Aus dem profil 14/2016
Er bewegt Billionen Euro. Er bereitet Millionen Kreditnehmern ruhige oder schlaflose Nächte. Je nachdem. Was der Zinssatz Euribor über die Kapriolen des internationalen Finanzsystems erzählt.
Von Joseph Gepp
Werktags, 10.45 Uhr. Immer um diese Zeit steigen die dafür zuständigen Mitarbeiter in 23 Bankzentralen überall in Europa in ein spezielles Computerprogramm ein. Sie wählen eine gesicherte Internet-Verbindung, denn sie müssen sensible Daten übertragen. Danach tippen sie ein paar Zahlen ein, die auf elektronischem Weg verschickt werden.
Es ist ein unspektakulärer Vorgang, Alltag, fast unbekannt außerhalb der Bankenszene. Doch auf diese Weise entsteht eine der wichtigsten und einflussreichsten Kennzahlen der Finanzwelt. Was die Banker täglich in ihre Computer tippen, spüren viele Österreicher ganz unmittelbar in ihren Geldbörsen. Und zwar mehr als jede Gehaltsanpassung und Steuerreform.
„Euribor“ heißt der Zinssatz, der festlegt, wie hoch die Zinsen für viele variabel gestaltete Kredite in Europa ausfallen. Die Abkürzung steht für „Euro Interbank Offered Rate“. Der Euribor ist ein sogenannter Referenzzinssatz. Eigentlich besagt diese Zahl, in welcher Höhe Europas Banken durchschnittlich Zinsen entrichten, wenn sie einander Gelder leihen. Doch der Euribor dient als Basis für viele andere Geschäfte. Hauptsächlich für die Höhe von Kreditzinsen. Laut dem Bankeninstitut EMMI („European Money Markets Institute“) in Brüssel hängen immerhin 28 Prozent der Kredite im Euroraum – Gesamtwert: 1,4 Billionen Euro – am Euribor. Und es werden derzeit immer mehr, weil die Kreditzinsen derart niedrig sind.
Steigt der Euribor-Referenzzins, wird die Kreditrate des Schuldners höher – und umgekehrt. All das mag zunächst technisch und kompliziert klingen. Doch in der Geschichte des Euribor spiegeln sich exemplarisch all die wilden Entwicklungen der Finanzwelt im vergangenen Jahrzehnt, und ihre Missstände.
Da wären etwa die Betrügereien in den Jahren der internationalen Finanzkrise, an deren Folgen die Wirtschaft bis heute leidet: Auch der Euribor wurde damals manipuliert. Da wären weiters die darauffolgenden Versuche, das Bankensystem stabiler und missbrauchsresistenter zu machen: gespiegelt auch im Ringen um eine Reform des Euribor. Und schließlich wäre da die derzeitige, historisch beispiellose Niedrigzinspolitik von Zentralbanken wie der Europäischen Zentralbank (EZB). Sie soll neues Wirtschaftswachstum anstoßen. Und auch sie wirkt sich massiv auf den Euribor aus.
Was zeigt der Zinssatz nun an? Was beeinflusst er? Wie genau kommt er zustande?
Brüssel, Avenue des Arts Nummer 56, gerade zehn Gehminuten vom EU-Parlament entfernt. Hier hat das Bankeninstitut EMMI seinen Sitz, das den Euribor verwaltet. Betrieben wird es von allen europäischen Banken gemeinsam. Sie führten den Euribor im Jahr 1999 ein.
23 Banken tragen heute zu seiner Ermittlung bei. Sie werden vom EMMI ausgewählt und wechseln regelmäßig. Derzeit umfasst das Spektrum etwa die finnische Pohjola-Bank, die französische PNB-Paribas und die Deutsche Bank. Eine österreichische Bank ist nicht darunter; in den vergangenen Jahren jedoch zählte etwa die Erste Group zum Klub. Jeden Vormittag übermitteln diese Finanzinstitute die Zinssätze, von denen sie meinen, dass sie unter Banken für Kredite verlangt werden – und zwar für verschiedene Laufzeiten, zwischen einer Woche und zwölf Monaten.
Die Banken schicken ihre Sätze an ein darauf spezialisiertes Unternehmen in Wellington, Hauptstadt Neuseelands: Global Rate Set Systems Ltd., gegründet von einem neuseeländischen Banker und einem Finanzjournalisten, übernimmt dann die Rechenarbeit. Die Firma bildet den Durchschnitt aus den eingegangenen Zahlen. Die höchsten und niedrigsten 15 Prozent lässt sie dabei außer Acht, damit keine Ausreißer den Durchschnittszins verzerren. Und fertig ist der Euribor.
Mit seiner Einführung 1999 sollte auch Kontinentaleuropa bekommen, was es anderswo bereits gab. So zeigt etwa der Libor („London Interbank Offered Rate“) bereits seit dem Jahr 1986 an, zu welchen Zinssätzen Londons Banken untereinander Geld verleihen. Der Tibor erfasst den gleichen Wert seit 1995 für Banken in Tokio.
Der Sinn dahinter: Dass Kredite für Kunden an derartige Referenzzinssätze gekoppelt werden, macht es Banken flexibler. Denn die Höhe der ausständigen verliehenen Gelder schwankt nun, je nachdem, wie viel die Bank ihrerseits für geliehenes Geld bezahlen muss. Tut sie sich dabei schwer, wird auch der Kredit für die Kunden teurer. Die Flexibilität der variablen Verzinsung, so das Motiv der Banken, ermöglicht insgesamt mehr Kreditvergaben. Und mit dem Euribor 1999 sollten nun auch die Finanzierungsmöglichkeiten europäischer Banken passgenau mit den Zinsen ihrer Kreditnehmer in Einklang gebracht werden.
Ausgerechnet diese Grundidee jedoch droht den Banken heute auf den Kopf zu fallen. Denn ihre Finanzierungsmöglichkeiten sind inzwischen nicht nur günstig, sondern geradezu ideal – und demnach werden auch die Kredite für die Kunden immer billiger.
Dahinter steckt die Politik der Zentralbanken, vor allem jene der EZB in Frankfurt. Seit Jahren senkt sie die Leitzinsen. Banken können sich extrem billig Geld von der EZB beschaffen, dafür sollen sie viele Kredite vergeben. Die EZB tut alles, dass sich Sparen nicht rentiert und Kredite billig sind. Neue Schulden, hofft sie, führen zu neuen Investitionen. Damit will sie gegen die Folgen der jahrelangen Wirtschaftskrise ankommen. Mittlerweile müssen Banken sogar einen geringen Strafzins an die EZB entrichten, wenn sie ihre Gelder ungenutzt bei der Zentralbank deponieren.
Die Folge all dessen für den Euribor: Er ist tief wie nie. Vor der Finanzkrise 2008 lag er meistens bei rund fünf Prozent. Später, 2012 bis 2014, grundelte er immerhin noch bei einem Viertelprozent herum. Vor einem Jahr schließlich sackte der Euribor endgültig in den negativen Bereich ab, auf aktuell minus 0,243 Prozent beim Drei-Monats-Euribor. Das bedeutet: Wenn heutzutage eine Bank einer anderen Geld borgt, muss sie, statt dafür Zinsen zu kassieren, eine kleine Summe drauflegen. Kredite unter Banken sind derart billig geworden, dass es sie nicht einmal umsonst gibt.
Können nun auch private Kreditnehmer, etwa in Österreich, in den Genuss von Negativzinsen kommen? Noch ist die Frage theoretisch. Denn Kreditnehmer mit variabler Verzinsung zahlen zusätzlich zur Euribor-Rate bestimmte Aufschläge an ihre Banken, je nach individueller Kreditwürdigkeit. Meist betragen sie ungefähr einen Prozent. Sollte jedoch der Euribor noch weiter ins Negative rutschen, ist es durchaus möglich, dass Banken künftig ihre Kunden für Kredite bezahlen müssen. Konkret könnte dies in Form von Zinsgutschriften aufs Kreditkonto erfolgen. Die Banken jedenfalls weigern sich bereits vorsorglich (profil berichtete).
Die Debatte um mögliche Negativzinsen ist bereits die zweite in wenigen Jahren, die den Euribor in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Die erste Causa gibt es schon länger, seit der Finanzkrise 2008. Sie handelt von schweren Manipulationen. Von Hunderten Seiten Ermittlungsunterlagen aus dem US-Justizministerium. Von Protokollen voller jovial-derber Unterhaltungen (siehe unten), in denen sich Banker illegal absprechen. Sie lassen tief in die fragwürdigen Geschäfte zur Zeit der Finanzkrise blicken.
Ungefähr zwischen den Jahren 2003 und 2011 wurde der Euribor manipuliert, genauso wie seine Pendants Libor und Tibor. Heute willigen Großbanken wie die Schweizer UBS oder die britische Barclays-Bank in Milliardenzahlungen ein, um sich weitere Ermittlungen zu ersparen. Allein die Deutsche Bank etwa stimmte vergangenes Jahr einer Zahlung von 2,3 Milliarden Euro Strafe an britische und amerikanische Justizbehörden zu.
Das Wesen der Manipulation begreift man, wenn man die Doppelfunktion des Euribor kennt. Mit ihm lassen sich nämlich nicht nur Zinsen variabel gestalten, man kann auch auf seine Entwicklung Wetten abschließen. Die Wettpartner einigen sich auf eine bestimmte Grenze, die der Euribor unter- oder überschreiten muss. Bei diesen sogenannten Derivatgeschäften geht es um gigantische Summen: Laut EMMI beträgt der derzeitige Nominalwert aller Finanzkontrakte, die auf dem Euribor basieren, mehr als 180 Billionen Euro. Involviert in solche Geschäfte sind etwa Großkonzerne, Versicherungsunternehmen, Investmentfonds aller Art – sowie ausgerechnet jene Banken, die zur Ermittlung des Euribor beitragen.
Häufigstes Muster des Missbrauchs: Ein Derivate-Händler einer Bank schloss ein Wettgeschäft auf den Euribor ab. Das konnte im Auftrag von Kunden erfolgen, meist jedoch geschah es auf Rechnung der eigenen Bank. Danach wandte sich der Derivate-Händler an jenen Kollegen in seiner Bank, der für die Übermittlung des Beitrags zur Euribor-Rate zuständig ist. Er bat den Übermittler um falsche Angaben. Oft entschieden schon wenige Hundertstelprozentpunkte über den Erfolg des Händlers. Da reicht es mitunter, wenn eine von 23 Banken falsche Zahlen meldet.
Laut US-Ermittlungen wurden nicht nur Zinssätze innerhalb einzelner Banken manipuliert, manchmal sprachen sich sogar mehrere Geldhäuser ab. Der Schaden für Bankkunden und betrogene Geschäftspartner beträgt bisher rund 17 Milliarden Dollar, schätzen Rechtsanwälte. Die Affäre hat die Öffentlichkeit und die Gesetzgeber aufgerüttelt. Die EU-Kommission etwa arbeitet seit dem Jahr 2012 an strengeren Transparenzregeln für Referenzzinssätze wie den Euribor. Mit zahlreichen Maßnahmen versucht sie, Interessenskonflikte innerhalb von Banken zu vermeiden.
Im bankeneigenen EMMI-Institut beteuert man heute auf profil-Anfrage, dass derartige Methoden der Vergangenheit angehören. Ein neuer Verhaltenskodex für jene Banken, deren Angaben dem Euribor zugrundeliegen, sorge seit 2013 für Transparenz, sagt EMMI-Sprecherin Andrea Fernandez-Carnicero. Wenn Banker Zinssätze übermitteln, gilt nun ein Vier-Augen-Prinzip. Alle Telefongespräche, die den Euribor betreffen, werden aufgezeichnet, alle E-Mails archiviert.
Ein weiterer Reformversuch des EMMI betrifft jenes Unternehmen, das den Euribor ausrechnet. Die neuseeländische Global Rate Set Systems ist für diese Aufgabe erst seit 2014 zuständig. Zuvor hatte lange der US-Medienkonzern Thomson Reuters die Funktion inne. Warum der Wechsel? Man wollte „einen Rechendienstleister, der völlig unabhängig von anderen Stakeholdern ist“, sagt Fernandez-Carnicero. Hintergrund: Thomson Reuters rechnete nicht nur für das EMMI den Euribor aus, der Konzern erstellt daneben auch Statistiken für Banken. Derartige Interessenskonflikte will man vermeiden.
Die Bankenwelt steht unter Druck, das Vertrauen wiederherzustellen und Instrumente wie den Euribor manipulationssicher zu gestalten. Der entscheidende Schritt dorthin steht erst bevor. Am 4. Juli dieses Jahres plant das EMMI den Wechsel vom derzeitigen zum sogenannten „transaktionsbasierten Euribor“. Das bedeutet: Künftig sollen nicht mehr nur die Angaben einiger Banker über die Höhe des Zinssatzes entscheiden. Man will stattdessen auch – mithilfe spezieller Berechnungsmethoden – tatsächlich getätigte Kreditgeschäfte zwischen Banken in die Ermittlung des Euribor miteinbeziehen.
Manipulationen, Reformbemühungen, Zinsabstürze. Der Euribor bildet alle wichtigen Entwicklungen der Finanzwelt der vergangenen Jahre ab. Jetzt soll er endlich mehr werden als das, was er letztlich ist: eine etwas bessere Umfrage.
„Nein, das ist illegal“
In Chatrooms, E-Mails und Telefonaten sprachen Banker darüber, in welche Richtung sie Euribor und Libor zu manipulieren gedenken, damit ihre Spekulationsgeschäfte erfolgreich sind. Wie sich Derartiges anhört? Die folgenden Protokolle wurden von profil aus dem Englischen übersetzt und gekürzt. Sie stammen aus Ermittlungsunterlagen des US-Justizministeriums von 2015 und betreffen vornehmlich die Deutsche Bank.
Händler: Können wir einen hohen Sechsmonats-Libor bekommen, bitte?
Übermittler: Klar Alter, wo willst du ihn haben, Mann?
Händler: Denke, es sollte 9,5 sein?
Übermittler: Cool, er ist auf 9 gegangen, 9,5 ist super.
Händler: Guten Morgen, können wir euch um ein niedriges Einmonats-Fixing (die Rate des Euribor, die übermittelt wird, Anm.) bitten?
Übermittler: Schwierig, ich glaube (Name eines vorgesetzten Managers) will ihn höher haben.
Händler: Oh nein! Aber Ladys first, oder nicht 😉
Übermittler: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Händler: Genau … deshalb betteln wir euch jetzt schon seit zwei Monaten an!!
Übermittler: Aber du unterschreibst nicht meinen Gehaltsbonus, oder?
Händler: Hmm, leider nicht.
Händler: Und … (ein Branchenkollege von der UBS-Bank, Anm.) sagte: „Kannst du ihn (den Libor, Anm.) niedrig machen?“ Ich sagte: „Ja, okay.“ Am Ende des Tages ging er runter.
Unbekannter Anrufer: Das gibt’s doch nicht.
Händler: Ja, und er macht es mit 16 Banken so (lacht).
Unbekannter: Das heißt (der UBS-Banker) fragt 16 Banken?
Händler: Vielleicht nicht 16, aber weißt du, wenn er acht Banken hat, reicht es auch. (…) Deshalb ist der Libor gestern gestiegen. Aus keinem anderen Grund. (…)
Unbekannter: Ist das legal oder illegal?
Händler: Nein, das ist illegal.