Aus profil 8/2018
Jeder hat schon vom „Neoliberalismus“ gehört. Dabei ist der sogenannte Ordoliberalismus mindestens ebenso einflussreich in Europa. Was ist das und warum sorgt es im Kampf gegen die Krise für viel Kritik? Eine Einordnung.
Interview:
Joseph Gepp
Der „Neoliberalismus“ ist in aller Munde. Dieser Begriff, der durchwegs von Kritikern gebraucht wird, bezeichnet die globale Liberalisierungs- und Privatisierungswelle seit den 1980er-Jahren, verbunden mit Steuererleichterungen für Reiche und Großunternehmen -auf dass deren Spendierfreude auch der breiten Masse zugute komme.
Weit weniger bekannt ist der sogenannte Ordoliberalismus. Dabei ist diese Spielart des wirtschaftlichen Liberalismus mindestens ebenso einflussreich in Europa. Vor allem seit Ausbruch der internationalen Finanz-und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 bewegt er die Gemüter. EU-Staaten wie Finnland, die Niederlande und vor allem Deutschland verschreiben im Kampf gegen die Eurokrise gern ordoliberale Rezepte – durchaus nicht unumstritten und mit teils fragwürdigen Ergebnissen.
Ordo-und Neoliberalismus betonen beide, dass Märkte und Wettbewerb wichtig sind. Aber: Im Ordoliberalismus bekommt der Markt einen starken Staat zur Seite gestellt. Er legt die Regeln fest, etwa indem er rigoros gegen Monopole vorgeht. Strikt abgelehnt wird, dass Marktteilnehmer Haftung für andere übernehmen. Jeder ist selbst für die Folgen seines Handelns verantwortlich. „Der Ordoliberalismus setzt auf unbedingte Regeleinhaltung, nahezu koste es, was es wolle“, sagt der deutsche Ökonom Hans-Helmut Kotz, der am Center for European Studies an der US-Universität Harvard und an der Universität Frankfurt am Main arbeitet.
Der Ordoliberalismus entstand in Deutschland, vor allem durch den 1950 verstorbenen Freiburger Ökonomen Walter Eucken. Die strikte Regeltreue, die sich in dieser ökonomischen Schule herausbildete, muss man vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verstehen. Sie ist beispielsweise durch die Erfahrungen der mächtigen Wirtschaftskartelle zur Zeit der Weimarer Republik geprägt -und vor allem durch die Nazizeit. Damals hatte ein Klüngel aus Unternehmern und diktatorischem Staat eine Willkürherrschaft ausgeübt. Der Ordoliberalismus der deutschen Nachkriegszeit bezweckte mit der Trennung der Sphären auch eine Verhinderung derart verhängnisvoller Machtzusammenballungen.
In einem soeben erschienenen, lesenswerten eBook in englischer Sprache versammeln Kotz und sein Koherausgeber Thorsten Beck wissenschaftliche Beiträge zum Thema Ordoliberalismus. profil traf den Ökonomen Kotz am Rande einer Veranstaltung der Oesterreichischen Nationalbank, bei der das Buch präsentiert wurde. Das Gespräch geriet bald zur Bilanz der europäischen Krisenpolitik.
profil: Herr Kotz, was ist Ordoliberalismus?
Kotz: Das ist die ökonomische Schule, welche die Wirtschaftspolitik im Nachkriegsdeutschland prägte. Sie setzt hauptsächlich auf den Markt. Allerdings kommt auch dem Staat eine wichtige Aufgabe zu – ein Unterschied zu den sogenannten Neoliberalen. Für Ordoliberale soll der Staat einen stabilen und verlässlichen Ordnungsrahmen bereitstellen. Dazu gehört auch die Berücksichtigung sozialer Aspekte. Die soziale Marktwirtschaft, das Leitbild deutscher Wirtschaftspolitik, basiert auf ordoliberalen Vorstellungen.
profil: Wie passt es zum sozialen Anspruch des Ordoliberalismus, dass viele Kritiker in Europa gerade der deutschen Regierung Hartherzigkeit und unsoziale Politik vorwerfen, vor allem bei der Bekämpfung der Eurokrise in Südeuropa?
Kotz: Die Eurokrise wird von Ordoliberalen im Kern als eine Folge davon verstanden, dass der Ordnungsrahmen nicht funktioniert, auf den sie doch so viel Wert legen. Falsche Anreize und defekte Institutionen sind die Wurzel des Problems. Deshalb funktionieren Märkte, Arbeits-wie Gütermärkte, nicht. Eventuelle Probleme mangelnder Nachfrage hingegen werden von Ordoliberalen ausgeblendet. Sie zweifeln nicht nur daran, dass makroökonomische Stabilisierungspolitik wirksam ist. Sie lehnen diese auch ab, weil sie den Preismechanismus verzerrt.
profil: Makroökonomische Stabilisierungspolitik – was ist das?
profil: Wie hat sich diese Zugangsweise in der Krise gezeigt?
Kotz: Die ehrgeizige Sparpolitik, die den europäischen Krisenländern verordnet wurde, verringerte die dortige wirtschaftliche Auslastung noch zusätzlich. Deshalb wuchsen -trotz aller Sparanstrengungen -die Schulden relativ zum Sozialprodukt. Das Sozialprodukt, der Nenner, ging zurück – und an ihm bemisst sich die Schuldenquote. Man hatte zu wenig bedacht, dass infolge von Staatsausgabensenkungen und Steuererhöhungen die Nachfrage einbricht.
profil: Ein anderes Merkmal des Ordoliberalismus ist kompromisslose Regeltreue.
Kotz: Pacta sunt servanda, wie es so schön heißt. Ein Abweichen von Regeln bedeutet, dass man Willkür oder Partikularinteressen die Tür öffnet. Vertrauen geht verloren.
profil: Wie hat sich dieses starre Festhalten an Regeln in der Krise geäußert?
Kotz: Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass man sich an gute Regeln hält, im Gegenteil. Aber Regeln können nicht alles abbilden. Sie sind je nach Lage verantwortlich zu interpretieren. Ein Beispiel: Nach einer bestimmten Lesart des Ordoliberalismus sind Bankenrettungen grundsätzlich unzulässig, weil sie das Haftungsprinzip verletzen. Hätten die Staaten jedoch während der Finanzkrise das Banksystem nicht gerettet, wäre es wohl zusammengebrochen – mit gravierenden Folgen für die übrige Wirtschaft. Als im Sommer 2007 der sogenannte Interbankenmarkt vor dem Kollaps stand – die Banken wollten einander kein Geld mehr leihen -, hat die EZB 92 Milliarden Euro an Liquidität für das Bankensystem bereitgestellt. Sogleich kritisierten einige die EZB als panisch und hyperaktiv. Man haue die Banken raus, lautete der Vorwurf. Beim nächsten Mal würden sie es noch schlimmer treiben. Denn jeder soll für die Folgen seines wirtschaftlichen Handels selbst einstehen, so sehen es die Regeln der Marktwirtschaft vor. Klingt plausibel, oder? Die Frage ist aber: Wie hoch darf der Preis der Regeltreue sein? Regeln müssen glaubwürdig sein. Und eine Regel ist nicht glaubwürdig, wenn ihre Umsetzung zum Selbstmord führt.
profil: Die Politiker haben aber zahlreiche Bankenrettungen durchgezogen -abseits aller ordoliberalen Bedenken.
Kotz: Wenn es wirklich ernst wird, stellt die Politik, auch die deutsche, dann doch das Gebetsbuch ins Regal zurück und handelt. Das bedeutet aber nicht, dass ordoliberales Denken in der Krise völlig irrelevant gewesen wäre.
profil: Die EU hat erst im Jahr 2017 wieder jene Wirtschaftsleistung erreicht, über die sie vor der Krise verfügte, im Jahr 2007. Die USA erreichten bereits 2012 das Vorkrisenniveau. Eine Folge von zu viel ordoliberalem Denken in Europa?
Kotz: In gewisser Weise, ja. Insbesondere in Europa wurde auf die Stabilisierung der Nachfrage weit weniger Wert gelegt. Die Eurokrise hätte nicht so tief sein müssen. Zum Teil wurde kontraproduktiv agiert. Griechenland beispielsweise hätte mehr Zeit für die Sanierung seines Haushalts -der durchaus notwendigen Verringerung der Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen -bekommen sollen. Die Ziele waren zu ehrgeizig, ihre Verfolgung letztlich kontraproduktiv und damit teuer. Zugegeben: Einem Sanierungsland mehr Zeit zu geben, setzt auch voraus, dass dort eine vernünftige Politik betrieben wird. Aber aus Sicht von Gläubigerstaaten wie Deutschland und Österreich geht es hier um wohlverstandenen Eigennutz. Also darum, den Schaden für alle Beteiligten nicht noch größer zu machen.
profil: Europas Umgang mit Griechenland resultierte daraus, dass die Euro-Staaten nicht für die Fehler des anderen bezahlen wollen. Ist das nicht verständlich?
Kotz: Absolut. Sie drücken mir ja auch nicht, wenn ich finanzielle Probleme habe, Ihre Kreditkarte in die Hand und geben mir freie Hand, wie ich darüber verfüge – zumal ich möglicherweise mein problematisches Verhalten gar nicht ändere. Eine Anpassung in den Krisenländern war jedenfalls unabdingbar. Früher allerdings hätten die Länder wirtschaftliche Störungen abfedern können, indem sie ihre Wechselkurse anpassen – er wirkte wie ein Stoßdämpfer. In der Währungsunion geht das nicht mehr. Damit bleiben für die Krisenländer nur noch die Anpassung der Löhne und Preise, Transferzahlungen oder Migration. Deshalb sollten vorübergehende wirtschaftliche Schocks durch fiskalische Puffermechanismen abgefedert werden.
profil: Fiskalische Puffermechanismen -so wie sie das Eurozonen-Budget vorsieht, das Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gern einführen würde?
Kotz: Macrons Vorschläge sind noch sehr unkonkret. Es gibt aber seit sehr langer Zeit Diskussionen über automatische Stabilisierungsmechanismen, etwa jene über eine Arbeitslosenversicherung, die den gesamten Euro-Raum umfasst. Derartige Unterfangen sind schwierig, aber notwendig.
profil: Lassen sie sich politisch durchsetzen?
Kotz: Letztlich werden solche Reformen wohl nur akzeptiert, wenn die Bürger sehen, dass dies in ihrem eigenen Interesse ist. Es geht darum, die Währungsunion stabil zu halten. Würde die Eurozone auseinanderfallen, wären die wirtschaftlichen Folgen fatal, gerade auch für Deutschland und Österreich. Der gesamte Euroraum zieht einen Nutzen aus einer stabilen Währungszone -aber diese hat einen Preis. Er muss nicht hoch sein. Aber bei null liegt er auch nicht.
profil: Wenn es misslingt, Puffermechanismen einzuführen – wird die Eurozone dann zerfallen?
Kotz: Eher nein. Wir werden uns wohl irgendwie durchwursteln. Aber dieses unvollständige Arrangement ist mit dauernden Wohlstandsverlusten verbunden. Hinzu kommt, dass die Kräfte an den Rändern, die Frustrierten von links wie von rechts, dadurch Rückenwind bekommen.
Thorsten Beck, Hans-Helmut Kotz: Ordoliberalism. A German oddity? Gratis-Download (nach Registrierung) unter: https://tinyurl.com/ordoliberalismus