sich nun eine Entlastung versprechen: etwa Schweden, Deutschland und Österreich.

Schulnote: befriedigend
Realisierungswahrscheinlichkeit: gering

Bootsflüchtlinge vor Lampedusa (Wikipedia)

Bootsflüchtlinge vor Lampedusa (Wikipedia)


Die Zerstörung von Schlepperbooten wird den Flüchtlingsstrom eindämmen

Es ist wohl die umstrittenste und meist diskutierte Maßnahme: Die Außen-und Verteidigungsminister der EU-Mitgliedsstaaten haben beschlossen, militärisch gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die Maßnahmen reichen von Luftüberwachung von Mittelmeerhäfen über die Zerstörung von Booten bis hin zur Absicht, sogar Militäroperationen in libyschen Hafenstädten durchzuführen.

Dies solle den Urhebern allen Übels den Garaus machen, meinen Europas Politiker: den Schleppern. Denn vor allem ihre mafiöse Tätigkeit lasse den Flüchtlingsstrom anschwellen, argumentieren sie – und nicht so sehr Kriege, Armut und Unterdrückung in den Herkunftsländern.

Die Gesamtheit der Maßnahmen stößt allerdings aus vielen Gründen auf massive Hindernisse. Für ein militärisches Vorgehen an der libyschen Küste wäre ein UN-Mandat erforderlich, aber die Vetomacht Russland sträubt sich strikt gegen die Zerstörung von Booten. Zudem müsste die Zustimmung der libyschen Regierung eingeholt werden. Davon gibt es derzeit aber gleich zwei, da sich das Land seit dem Arabischen Frühling im Bürgerkrieg befindet. Die offizielle Regierung lehnt einen Militäreinsatz ab. Hinzu kommen Milizen aus unterschiedlichsten Volksgruppen, die teilweise eng mit Schlepperbanden kooperieren sollen.

In der Vergangenheit erwies sich das Schleppersystem selbst gegen ausgefeilteste Ermittlungsmethoden als widerstandsfähig. Die Schlepper bilden ein hochflexibles Netzwerk, das man kaum mit dem der organisierten Kriminalität vergleichen kann und sich entsprechend schlecht bekämpfen lässt. „Ihr Geschäft beruht auf Vertrauen und dem gegebenen Wort. Somit strukturiert es sich blitzschnell neu. Ist ein Netzwerk aufgeflogen, bildet sich auf der Stelle ein neues“, schreiben die Italiener Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci in ihrem vergangenen Jahr erschienenen Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“. Die Anti-Schlepper-Aktion von Europas Regierungschefs ist also wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Schulnote: nicht genügend
Realisierungswahrscheinlichkeit: mittel

Eine Mission auf hoher See wird den Flüchtlingen das Leben retten

Nachdem es am 19. April zum bisher größten Flüchtlingsunglück der Geschichte mit bis zu 800 Toten gekommen war, überboten Europas Staatschefs einander mit Ankündigungen. Bei einem Sondergipfel in Brüssel einigte man sich darauf, das Budget für Seenothilfe im Mittelmeer in den kommenden zwei Jahren zu verdreifachen. Fraglich blieb damals jedoch, inwieweit die Grenzen der Mission ausgedehnt werden.

Nun hat man sich darauf geeinigt, das Einsatzgebiet auf jeden Fall auszudehnen. Das konkrete Ausmaß wurde aber auch in der nunmehr vorgelegten Migrationsagenda noch nicht präzisiert. Aber dass ausgeweitet werden soll, ist schon ein vages Bekenntnis.

Denn viele Flüchtlinge geraten schon zehn bis 20 Kilometer vor der libyschen Küste in Seenot. Ein Rettungseinsatz in italienischen Gewässern würde ihnen also kaum helfen. Ein europäisches Boot bräuchte bis zu acht Stunden, um die kritischen Stellen zu erreichen.

Kritiker argumentieren zwar, dass solche küstennahen Rettungsaktionen Flüchtlinge erst recht zur Bootsfahren animieren könnten. Die Erfahrung der vergangenen Monate hingegen hat gezeigt, dass sie sich auch nicht abschrecken lassen, wenn keine Einsätze stattfinden.

Die Erweiterung der Seemission Triton im Mittelmeer sei „eine notwendige Reaktion auf die Kritik an der Tatenlosigkeit“, sagt Lukas Gehrke vom Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (Icmpd) in Wien. Wie viele Menschenleben die Maßnahme tatsächlich retten wird können, das allerdings werde sich erst in den kommenden Wochen zeigen, wenn Details auf dem Tisch liegen und die Größe des Einsatzgebiets geklärt ist.

Schulnote: gut
Realisierungswahrscheinlichkeit: hoch, Einsatzgebiet jedoch unklar


Ein Resettlement-Projekt macht es für Flüchtlinge leichter

„Resettlement“ (Umsiedlung) lautet das Zauberwort jeder modernen Flüchtlingsdebatte. Das Konzept: Man wartet nicht erst, bis die Flüchtlinge an Europas Küsten stranden, sondern geht gezielt dorthin, wo sie sich befinden. Im Fall des Syrien-Kriegs wären dies etwa die großen Lager in den Nachbarstaaten Libanon, Türkei und Jordanien. Dort sucht man Flüchtlinge heraus, denen man dann Asyl in Europa ermöglicht.

Diese Methode hat mehrere Vorteile: Sie senkt den Anreiz, auf lebensgefährlichen Bootsfahrten sein Glück zu versuchen; und man kann die schutzbedürftigsten Personen herauspicken und damit dem Asylgedanken stärker Rechnung tragen. Derzeit herrsche im Flüchtlingswesen ein „Survival of the fittest-Prinzip“, sagt Helmut Langthaler von der österreichischen Asylkoordination. Nur wer einigermaßen bei Kräften sei, schaffe es nach Europa. Mittels Resettlement ließe sich dies durchbrechen.

Die EU-Kommission fordert nun die Mitgliedsstaaten auf, 20.000 Flüchtlinge im Rahmen eines Resettlement-Projekts aufzunehmen. Zur Verteilung der Flüchtlinge solle sogleich der neue Quotenschlüssel in Kraft treten. Für Österreich wären demnach 444 Personen vorgesehen. 50 Millionen Euro soll die Aktion kosten. Die Auswahl der Flüchtlinge treffen Institutionen wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat Unhcr, das in solchen Angelegenheiten jahrzehntelange Erfahrung hat.

Dennoch stehen sie vor der schwierigen Aufgabe, unter vielen Millionen Menschen die Schutzbedürftigsten zu finden. Unter neun Millionen Vertriebenen allein in Syrien sind 20.000 Menschen vergleichsweise wenig. Doch mehr sei derzeit „politisch wohl nicht durchsetzbar“, sagt Migrationsforscher Gehrke -zumal die EU-Kommission die Staaten nicht zur Teilnahme am Resettlement-Programm zwingen, sondern sie nur auffordern kann. Gehrke nennt die Agenda der EU-Kommission trotzdem einen „guten Start“. Der Unhcr spricht in einer Stellungnahme immerhin von einem „Schritt vorwärts“.

Schulnote: sehr gut
Realisierungswahrscheinlichkeit: hoch (bei mehr als 20.000 Menschen gering)

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Warum sie gehen

Aus dem profil 19/2015

Sind es Clan-Kriege? Ist es der Klimawandel? Oder einfach das Verlangen nach einem besseren Leben? Viele von Europas Bootsflüchtlingen stammen nicht aus Syrien, sondern aus Afrika.

Von Joseph Gepp

Ihr Wunsch wegzukommen ist so groß, dass sie undichte, überfüllte Boote besteigen. Auf dem Weg nach Europa riskieren sie ihr Leben. Was treibt diese Menschen zur Flucht? Im Fall von Syrien und Afghanistan kennt die breite Öffentlichkeit die Gründe, dort herrschen Terror und Bürgerkrieg. Weniger klar sind die Fluchtmotive bei einer ganzen Reihe afrikanischer Länder.

Von dort stammt fast die Hälfte der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, wie die Statistiken der EU-Grenzschutzagentur Frontex belegen. Im Jahr 2014 zum Beispiel handelt es sich zwar beim Großteil jener Menschen, die illegal die Grenze der Schengen-Zone überquerten, um Syrer. Dahinter allerdings folgen – von Afghanistan abgesehen – ausschließlich afrikanische Länder: Besonders viele Flüchtlingen kamen aus Eritrea, danach folgen Mali, Gambia, Nigeria und Somalia.

profil hat mit Experten, Behörden und Flüchtlingen über die Ursachen gesprochen. Es zeigt sich: Oft treibt eine diffizile Gemengelage die Leute davon. Wenn man die Motive genau betrachtet, verschwimmt die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Wirtschaftsund Kriegsflüchtlingen. Eines spielt ins andere hinein und geht ins andere über. Häufig führt ein Krieg in einem Landesteil zu mehr Armut und Not in anderen.

Ein Rundblick in Afrika.

ERITREA

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30 Jahre lang kämpfte das Sechs-Millionen-Volk der Eritreer um seine Unabhängigkeit vom Nachbarn Äthiopien. Nachdem im Jahr 1991 das Ziel endlich erreicht worden war, errichtete der Freiheitskämpfer Isaias Afewerki am Horn von Afrika allerdings eine Diktatur von steinzeitlicher Dimension.

Unter ständigem Beschwören der angeblichen äthiopischen Bedrohung schottet sich Eritrea heute von der Außenwelt ab. Presse- und Versammlungsfreiheit existieren nicht; die einzig zugelassene Partei ist die von Afewerki. Eritrea gilt inzwischen als das Nordkorea Afrikas; aus keinem afrikanischen Staat sind die Flüchtlingszahlen in Richtung Europa annähernd so hoch.

Was genau treibt die Eritreer zur Flucht? Es sind weder Krieg noch Hunger, auch wenn die Lebensbedingungen nicht rosig sind. „Der Auslöser ist ganz klar der nationale Dienst“, sagt Nicole Hirt vom Hamburger Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien. Dieser Dienst wurde im Jahr 2002 eingeführt, nach einem weiteren Grenzkrieg mit Äthiopien. Seither müssen die Eritreer für ihr Land arbeiten, für ein Taschengeld und auf unbestimmte Dauer.

Es ist im Grunde ein riesiges System staatlich organisierter Zwangsarbeit. Der nationale Dienst ist kein klassischer Militärdienst, oft dienen die Menschen auch als Lehrer und Krankenschwestern. Er gilt für Männer wie Frauen, wobei Letztere freigestellt werden, sobald sie schwanger sind. Meist dauert der Dienst rund zehn Jahre – eine Zeit, in der die Eritreer „kein Geld verdienen, nicht heiraten, keine Familie gründen und ihre Eltern nicht versorgen können“, wie Hirt sagt. „Deshalb bleibt ihnen nur die Flucht.“ Ein Abtauchen ist kaum möglich, das kleine Land wird streng überwacht. Wer bei den regelmäßigen Razzien aufgegriffen wird, kommt ins Straflager.

Der Großteil der Flüchtlinge landet in den Nachbarländern. Allein im – politisch ebenfalls instabilen – Sudan sollen derzeit mehr als 100.000 Eritreer leben. Weiter nach Europa schaffen es gemeinhin nur die besser gestellten.

Inzwischen hat das Regime gelernt, von der Massenflucht zu profitieren. Es presst den Emigranten eine Art Einkommenssteuer ab. Die Abgabe wird fällig, wenn man aus dem alten Heimatland etwa einen Reisepass oder eine Ausbildungsbestätigung benötigt. Zwei Prozent auf alle Bezüge – Gehälter genauso wie Sozialhilfen – müssen Auslands-Eritreer sogar dann abliefern, wenn sie über eine andere Staatsbürgerschaft verfügen. Bizarrer Nebeneffekt der Maßnahme: Geld aus Europas Sozialsystemen dient indirekt zur Finanzierung eines der blutigsten Regime weltweit.

SOMALIA

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Seit 27 Jahren tobt in Somalia ein Bürgerkrieg mit wechselnden Teilnehmern, in den vergangenen Jahren jedoch hat der Schrecken für die Bevölkerung einen neuen Namen bekommen: al-Shabaab, wörtlich: „die Jugend“.

Die islamistische Miliz kontrolliert weite Teile von Süd-und Zentralsomalia. Nur im Norden des Landes und in den wichtigsten Städten habe sie keinen Einfluss, sagt Andreas Tiwald, Afrika-Referent der Staatendokumentation des heimischen Bundesamts für Fremdenwesen. In den Städten allerdings droht weiterhin die Gefahr von Anschlägen durch al-Shabaab-Kämpfer.

„Für 80 Prozent der Somalier dauert der Krieg nach wie vor an“, sagt die deutsche Afrika-Journalistin Bettina Rühl, die die Lage in Somalia vor Ort recherchiert. „Das sind schwere, bedrohliche Situationen.“ Menschen bekommen zum Beispiel Droh-SMS, in denen die Islamisten erkennen lassen, dass sie wissen, wo sich ihr Opfer gerade aufhält. Sie erpressen von Geschäftsleuten hohe Schutzgelder, rekrutieren junge Männer zwangsweise und blockieren Straßen, sodass Bauern ihre Felder nicht mehr bestellen können. Dazu verübt die Miliz gezielte Tötungen an angeblichen Agenten des Westens, etwa an Parlamentariern und Mitarbeitern internationaler Organisationen. Der Hass trifft aber mitunter auch die eigenen Kämpfer, die man des Verrats bezichtigt.

Ausländische Vermittlungsversuche und Interventionen konnten bislang immerhin einen Erfolg erzielen: Früher tobte auch noch ein grausamer Krieg zwischen unterschiedlichen Clans in Somalia. Dieser zumindest stellt heute für den Großteil der Zivilbevölkerung keine Gefahr mehr dar, nur die al-Shabaab terrorisiert noch die Somalier.

Der Bürgerkrieg begann bereits im Jahr 1988 mit einem Aufstand gegen den damaligen Diktator Siad Barre. Seither sind Millionen Menschen innerhalb Somalias vertrieben worden. Weitere leben heute in Nachbarländern, allein ungefähr eine halbe Million im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, dem größten weltweit, unweit der somalischen Grenze. Von dort aus versuchen viele in Richtung Europa weiterzukommen.

GAMBIA

Gambia.svg

Das Land, gelegen in Westafrika, ist kleiner als Oberösterreich und hat weniger Einwohner als Wien. Vielschichtige Ursachen treiben die Gambier in die Flucht.

Im Jahr 1994 putschte sich der Militär Yahya Jammeh an die Macht, seither regiert er immer uneingeschränkter. In jüngster Zeit verschlechtere sich die menschenrechtliche Lage „fast im Jahresrhythmus“, sagt der deutsche Westafrika-Experte Heinrich Bergstresser. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa wirft dem gambischen Regime „regelmäßige Folter“ vor. Opfer der Repression seien vor allem kritische Journalisten, Aktivisten sowie Schwule und Lesben.

Bei der Bevölkerungsmehrheit sei Jammeh trotzdem beliebt, sagt Bergstresser – aber auch deren Lage werde kritischer. Die wichtige Tourismusindustrie beispielsweise hat sich nicht nur vom Militärputsch nie richtig erholt, sie befindet sich auch in der Hand des präsidialen Clans. Wer niemanden kennt, bekommt keinen Job.

Dazu kommen umstrittene Fischereiabkommen. Die EU hat sie mit dem Nachbarland Senegal abgeschlossen, das Gambia von drei Seiten her einschließt. Seither fischen Europas Trawler Tausenden lokalen Küstenfischern den Fang weg, etwa Thunfische. Für sich genommen würde dieser Aspekt zwar keine Fluchtbewegung auslösen. Aber die politische Repression, die wirtschaftliche Lage, die Perspektivlosigkeit – all das sind Mosaiksteine, die zur kritischen Situation beitragen.

Meist verlassen nicht die ärmsten Gambier das Land, sondern jene, die lesen und schreiben können. Das Regime hält mit Propaganda dagegen: Zeitungsartikel und sogar Reggae-Songs warnen vor den Gefahren der Meeresüberfahrt und schildern Elend und Ausgrenzung, die in Europa drohen. Bisher hat das die Gambier nicht abgeschreckt.

MALI

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Die Lage in Mali, dem westafrikanischen Land von knapp der doppelten Einwohnerzahl Österreichs, ist kompliziert. Wie bei Gambia führen viele Ursachen dazu, dass das Land am Rand der Sahara in den Flüchtlingsstatistiken weit oben steht.

Da wäre zunächst ein ethnischer Konflikt im Norden. Im Jahr 2012 brach er, wieder einmal, gewaltsam aus. Islamistisch geprägte Rebellen vom Volk der Tuareg riefen einen eigenen Staat aus. Die malische Armee schlug sie – mit vor allem französischer Unterstützung – zurück.

Bürgerkrieg und Terror in Nordmali trieben zwar knapp eine halbe Million Menschen in die Flucht. Diese allerdings „flohen hauptsächlich innerhalb Malis oder in die Nachbarländer“, sagt der Wiener Afrikanist Walter Schicho, der sich in seinem dreibändigen „Handbuch Afrika“ mit der Lage des Kontinents befasst.

Es ist also weniger der unmittelbare Konflikt im Norden, der die Malier zur Flucht nach Europa treibt, sondern seine langfristigen Begleiterscheinungen. Die Städte des Südens, wo es friedlich geblieben war, haben sich mit Flüchtlingen gefüllt. Diese konkurrieren mit der dortigen Bevölkerung um Perspektiven. Das verstärkt den Auswanderungsdruck – zumal Europa in Mali idealisiert wird. Viele Fluchtwillige können zudem auf Verwandte zurückgreifen, die es bereits nach Europa geschafft haben.

In all das mischen sich ökologische Aspekte: Das Klima verschlechtert sich; die Wüste wandert in den Süden. „Schuld ist der Klimawandel, aber auch Fehler in der Landwirtschaft, vor allem die Ausbreitung von Monokulturen“, sagt Schicho. Dies treibt nomadische Hirten des Nordens nach Süden, wo ihre Rinder Nahrung finden. Dort aber leben sesshafte Bauern, mit denen die Nomaden in Konflikt geraten. Und der Druck auf Südmali steigt weiter.

NIGERIA

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Nigeria ist das größte Land Afrikas; jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer. Allein aufgrund seiner Größe spielt das Land eine Rolle in den Asylstatistiken.

Für Unruhe sorgt mit Morden und Entführungen die radikalislamistische Boko Haram im Norden – aber dies schlägt sich in den Fluchtzahlen nach Europas kaum nieder. „Boko Haram hat eher eine Binnenflucht zur Folge“, sagt Westafrika-Experte Heinrich Bergstresser. Die Unruhen im Norden destabilisieren die Gesellschaft und tragen dazu bei, dass sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert.

Dabei wurde für Nigeria – zumindest im Süden – in den vergangenen Jahren sogar ein Wirtschaftsboom konstatiert. Doch Korruption und Vetternschaft sorgen dafür, dass der Wohlstand in der Masse kaum ankommt. Bergstresser macht „eine Mischung aus Zug- und Druckfaktoren“ für die Flucht verantwortlich. Auf der Druck-Seite: wenig Perspektiven für die meisten, eine von Ölkonzernen verwüstete Küstengegend, die Fluchtbewegung von Nord nach Süd.

Der Zug-Faktor hingegen: eine millionenstarke nigerianische Community im Ausland, etwa in Großbritannien, die eine Flucht erleichtert. Und die ungebrochene Strahlkraft des europäischen Traumes, die sich durch Neue Medien inzwischen selbst in entlegenste Dörfer verbreitet.

Dazu kommen Drogen- und Prostitutionsnetzwerke, auf die sich die nigerianische Mafia spezialisiert zu haben scheint. Inwieweit diese ausschlaggebend für die Migration sind, lässt sich nicht quantifizieren. Jedenfalls aber spielen sie eine Rolle. „Es ist ein raffi niertes Geschäftsmodell“, sagt Hannah-Isabella Gasser, die Gründerin der Wiener NGO Footprint für Betroffene von Frauenhandel. Frauen werden mit falschen Versprechungen nach Europa geschleust, wo man sie Komplizen überantwortet und sie auf dem Straßenstrich die angeblichen Reiseschulden abstottern lässt.

Die Menschenhändlerinnen – durchwegs Frauen, die man „Madames“ nennt – statten ihre Opfer mit fixfertigen Fluchtgeschichten aus, die sie Fremdenbehörden auftischen. Sie sind kaum überprüfbar; oft handeln sie von der Verfolgung durch Voodoo-Geheimbünde mit Namen wie „Black Eggs“. Viele dieser Bünde existieren wirklich, über ihre Rolle in der nigerianischen Gesellschaft weiß man aber wenig.


WAS FLÜCHTLINGE ERZÄHLEN


ASHA AYNAB, 23, aus Somalia, derzeit Wien-Penzing

„Ich bin in der somalischen Hauptstadt Mogadischu aufgewachsen. Bevor ich 2007 nach Österreich kam, haben dort Milizen das Haus meiner Familie überfallen. Sie gehörten einer anderen, größeren Volksgruppe an; meine war zu schwach, um sich zu wehren. Wir konnten gerade noch nach Kismayo fliehen, einer Stadt im Süden Somalias, die damals sicherer als Mogadischu war. Von Kismayo aus sind mein Vater und ich – es waren nur wir beide, für die anderen Mitglieder meiner Familie hat das Geld nicht gereicht – über die Grenze nach Kenia gegangen. Von Kenia aus bin ich mit dem Flugzeug nach Syrien gereist und habe mich anschließend über die Türkei und Griechenland nach Österreich durchgeschlagen.“

MUSTAFA JOBE, 18, aus Gambia, derzeit Eisenstadt (aufgrund des laufenden Asylverfahrens wurde der Name geändert)

„Ich stamme aus der Stadt Serrekunda in Gambia. Vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 habe ich mich dem Oppositionsbündnis NADD angeschlossen, der Nationalen Allianz für Demokratie und Entwicklung. Nachdem es bei Wahlkundgebungen Zusammenstöße mit Regierungsanhängern gegeben hatte, begannen mich die Behörden zu schikanieren. Sie steckten mich zum Beispiel tageweise ins Gefängnis und verhörten mich. Wenn ich am Fußballplatz mit Freunden sprach, war kurz danach die Polizei da und durchsuchte alle. Sie schickten auch Briefe an meine Arbeitgeber. So ging das drei Jahre, bis ich im April 2014 schließlich floh: erst in den Senegal und schließlich durch die Wüste und das Mittelmeer nach Italien und Österreich.“

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Sprachen: über die umstrittene Anweisung einer Schulleiterin

Aus dem FALTER 12/2015

Kommentar: Joseph Gepp

Mit Sprachen lässt sich viel Demagogie betreiben. Denn sie stiften Gemeinschaften. Wer eine fremde Sprache spricht, den versteht man nicht. Schnell fühlt man sich ausgeschlossen. Und bekommt das Gefühl, die kochen ihr eigenes Süppchen.

Kein Wunder, dass nicht nur Rechtspopulisten oft in Sachen Sprache polemisieren. In Österreich tut auch die ÖVP gern so, als ließen sich die massiven Probleme des Schulsystems mit dem Slogan „Deutsch vor Schuleintritt“ kurieren.

Dabei übergehen die Politiker, was Sprachwissenschaftler seit Jahren predigen: Das Problem ist nicht die nichtdeutsche Muttersprache. Sondern, dass man Kinder nicht in beiden Sprachen literarisiert.

Möchte man sie wegen ihres kulturellen Hintergrunds nicht beschämen, sollte man ihre Sprache wertschätzen und fördern. Sonst wird nur eine auf die andere draufgepropft, und am Ende fehlt für beide die Basis.

Das Rezept der massiven Förderung der Muttersprachen ist also längst bekannt. Sie würde dafür sorgen, dass Schüler nicht sprachlos dastehen. Der Wirtschaft nutzt die Mehrsprachigkeit auch. Das sollten, wenn schon nicht viele Politiker, zumindest die Pädagogen Österreichs begriffen haben.

Umso schockierender ist ein Rundbrief, den Schüler der Vienna Business School in Mödling öffentlich gemacht haben. Die Direktorin hat das Schreiben offenbar aushängen lassen.

In harschen Worten werden die Schüler darüber informiert, dass „im gesamten Schulhaus (auch in den Pausen) nur die Amtssprache Deutsch eingesetzt werden darf“. Dies gelte auch für Telefonate. Falls Schüler mit ihren Eltern in der Muttersprache reden, dann nur dort, „wo sich keine anderen Personen aufhalten, die sich auf irgendeine Art beleidigt fühlen könnten“.

Beleidigt? Pausen? Inzwischen rudert der Schulerhalter, der Fonds der Wiener Kaufmannschaft, zurück. Er spricht von „Missverständnissen“: Der Brief habe auf einen bestimmten Konflikt zwischen einer mazedonischen Reinigungskraft sowie albanischen und türkischen Schülern gezielt. Bei diesem sollte „die verbindende Unterrichtssprache Deutsch gewählt werden“. Niemand wolle als Ganzes andere Sprachen an der Schule unterbinden, so die Stellungnahme.

Das Problem dabei ist jedoch: Laut Brief wird aufgrund eines Einzelfalls ein für alle geltendes Sprachverbot verhängt. Zumindest klingt es so. Dass sich die Schule auf ihrer Website ihrer „Sprachkompetenz“ und ihres „interkulturellen Verständnisses“ rühmt, das jedenfalls wirkt nicht mehr glaubwürdig.

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Die Fantasien der Vorstadtkrieger

Aus dem FALTER 1–3/2015

In Paris haben Islamisten eine Zeitungsredaktion ausgelöscht. Droht auch in Österreich Gefahr?

BERICHT: JOSEPH GEPP, WOLFGANG ZWANDER

Der Sprecher des Innenministeriums sagt, wir dürften dem Islamismus nicht zu naiv entgegentreten. Die Psychologin sagt, die erste Verteidigungslinie gegen den Terror müsse die Familie sein. Der Islamforscher sagt, die Dschihadisten würden an den Moscheevereinen vorbei agieren. Der Politologe sagt, es gehe nicht um Islamisierung, sondern um Heldenfantasien. Die Innenministerin spricht von einer „Sicherheitsoffensive“, für die sie einen dreistelligen Millionenbetrag ausgeben will.

Nachdem am vergangenen Mittwoch Islamisten die Pariser Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo gestürmt und einen jüdischen Supermarkt überfallen hatten -dabei starben insgesamt 20 Menschen -, wurde schnell klar: Das Verhältnis zwischen Europa und dem Islam hat sich geändert. Es war bislang schon eine angespannte Beziehung zwischen der Religion aus dem Orient und dem Alten Kontinent. Doch seit dem Terrorangriff auf einen der wichtigsten symbolischen Bausteine Europas, die Pressefreiheit, bedarf das Verhältnis womöglich einer generellen Neuüberprüfung.

Warum berufen sich junge Männer auf den Islam, um zu morden? Wie reagieren die Muslime auf diesen Missbrauch ihrer Religion? Welche Gefahr geht vom Islam aus -beziehungsweise von seinen wirren und radikalisierten Interpreten?

Antworten auf diese Fragen betreffen jetzt nicht nur Paris und Frankreich, sondern ganz Europa. Gerade auch Wien, wo sich seit Jahren ebenfalls Islamisten tummeln. Wie sieht die Lage in Österreich aus? Besteht hier konkrete Terrorgefahr?

Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums, sagt: „Es gibt derzeit keine Informationen über konkrete Gefährdungssituationen. Wir dürfen dem Phänomen der islamistisch begründeten Gewaltbereitschaft aber nicht naiv entgegentreten.“ Österreich sei in puncto Radikalisierung für den Dschihad keine Insel der Seligen.

Wien, Graz, Linz, Ende November 2014: Rund 900 Polizisten rücken zur Razzia gegen Dschihadisten aus. Sie durchkämmen Wohnungen, Gebetsräume und Vereinsbüros. 14 Personen werden dabei festgenommen. Von einem der „größten Einsätze in der Geschichte des Staatsschutzes“ spricht Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Die Aktion soll verhindern, dass radikale Kräfte weiterhin Frauen und Männer aus Österreich für den Syrienkrieg anwerben. Bisher haben 170 Personen von Österreich aus den Weg ins syrisch-irakische Kampfgebiet gefunden. 30 davon sind dort laut Innenministerium gestorben, 60 sind inzwischen wieder zurückgekehrt. Gerade von den Rückkehrern, die der Krieg verroht und militarisiert hat, geht hohes Risiko aus. Wer sind diese Leute?

Wenn man die heimische Lage mit der von Frankreich vergleicht, offenbaren sich jedenfalls große Unterschiede. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich führt Krieg gegen islamistische Kämpfer im Irak, in Libyen, in Mali und in Syrien. Dazu kommen interne Probleme in einem Ausmaß, das Österreich fremd ist.

In Frankreich hat die deklassierte vorstädtische Jugend, vielfach Abkömmlinge nordafrikanischer Auswanderer, den Islam neu für sich entdeckt. Weil ihnen fast jede Perspektive auf sozialen Aufstieg verwehrt bleibt, folgen viele von ihnen radikalislamischen Hetzpredigern. Religion vermischt sich dabei mit jugendlicher Rebellion zu einer Art antiwestlicher Popkultur. Das Problem schwelt schon lange. Frankreichs ExPräsident Nicolas Sarkozy sprach von diesen Problemjugendlichen einst als „Gesindel“, das man „wegkärchern“ müsse.

Dass der Extremismus der französischen Unterschicht aber nicht exklusiv mit dem Islam zu hat, sondern generell mit der sozialen Benachteiligung afrikanischstämmiger Franzosen und der Kolonialgeschichte, zeigt niemand besser als Jean-Paul Sartre, wahrscheinlich wichtigster Philosoph Frankreichs des 20. Jahrhunderts. Er echauffierte sich über die Ungerechtigkeit, mit der die „Grande Nation“ ihre Kolonialvölker behandelte, mit harschen Worten: „Einen Europäer zu töten“, schrieb Sartre, „heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“

Österreichs Vergangenheit hingegen stellt keine so große Bürde dar. Die heimischen Hauptprobleme mit dem Islamismus resultieren aus zwei viel jüngeren Konflikten: dem Bosnienkrieg (1992-1995) und den zwei Kriegen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien (1994-1996 und 1999-2009). Flüchtlinge aus diesen beiden Regionen haben radikalislamistische Strömungen nach Österreich importiert. Von den 170 österreichischen Syrien-Kämpfern stammt laut Innenministerium rund die Hälfte aus Tschetschenien, der Rest hat zu großen Teilen Wurzeln auf dem Westbalkan.

Bei der Großrazzia gegen Islamisten im November zum Beispiel holte die Cobra Mirsad O. aus einer Gemeindebauwohnung in der Donaustadt, einen serbischen Muslim. Der Ex-Imam einer Kellermoschee im Stuwerviertel, Kampfname Ebu Tejma, soll 64 Kämpfer für den Syrienkrieg angeworben haben. Die Staatsanwaltschaft nennt ihn einen „Hauptideologen des globalen dschihadistischen Islamismus“. Wien dient den Radikalen vom Balkan gern als Rückzugsort, wie offizielle Vertreter des bosnischen Islams oft beklagen. Die serbische Zeitung Večernje novosti schrieb unter Berufung auf Geheimdienstquellen erst Anfang Dezember von „Al-Qaida-Zellen“ in Wien.

Wie bei den Bosniaken hat der Islamismus auch bei den Tschetschenen mit ihrer Kriegsvergangenheit zu tun. In Wien gibt es eine der größten tschetschenischen Exilgemeinden Europas, eine Folge der hohen Asylanerkennungsquote zu Beginn der Nullerjahre. Die Tschetschenen, viele vom Krieg traumatisiert, ziehen laut Verfassungsschutz eher aus politischen denn aus religiösen Gründen in den Syrienkrieg. Sie wollen dort auf Umwegen ihren Erzfeind, den russischen Präsidenten Putin, bekämpfen -ein wichtiger Verbündeter des syrischen Präsidenten Assad, der im Bürgerkrieg gegen Islamisten kämpft.

Kommende Woche etwa beginnt in Krems ein Strafverfahren gegen den Syrien-Rückkehrer und gebürtigen Tschetschenen Magomed Z., dem vorgeworfen wird, sich im Nahen Osten dem islamistischen Terror angeschlossen zu haben.

Zu Tschetschenen und Bosniaken kommen noch „homegrown terrorists“. Das sind Jugendliche, die sich oft noch im Kinderzimmer im Internet selbst radikalisieren. So war es bei Mohamed Mahmoud, der einen Anschlag auf die Fußball-EM 2008 plante. Später wurde er wegen des „Bildens und Förderns einer Terrorvereinigung“ zu vier Jahren Haft verurteilt. Nachdem er 2011 freigelassen worden war, tauchte Mahmoud in Deutschland unter. Heute wird er in Syrien oder dem Irak vermutet, wo er sich laut Medienberichten dem Islamischen Staat angeschlossen haben soll.

Zahllose Vertreter des Islams in Europa distanzierten sich nun von der Bluttat. Aber was können islamische Organisationen gegen den Terror tun? Kaum etwas, meint der renommierte französische Politologe Olivier Roy. Unberührt von klassischen islamischen Organisationen „erfinden“ sich die jungen Leute ihren eigenen Islam. „Sie streben nicht etwa eine Islamisierung ihrer Gesellschaft an, sondern allein die Realisierung ihrer wirren Heldentumsfantasien.“

Auch für den Wiener Soziologen und Szenekenner Kenan Güngör agieren die Dschihadisten „an klassischen Moscheevereinen vorbei“. Trotzdem, sagt Güngör, brauche es eine andere Diskussion: „Bislang beharrt der größte Teil der Muslime darauf, dass der Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Aber wir brauchen auch eine textkritische Auseinandersetzung mit dem, was die Terroristen als ihre religiösen und geistigen Quellen angeben, was in ihren Augen die Gewalt legitimiert. Wir brauchen eine inhaltliche, theologische Debatte.“

Davon abgesehen ließe sich die Terrorgefahr in Europa auch mit sozialen Maßnahmen eindämmen. Die Soziologin Edit Schlaffer, Gründerin der internationalen NGO „Frauen ohne Grenzen“, hat in von Terror betroffenen Ländern wie Pakistan, Indien und Kaschmir sogenannte „Mütterschulen gegen Extremismus“ gestartet – „ein Konzept, das man eins zu eins auf Europa übertragen könnte“, wie sie sagt.

Die erste Verteidigungslinie gegen den Terror müsse die Familie sein. In zehnwöchigen Kursen lernen die Mütter, wie sie die Gefahr erkennen können und rechtzeitig reagieren, wenn ihre Kinder in Gefahr geraten, Ideologien und Verlockungen von Rekrutierern zu folgen. Was genau dort gelehrt wird?“Selbstvertrauen, um mit den Heranwachsenden zu debattieren und sich einzumischen und einzusetzen. Sie müssen Frühwarnsignale registrieren und in die richtige Richtung kanalisieren. Dafür müssen Mütter sensibilisiert werden. Außerdem sollen sie Wendepunkte in den Biografien der Kinder erkennen können
-das sind oft enge Zeitfenster, an denen sie gefährdet sein könnten, in den Radikalislamismus abzugleiten.“ Schlaffers Fazit: „Dschihadisten treffen Jugendliche immer während einer absoluten Identitätskrise. Dann geben sie den Jungen erstmals das Gefühl, wichtig zu sein.“

Im Moment jedoch dominiert in Europa die Diskussion über Sicherheit. Tage nach dem Anschlag debattierten in Paris die Innenminister der EU-Staaten über neue Maßnahmen. Für Österreich etwa spricht Mikl-Leitner von einer „Sicherheitsoffensive“ :mehr gepanzerte Fahrzeuge, größere Hubschrauber und stärkere Kontrollen auf Autobahnen. Auch eine neue Form der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene ist im Gespräch, wiewohl Frankreich über eine solche ohnehin verfügt – zwecklos, wie sich herausgestellt hat.

Überhaupt stellt sich die Frage, inwiefern mit Sicherheitsmaßnahmen dem Problem beizukommen ist. Die Attentäter von Paris waren polizeibekannt. Geholfen hat das nicht, im richtigen Moment stand niemand bereit, um den Anschlag zu verhindern. Alle rund 3000 Rückkehrer aus Syrien in Europa zu überwachen wäre personalmäßig und finanziell nicht zu bewältigen.

Es scheint, als bliebe als Lösung nur jener Weg, wie ihn etwa Schlaffer vorschlägt: terroristische Karrieren zu unterbinden, ehe sie entstehen. Mit der Hilfe von Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern, Sozialarbeitern, Lehrern und Imamen. Die Schlacht um die Köpfe der Problemjugendlichen wird nur gewinnen, wer ihnen eine bessere Perspektive gibt. Sonst werden einige von ihnen auch weiterhin mit der Waffe ihr eigenes Land angreifen.

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„Verschwörung der Juden“: Wiens größte Moschee nimmt Stellung

Aus dem FALTER 38/2014

Bericht: Joseph Gepp
Foto: Julia Fuchs

Die größte Moschee Wiens hat derzeit ein PR-Problem, das Islamische Zentrum am Floridsdorfer Donauufer steht in der Kritik.

Zunächst behauptete Anfang September ein Dschihadist auf Puls 4, die Moschee rüste Gotteskrieger aus, ohne Anhaltspunkte zu nennen. „Blödsinn“, entgegnete das Zentrum.

Vergangene Woche schließlich berichtete der Falter von fragwürdigen Inhalten auf der Website der Moschee. Von „einer Verschwörung der Juden, die Muslime töten“ war dort in einem autobiografischen Bericht einer jungen Frau zu lesen.

Nun nimmt Salim Mujkanovic, Pressesprecher des Zentrums, Stellung. Der Text beinhalte „völlig verfehlte Aussagen“. Man habe die Stelle übersehen, sonst wäre er „nie auf unserer Homepage hochgeladen worden“. Der Text sei im Rahmen einer Facebook-Umfrage entstanden und dann auf die Website übernommen worden, so Mujkanovic. Inzwischen ist er wieder verschwunden.

Salim Mujkanovic ist Pressesprecher und Imam in Wiens größter Moschee, dem Islamischen Zentrum in Floridsdorf. Ein Text mit antisemitischen Aussagen sei aus Versehen auf der Website des Zentrums gelandet, sagt er (Foto: Julia Fuchs)

Salim Mujkanovic ist Pressesprecher und Imam in Wiens größter Moschee, dem Islamischen Zentrum in Floridsdorf. Ein Text mit antisemitischen Aussagen sei aus Versehen auf der Website des Zentrums gelandet, sagt er (Foto: Julia Fuchs)

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