Monatsarchiv: Dezember 2015

Hinter dem A+++

Aus profil 50/2015

Waschmaschinen, Staubsauger, Fernseher: Sie alle tragen die EU-Energieeffizienzplakette. Das soll Verbrauchern helfen, Geld zu sparen und das Klima zu retten. Doch die Hersteller der Geräte tricksen, der Energieverbrauch verringert sich kaum – dank eines Alibi-Systems, das an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Von Joseph Gepp

Das ist die Geschichte einer Plakette, sie ist ungefähr zehn mal zwanzig Zentimeter groß, aus Karton, in Plastik eingeschweißt, bedruckt mit bunten Pfeilen und Buchstaben, und sie ist viel viel Geld wert.

Das sogenannte europäische Energieeffizienz-Label zeigt an, wie sparsam Haushaltsgeräte laufen. Es hängt es auf Waschmaschinen, Staubsaugern, Gasthermen oder Kühlschränken. „D“, steht dort beispielsweise in roter Farbe. Oder „A“ in gelber. Oder „A+++“ in grüner. Je grüner, desto besser. Bei 57 Prozent der Konsumenten fließen solche Angaben in die Kaufentscheidung mit ein, heißt es in einer Umfrage des deutschen Forsa-Instituts. Ein Konzern von heute kann auf gute Labels für seine Produkte nicht mehr verzichten. Allerdings: „Hier wird heftig getrickst“, sagt Sepp Eisenriegler. „Das ganze System ist hinterfragenswert.“

Eisenriegler, ein 62-jähriger Wiener, Gründer des sogenannten Reparatur- und Servicezentrums, steht in einer Hinterhofhalle in Wien-Penzing. Hier betreibt er seine Werkstatt. 21 Leute reparieren unter Eisenrieglers Leitung gegen Bezahlung gebrauchte Geräte, die ihre Besitzer nicht wegwerfen wollen. In den Regalen hinter ihm stapeln sich Espressomaschinen, Fritteusen und Plattenspieler. Auf Eisenrieglers Geräten hängen ebenfalls Plaketten, aber nicht die bunten der Energieeffizienz, sondern weiße, auf denen mit schwarzem Filzstift die Namen der Besitzer gekritzelt stehen. Eisenriegler kennt sich aus bei Haushaltsgeräten. „Den Kunden wird etwas vorgegaukelt“, sagt er. „Mit Sparen hat das alles kaum etwas zu tun.“

Seit Monaten erschüttert der VW-Skandal die Autowelt. Der deutsche Autokonzern hat illegale Software in seinen Wagen installiert. Der Ausstoß giftiger Abgase war dadurch zwar im Testlabor niedrig, beim echten Fahren der Autos auf der Straße jedoch hoch. Die VW-Affäre hat zahlreiche Debatten ausgelöst. Ähnliche Vorwürfe gibt es inzwischen auch in Richtung Audi, Porsche und Renault. Und bei Haushaltsgeräten?

Eines „Verhaltens ähnlich wie im Volkswagen-Skandal“ bezichtigte im Oktober der britische Staubsauger-Hersteller James Dyson seinen deutschen Konkurrenten Bosch. Dieser, so Dyson, würde mittels Sensor den Energieverbrauch seiner Staubsauger manipulieren, und damit die Angaben auf der Plakette. Die Stiftung Warentest wiederum, die Konsumentenschutzorganisation in Berlin, stößt bei ihren Produkttests regelmäßig auf „Täuschungsmanöver“, was den Energieverbrauch von Geräten betrifft. Was ist da los? Werden die Konsumenten belogen? Die schöne bunte Plakette – ein Betrug, so wie bei VW?

Die umstrittenen EU-Energieeffizienz-Labels (hier für Staubsauger) sollen anzeigen, wie sparsam Haushaltsgeräte laufen (Umweltbundesamt)

Die umstrittenen EU-Energieeffizienz-Labels (hier für Staubsauger) sollen anzeigen, wie sparsam Haushaltsgeräte laufen (Umweltbundesamt)

Die Ausgangsbedingungen jedenfalls wären bei Haushaltsgeräten und Autos ähnlich: Hier wie dort versucht die europäische Politik seit Jahrzehnten, den Energieverbrauch zu senken. Das Klima, über dessen Schutz bei der Konferenz in Paris gerade verhandelt wird, soll damit geschont werden. Und die Geldbörse des Verbrauchers: Bei Haushaltsgeräten etwa soll die Stromrechnung eines durchschnittlichen europäischen Haushalts ab dem Jahr 2020 um 465 Euro jährlich niedriger ausfallen, sagt die EU-Kommission – dank zahlreicher Energieeffizienz-Gesetze. So wie den bunten Buchstaben von G bis A+++, die derzeit für 15 Produkte vorgeschrieben sind. Neben Staubsaugern und Waschmaschinen etwa für Klimaanlagen, Fernseher und Geschirrspüler.

Allerdings: Leistungsstarke Staubsauger saugen trotzdem besser als schwache. Heißes Waschmaschinenwasser, das mit hohem Stromverbrauch erhitzt wird, reinigt gründlicher als kaltes. Und so ist der Grundkonflikt bei Haushaltsgeräten derselbe wie bei Autos: Hohe Leistung würde es angenehmer machen für den Konsumenten. Doch niedrige kommt ihn billiger und macht sich besser in der Klimabilanz.

Wer wissen will, wie die Haushaltskonzerne mit diesem Spagat umgehen, muss zurück in die Hinterhofwerkstatt von Sepp Eisenriegler. Dort führte er im Jahr 2010 ein Experiment durch. Eisenriegler wollte wissen, mit wie wenig Strom Waschmaschinen auskommen, ohne dadurch schlechter zu funktionieren.

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Sogleich jedoch stieß er auf ein Problem. Die Ergebnisse seiner Verbrauchstests sollten ja vergleichbar sein mit jenen offiziellen Tests, wie sie Prüfinstitute in ganz Europa durchführen. Bei diesen werden Verbrauch und Energieeffizienz ermittelt; die Ergebnisse liegen der EU-Energieeffizienzplakette zugrunde. Eisenriegler musste sich also in die komplexe Welt der Normung einarbeiten und die diffizilen Regeln strikt standardisierter Produkttests kennenlernen. „Da reicht es bei Weitem nicht“, sagt er, „wenn man eine Waschmaschine aufdreht und einen Stromzähler dranhängt“.

Eisenriegler richtete also beispielsweise eine Klimakammer ein, denn die Außentemperatur bei den Tests muss immer gleich sein – es ist ein fensterloser, gefliester Raum hinter einer dicken Metalltür. Er kaufte bei Spezialfirmen Normtextilien aus Baumwolle, wie sie bei Waschmaschinentests statt normaler Schmutzwäsche verwendet werden. Diese Textilien sind mit Normflecken versehen, Öl, Blut, Kakao, Rotwein. Danach wird alles mit Normwaschmittel gewaschen. „Solche Tests kosten inklusive Vorbereitung bald einmal ein paar Hunderttausend Euro“, sagt er.

Was Eisenriegler im kleinen Maßstab machte, führen im großen zertifizierte Prüfinstitute durch. Die Bedingungen, unter denen die Tests ablaufen, werden zuvor in einem komplexen Prozedere ausverhandelt. Tausende Beteiligte sind europaweit darin involviert. In Österreich zum Beispiel informiert das Austrian Standards Institute (ASI), ein gemeinnütziger Verein in Wien, alle Stellen, die daran interessiert sein könnten, wie neue Normen für ein bestimmtes Produkt aussehen sollen. Es können Unternehmen sein, Behörden, Umweltschützer oder Wissenschafter. Danach treffen sich Beteiligte aus allen europäischen Ländern in Brüssel. Jeder, der Interesse hat und vom Fach ist, kann mitverhandeln, wie die Tests ablaufen.

Die Organisatoren dieser Verfahren sind die Normungsinstitute aus den einzelnen EU-Ländern, also etwa Österreichs ASI. Manche von ihnen, wie das ASI, verraten der Öffentlichkeit, wer genau aus dem jeweiligen Land an den Verhandlungen teilnimmt. Andere Institute jedoch tun das nicht. Folge: Für ganz Europa lässt sich nicht nachvollziehen, wer beispielsweise die Kriterien für Waschmaschinentests festlegt und wie diese Verhandlungen genau ablaufen. Kritiker beklagen eine Übermacht der Konzerne. Jedenfalls: Was bei den Verfahren herauskommt, ist oft „nicht sehr realitätsnah“, kritisiert die deutsche Stiftung Warentest, einer der größten unabhängigen Tester von Haushaltsgeräten.

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Zum Beispiel Kühlschränke. Sie sind im Test prinzipiell leer, weil die Testbedingungen dies so vorsehen – dabei würden sie mit Inhalt mehr Energie verbrauchen. Oder Fernseher: Bei ihnen ist das Bild auf maximale Dunkelheit gestellt. Oder Staubsauger: Sie werden nicht nur immer mit leerem Beutel getestet, sondern auch mit energieschonenden Spezialdüsen. Die saugen sich derart stark am Boden fest, dass man sie unter Haushaltsbedingungen gar nicht verwenden könnte.

Oder eben Waschmaschinen. Hier werden für die Energieeffizienz-Tests nicht etwa alle Waschgänge berücksichtigt, sondern nur bestimmte. Es sind vor allem Öko-Programme, die oft mehrere Stunden lang laufen. Auf ihnen basiert dann der Energieverbrauch, der auf der Plakette angegeben ist. In Wahrheit jedoch ist er viel höher, sobald der Benutzer die üblichen Normalprogramme auswählt. Die schonen dann weder das Klima noch die Geldbörse des Konsumenten.

Andere Praktiken wirken fast kurios. So könnte man als Konsument annehmen, dass die Wassertemperatur in der Maschine 60 Grad erreicht, wenn man einen 60-Grad-Waschgang auswählt. Das ist aber nicht der Fall, wie Messungen der Stiftung Warentest ergeben. Stattdessen erreicht die Temperatur etwa im 60-Grad-Öko-Waschgang nur 43,2 Grad (bei einer Miele-Maschine) oder gar 26,9 (bei einer von AEG). Der Grund: Die Wassertemperatur ist bei den Tests kein zwingendes Kriterium.

Auf einen speziellen Trick stieß die Stiftung Warentest außerdem bei einigen Bosch-Siemens-Waschmaschinen. Die Prüfer der deutschen Organisation messen die Wassertemperatur gemeinhin am Anfang eines Waschgangs. Die Maschinen waren deshalb so konstruiert, dass am Beginn kurz 60-Grad-Wasser in sie geleitet wird. Gleich darauf jedoch folgt kälteres, sodass die Durchschnittstemperatur lediglich 40 Grad beträgt.

Wie rechtfertigen die Konzerne solche Praktiken? Auf profil-Anfrage argumentiert Bosch-Siemens mit der „Waschwirkung“. Diese sei entscheidend, nicht die Wassertemperatur: „Es kommt nicht darauf an, dass die Wäsche mit genau 60 Grad gewaschen wird, sondern dass die Waschwirkung auf 60-Grad-Wäsche optimiert ist.“ Überdies weist der Konzern mit Sitz in München darauf hin, dass es durchaus auch Waschprogramme gebe, die tatsächlich die angegebenen 60 Grad erreichen. Nur brauchen diese eben deutlich mehr Energie.

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Ähnlich ist die Kritik bei Staubsaugern. „Bosch installiert in einigen seiner Maschinen eine Elektronik, um das EU-Energielabel zu umgehen“, klagt der britische Unternehmer James Dyson im „Daily Telegraph“. Dyson hat Interesse daran, die Causa zu skandalisieren, weil seine Firma im Gegensatz zum deutschen Konkurrenten nur beutellose Staubsauger anbietet.

Bei jenen mit Beutel nimmt die Saugleistung tendenziell ab, je voller der Beutel ist. Und genau hier trickse Bosch, behauptet Dyson. Ein Sensor im Gerät sorge dafür, dass die Leistung der Geräte von 750 auf 1600 Watt hochschnellt, sobald sich Staub im Beutel befindet. Das bedeutet: Mit leerem Beutel glänzen die Staubsauger mit der Bestnote A+++. Sobald beim echten Benutzen Staub ins Spiel kommt, erreichen sie nur noch ein E oder F.

Bei Bosch-Siemens bestreitet man die Existenz des Sensors gar nicht. Nur sei das kein Trick, sondern völlig legitim, weil regelkonform, argumentiert der Konzern. Offiziell gemessen wird der Energieverbrauch nämlich nur mit leerem Beutel, so sehen es die Testkriterien bei Staubsaugern vor.

Hinter diesem Argument steckt auch der große Unterschied zur VW-Affäre: Volkswagen hat Gesetze gebrochen, Bosch-Siemens und andere Konzerne nicht. Sie bewegen sich, zumindest so weit bisher bekannt, im Rahmen der Vorschriften. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof Mitte November eine Klage von Dyson gegen Bosch-Siemens abgewiesen. Das deutsche Unternehmen habe nichts Unrechtes getan – es nutzt nur die Lücken in den Prüfverfahren maximal aus. Allerdings: Für das Klima ist diese Unterscheidung egal, und für die Geldbörse des Verbrauchers auch.

Weil Umwelt- und Konsumentenschutzorganisationen deshalb scharfe Kritik an der EU-Energieeffizienz-Plakette üben, arbeiten die europäischen Institutionen in Brüssel an einer Reform. Momentan verhandeln Mitgliedsstaaten und EU-Parlament. Bei Staubsaugern zum Beispiel werde die EU-Kommission wohl bald bei den Normungsinstituten erwirken, dass Tests mit teilbefülltem statt leerem Beutel stattfinden, sagt Chris Spiliotopoulos von der Umweltorganisation Ecos in Brüssel.

Für Sepp Eisenriegler, den Tüftler aus Penzing, ist das bei Weitem nicht genug. Geht es nach ihm, sollten Europas Politiker nicht nur transparente und vernünftige Testkriterien durchsetzen. Sondern überhaupt das ganze Konzept der Energieeffizienz infrage stellen. „Wir müssen breiter denken“, sagt er.

Denn die Energieeffizienz ist kein absoluter Wert, sondern bemisst sich im Vergleich zur Größe des Geräts. Und Letztere wächst seit Langem stark an. Fernseher haben heute größere Bildschirme als früher, Kühlschränke fassen mehr Lebensmittel, Waschmaschinen mehr Wäsche. Eine durchschnittliche Waschtrommel etwa fasst heute laut dem deutschen Bundesverband der Verbraucherzentralen fast einen halben Kilo mehr Wäsche als im Jahr 2012. Das bedeutet: Was an Effizienz gewonnen wird, geht wegen der Größe wieder verloren. Bei manchen Produkten steigt trotz großer Effizienzgewinne der absolute Stromverbrauch sogar an.

Experten wie Chris Spiliotopoulos von Ecos fordern aus solchen Gründen – neben realitätsnahen Testbedingungen – gleich eine Neuaufstellung des EU-Energieeffizienzlabels. Dieses solle in seiner Bewertung mehr abbilden als nur die Effizienz, sagt er. Wenn zum Beispiel das Gerät nach der Entsorgung gut verwertbar ist, soll das ebenfalls die Bewertung verbessern. Oder wenn es die dazugehörigen Ersatzteile lange Zeit im Handel zu kaufen gibt.

Das ist die Geschichte einer Plakette, sie ist ungefähr zehn mal zwanzig Zentimeter groß, bedruckt mit bunten Pfeilen und Buchstaben, und sie ist viel viel Geld wert. Vergangene Woche legten die EU-Energieminister in Brüssel einen ersten groben Entwurf vor, wie eine Neuordnung des EU-Energieeffizienzlabels aussehen könnte. Nach einer tiefgreifenden Reform sieht es nicht aus.

Ob die Testverfahren künftig realitätsnäher ablaufen, ist noch weitgehend offen. Dazu flossen die Forderungen nach einer Neuaufstellung, wie jene von Spiliotopoulos, kaum in den Entwurf ein. Stattdessen soll der Konsument künftig nur noch schneller erkennen, welches Gerät effizient ist und welches nicht. Zu diesem Zweck plant man beispielsweise, dass die vielen Plus-Zeichen hinter der Bestbewertung A verschwinden. Und die besten Geräte, die es derzeit zu kaufen gibt, sollen überhaupt nur die Klasse B erreichen. Damit Luft nach oben ist. Für noch mehr Effizienz.

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Hallo, hier spricht Unbekannt

Aus profil 49/2015

Fast überall sonst ist es verboten, nur in Österreich bleibt es erlaubt: das anonyme Wertkartenhandy. Oft dient es nicht nur harmlosen praktischen, sondern handfesten kriminellen Zwecken.

Von Joseph Gepp

1,99 Euro. Die neue Handynummer kostet beim Diskonter Hofer nicht mehr als zwei Packungen Kaugummis. Sie lautet 0677 617 979 34. Um zehn oder mehr Euro extra kann man auch gleich Gesprächsguthaben dazukaufen. Namen und Adresse muss der Kunde nicht angeben; auch ein Ausweis ist nicht erforderlich. Nach keiner vollen Minute ist der Kauf vollbracht. Jetzt kann es losgehen mit dem Telefonieren, und zwar ganz anonym.

Rund 4,1 Millionen Wertkarten- oder Prepaid-Telefonnummern kursieren derzeit laut der heimischen Telekom-Regulierungsbehörde in Österreich. Das sind halb so viele, wie das Land Einwohner hat. Vielen Nutzern dürfte nicht bewusst sein, dass ihre Telefonie-Praxis eine exotische ist. Denn viele andere Staaten haben längst verboten, dass man im Supermarkt anonyme Nummern erwerben kann.

Bei Österreichs Nachbarn Italien, Deutschland und Tschechische Republik beispielsweise ist die Praxis seit rund einem Jahrzehnt untersagt. Überall muss man zumindest einen Ausweis vorlegen oder sich registrieren – aus Gründen der Terror- und Verbrechensprävention. Nach den Anschlägen von Paris soll nun auch in Belgien und Luxemburg bald mit anonymen Nummern Schluss sein. Er wolle nicht, dass Luxemburg eines der wenigen Länder bleibe, in denen man sie noch erhalten könne, sagt der dortige Premier Xavier Bettel.

Und Österreich? Gerüchteweise denkt die SPÖ-ÖVP-Regierung auch hier über ein Verbot nach, doch auf Medienanfragen hin wiegelt man ab. Die Maßnahme werde derzeit nicht diskutiert, verlautbarte gegenüber der APA das Büro von SPÖ-Verkehrsminister Alois Stöger, in dessen Ressort die Telekommunikation fällt. Auch im ÖVP-geführten Innenministerium gibt es laut Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck keinen aktuellen Vorstoß in diese Richtung: „Für den heutigen Terrorismus sind andere Kommunikationsmittel von viel größerer Bedeutung.“

Ist die Gefahr, die von den anonymen Wertkarten ausgeht, tatsächlich vernachlässigbar, obwohl sie so viele Länder in Europa verbieten?

Das nunmehrige Verbot in Belgien und Luxemburg dürfte jedenfalls vor allem daraus resultieren, dass nach den Anschlägen von Paris ein Handy auftauchte. Die Ermittler fanden es nahe dem Musikklub Bataclan in einer Mülltonne. Darauf gespeichert: verdächtige SMS („Es geht los, wir fangen an“) und Geodaten, welche die Polizisten zu einem Hotel im Pariser Vor-ort Alfortville führten. Dort sollen sich einige der Terroristen vor den Attacken einquartiert haben. Genaueres allerdings ist bislang nicht bekannt, etwa ob das Handy ein anonymes war und aus welchem Land es stammte.

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Konkreter sind Hinweise auf anonyme Wertkartenhandys bei weiter zurückliegenden Anschlägen. Sowohl in New York 2001 als auch in Madrid 2004 kamen solche zum Einsatz. Im Jahr 2002 gab die Schweizer Polizei bekannt, dass Terroristen aus dem engen Umfeld der 9/11-Attentäter mit Schweizer Wertkartenhandys telefoniert hätten – genauso wie in Madrid zwei Jahre später. Die Regierung in Bern verbot daraufhin das anonyme Telefonieren, weil es „zur Vorbereitung und Durchführung krimineller und terroristischer Taten“ gedient habe.

Eines jedoch muss man bedenken: Die Welt der Telekommunikation hat sich seit 2004 rasant entwickelt. Aufgrund viel avancierterer Möglichkeiten des Informationsaustausches sind Terroristen heute weniger auf Handys angewiesen als vor einem Jahrzehnt. Wie der Aufdecker Edward Snowden 2013 enthüllte, observieren US-Geheimdienste etwa die Kommunikation in Online-Spielen wie „World of Warcraft“, weil diese zur Planung von Anschlägen diene. Wertkartenhandys hingegen haben wohl viel von ihrer Bedeutung eingebüßt.

Das gilt allerdings nicht für ein weites Feld der Kriminalität abseits des Terrors. Hier scheint die anonyme Telefonie immer noch eine große Rolle zu spielen. Zwar gibt es keine Statistiken über den Zusammenhang mit der Häufigkeit von Verbrechen. Aber eine große Zahl von Berichten kündet von einem breiten kriminellen Einsatzspektrum der Wertkarten. Es reicht von kaum durchdachten Dummheiten bis hin zur Mordvorbereitung.

Beispiele: Die Wiener „Eis-Lady“ Estibaliz Carranza orderte 2010 telefonisch Kettensäge und Beton, bevor sie ihren Mann umbrachte – unter falschem Namen mit anonymem Handy. Ein 30-jähriger Vorarlberger wiederum drohte 2012 anonym mit einer Bombe im Zug nach Bludenz. Drinnen saß die Freundin, die ihn soeben verlassen hatte.

Eine große Rolle spielen Wertkarten zudem im Drogenhandel. Luxemburgs Premier führt ihn als einen Hauptgrund für das geplante Verbot in seinem Land an. In Österreich gehören Wertkartentelefone, oft viele gleichzeitig, „zur Standardausstattung von Dealern“, sagt der Wiener Rechtsanwalt Roland Friis, der mit Suchtdelikten befasst ist. Größere Drogenhändler verschenken laut Ermittlern oft Handys an gute Kunden, um sorgenfrei Bestellungen entgegennehmen zu können.

Zum Einsatz kommen Wertkartenhandys auch oft zum Zweck des Stalking. Davon zeugen nicht nur zahlreiche Klagen von Betroffenen in Internet-Foren – auch darüber, dass sich die Ausforschung der Täter aufgrund der Anonymität extrem kompliziert und zeitaufwendig gestaltet. Vergangenen März wurde etwa das Wiener Model Victoria Belicka, Gewinnerin eines Schönheitswettbewerbs im Privatfernsehen, Opfer massiver anonymer Telefon-Drohungen.

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Zu den prominentesten Wertkartenbenutzern hierzulande zählt etwa Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, der „seine SIM-Karten öfter wechselt als andere die Unterhosen“, wie es in einem Einvernahmeprotokoll heißt, das 2013 das Magazin „Format“ veröffentlichte. Oder etwa Robert Mang, der 2003 das „Saliera“-Salzfass aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum stahl. Anschließend drohte er per SMS mit dessen Einschmelzung. Die Polizei kam Mang auf die Schliche, weil sie ermittelte, dass die SIM-Karte in einem Mobilfunkgeschäft in der Mariahilfer Straße gekauft worden war. Dort tauchte Mang schließlich auf den Bildern der Überwachungskamera auf.

Sollte man anonyme Wertkartenhandys also verbieten? Der Wiener Datenschutzexperte Andreas Krisch – er sitzt auch für die Grünen im Datenschutzrat – ist skeptisch. „Daraus würde eine große, staatlich angeordnete Datenverarbeitung folgen“, sagt er. Man müsse sich fragen, „ob das verhältnismäßig und notwendig ist und ob es einfachere Lösungen gibt“. Der Experte verweist darauf, dass Kriminalfälle wie der Saliera-Diebstahl auch trotz anonymer Wertkarten aufgeklärt werden konnten.

Aber vielleicht würde sich das Verbot gar nicht so sehr auf die großen, komplexen Fälle auswirken. In diesen nutzt die Polizei nämlich ohnehin all ihre technischen Möglichkeiten. Überdies: Wer heutzutage einen Terroranschlag oder eine raffinierte Erpressung plant, findet wohl ohnehin einen Weg, anonym zu kommunizieren.

Vielleicht würde ein Verbot eher jene treffen, die zu Verbrechern werden, weil es leicht geht – ob Stalker oder kleine Drogenkuriere. Von diesen würden sich möglicherweise einige ihre Tat zwei Mal überlegen, wenn es vorher an der Hofer-Kassa heißt: Den Ausweis bitte!

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„Die manische Depression wird heftiger“

Aus profil 48/2015

Ein Ökonomieprofessor aus Prag und ein Journalist aus Wien haben ein Buch geschrieben, in dem sie die Wirtschaft und ihre Krisen aus psychologischer Sicht durchleuchten. Ein Gespräch über Spielsucht, Bipolarität und Elektroschocks.

Interview: Joseph Gepp

Manager, die in esoterisch angehauchten Seminaren lernen, ihr Sozialverhalten an jenes von Wölfen in einem Rudel anzugleichen. Wall-Street-Banker, die sich Hormontherapien unterziehen, um mit höherem Testosteronspiegel entscheidungsfreudiger zu agieren. Großkonzerne, die jährlich feststehende Quoten an Mitarbeitern feuern, um den Leistungsdruck zu steigern.

Sedlacek_Lilith-und-die-Daemonen-des-KapitalsDie Marktwirtschaft in ihrer derzeitigen Form habe einige schwerwiegende psychische Defekte, konstatieren ein Wirtschaftsprofessor aus Prag und ein Journalist aus Wien in einem neuen Buch, „Lilith und die Dämonen des Kapitals“ (Hanser Verlag, € 26,80). Tomáš Sedlácek (Autor des Bestsellers „Die Ökonomie von Gut und Böse“) und Oliver Tanzer („Die Furche“, ehemals profil) legen „die Ökonomie auf Freuds Couch“ – als wäre sie ein Individuum. Zur Hilfe dienen den Autoren dabei nicht etwa moderne makroökonomische Modelle, denn diese verwechseln ohnehin „Theorie mit Gebet“, wie sie schreiben. Sondern uralte Mythen aus vielen Kulturen. Zum Beispiel jener des althebräischen Dämons Lilith, der jeden Tag 100 kleine Dämonen gebären muss, um sie gleich wieder zu töten. Damit sei Lilith „ein Sinnbild für das Drama des modernen Kapitalismus“.

profil: Worunter leidet der Kapitalismus?

Oliver Tanzer: Zum Beispiel unter Spielsucht, Realitäts- und Angstörungen. Das System besteht eben nicht nur aus zählbaren und logischen Eigenschaften, sondern auch aus psychischer Energie der Individuen, die es formen. Dieser Aspekt wird aber gerne ignoriert und unterdrückt, besonders wenn es um die krankhaften Defekte des Systems geht.

Tomáš Sedlácek:
Die Ökonomie lässt uns auch glauben, wir bräuchten immer mehr Wachstum, um unsere Probleme zu lösen. Wir könnten so aus ihnen herauswachsen, lautet die Ansicht. Deshalb muss alles wachsen, allen voran das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Wirtschaft.

profil: Die Marktwirtschaft werde „immer aggressiver und fehleranfälliger“ schreiben Sie, was sich zum Beispiel in Wirtschaftskrisen niederschlage. War sie früher gesünder?

Die Ökonomie lässt uns auch glauben, wir bräuchten immer mehr Wachstum, um unsere Probleme zu lösen. Wir könnten so aus ihnen herauswachsen, lautet die Ansicht. Deshalb muss alles wachsen, allen voran das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Wirtschaft.

Sedlácek: Wenn es um die Intensität der krankhaften Erscheinungen geht, sicherlich. Wir verbringen unsere Zeit heute quasi stärker nach vorne gelehnt. Unsere Geschäftigkeit ist zum Selbstzweck geworden. Die Angst, in der Zukunft zu versagen, treibt uns an. In dieser Vorauspanik verschwindet praktisch die Gegenwart. Das ist auch die Ursache unserer Melancholie.

Tanzer:
Die Geschäftigkeit ist ein selbstverstärkender Prozess einer wirtschaftlichen Instabilität. Wer nicht ausbalanciert ist, kompensiert das mit noch mehr Geschwindigkeit, noch mehr Gier nach Wachstum. Und vielen geht es auch persönlich so: Wenn aus der Arbeit private Probleme resultieren, begegnet man dem oft mit noch mehr Arbeit.

profil: Wer Ihr Buch liest, denkt sich an vielen Stellen: Stimmt! Andererseits: Sprechen wir wirklich von Defekten des Kapitalismus oder nicht vielmehr von solchen der menschlichen Natur? Immerhin beziehen Sie sich auf Mythen, die mitunter Jahrtausende alt sind, lange, bevor es die Marktwirtschaft gab.

Sedlácek: Hier sind wir direkt beim Mythos der Lilith. Diese erste Frau Adams floh aus dem Garten Eden, weil sie sich von ihrem Mann unterdrückt fühlte. Aber was war denn eigentlich falschgelaufen im Paradies? Gar nichts. Die Gleichheit zwischen Mann und Frau war perfekt. Es gab nur Gottes frisch erschaffene Wesen. Es gab zudem kein Geld, keine Banken, kein Wachstum – es war ein stationäres System, kein produktives. Viele Geschichten wie diese finden sich in den alten Mythen. Das Muster: Kaum hat eine göttliche Kraft die Menschen erschaffen, entfremden sich Letztere, trotz aller noch so guten Ausgangsbedingungen. Karl Marx ordnete später das gleiche Gefühl dem Kapitalismus zu, als er beschrieb, wie sich die Arbeiter von den Früchten ihrer Arbeit entfremden. Was Marx fühlte, kannten aber schon die Schreiber der Antike. Es ist keine Eigenschaft des Systems, sondern etwas Allgemeinmenschliches.

Was Marx fühlte, kannten aber schon die Schreiber der Antike. Es ist keine Eigenschaft des Systems, sondern etwas Allgemeinmenschliches.

profil: Eben, also die menschliche Natur.

Tanzer: Psychologisch und sozial gesehen gab es schon immer Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die aus Gier und Herdentrieb resultieren. Klagen darüber finden sich in allen Historien und Gesellschaftskonzepten. Aber der moderne Wachstumskapitalismus stellt diese rohen Triebe mehr denn je in den Dienst des Systems. Dort können sie fröhlich und facettenreich vor sich hin blühen.

Sedlácek: Unser derzeitiges System macht sich die Schwächen der Menschen zunutze, statt sie zu unterdrücken. Früher hat man das, was man an sich selbst nicht akzeptieren wollte, bekämpft, zum Beispiel als Dämon im eigenen Inneren. Oder man wollte ihm durch die Instanz der Vergebung beikommen, wie im Christentum. Heute hingegen fördern unsere negativen Eigenschaften die Produktivität. Das heutige System scheint in dieser Hinsicht jenes zu sein, das am besten zu unseren negativen Impulsen passt. Und tatsächlich suggeriert es uns, es ginge uns so gut wie nie zuvor. Aber wir sollten seine Schwächen kennen, weil sie zugleich unsere eigenen sind und weil uns ihre Erkenntnis vor größerem Leid bewahrt.

Der moderne Wachstumskapitalismus stellt diese rohen Triebe mehr denn je in den Dienst des Systems. Dort können sie fröhlich und facettenreich vor sich hin blühen.

profil: Der britische Ökonom John Maynard Keynes schrieb vor 85 Jahren: Wenn der technischen Fortschritt endlich weit genug sei, würden wir alle kaum noch arbeiten müssen, sondern können uns auf die Vervollkommnung unserer Persönlichkeiten konzentrieren, ohne von lächerlichen ökonomischen Problemen abgelenkt zu sein. Es hat offenkundig nicht funktioniert.

Sedlácek: Keynes hat einen Fehler gemacht. Er dachte, es gibt einen Punkt, an dem das menschliche Verlangen zufriedengestellt ist. Aber das Verlangen, das auf jedes Verlangen folgt, kann gar nicht erfüllt werden, denn es vervielfacht sich.

profil: Also müssen wir unsere individuelle Bescheidenheit trainieren?

Tanzer: Nicht nur, es braucht auch strukturelle Veränderungen. Zunächst muss sich das Paradigma der Arbeit ändern. Sigmund Freud hat sie als die „Religion des modernen Menschen“ bezeichnet. Wer arbeitslos wird oder in der Arbeitshierarchie absteigt, erlebt oft eine geradezu religiöse Erschütterung und Verdammung durch die Gesellschaft. Er wird vom kollektiven Über-Ich verurteilt. Dahinter steht, dass der Wachstumskapitalismus keine gesunde Stagnation vorsieht. Es gibt nur Wachstum oder Zerfall: Würde ein Staat – oder ein Unternehmen – beschließen zu stagnieren, würde es sogleich von anderen überholt werden. Arbeitsplätze würden massiv verloren gehen. Die Löhne würden stark zurückgehen, und damit der Konsum. Die Volkswirtschaft würde ins Chaos taumeln.

Es gibt nur Wachstum oder Zerfall: Würde ein Staat – oder ein Unternehmen – beschließen zu stagnieren, würde es sogleich von anderen überholt werden. Arbeitsplätze würden massiv verloren gehen. Die Löhne würden stark zurückgehen, und damit der Konsum. Die Volkswirtschaft würde ins Chaos taumeln.

Sedlácek: Es ist paradox. Wenn man alle guten Ratschläge von Ökonomen zusammennimmt, erhält man in Summe so etwas wie das japanische Modell. Dort heißt es: Arbeite härter, studiere intensiver, investiere mehr in Ausbildung und Infrastruktur! Der Witz daran ist, dass Japan trotz all dieser Eigenschaften selbst nicht mehr wachsen kann. Selbst wenn wir also alle Japaner würden, die Wirtschaft würde irgendwann stagnieren. Womit wir beim Theorem vom goldenen Plafond des Konsums wären: Jemand, der schon zwei iPods besitzt, braucht kein drittes, nicht einmal gratis. Und jetzt meine Frage: Warum ist das eigentlich eine schlechte Nachricht? Keynes wäre mit diesem paradiesischen Zustand hochzufrieden. Aber der Wachtumskapitalismus ist es nicht, und deshalb leiden wir an all diesen Deformationen, an zu viel Aggression und systemimmanenter Kleptomanie.

profil: Und an Bipolarität, wie Sie schreiben, dem Schwanken zwischen Manie und Depression.

Sedlácek: Ja, wobei mir die manischen Perioden mehr Sorgen bereiten. Schauen Sie sich die USA im Jahr 2007 an: Das BIP wuchs, die Arbeitslosigkeit war niedrig, die Produktivität hoch. Und genau in dieser Situation brach die Finanzwirtschaft, das Rückgrat der US-Wirtschaft. Mit Folgen in aller Welt. So etwas kann heute wieder passieren.

profil: Nur sind wir heute weit vom Boom des Jahres 2007 entfernt.

Sedlácek: Wir sind von der manischen in die depressive Phase gerutscht. Die grundlegende ökonomische Frage war bisher: Soll man die Wirtschaft in Krisenzeiten mit Hilfsmaßnahmen retten oder nicht? Heute ist das anders: Wir haben keine Medizin mehr. Die Staaten haben kein Geld, um das System zu retten, und der monetäre Ansatz über die Veränderung von Zinssätzen funktioniert auch nur noch begrenzt. Die Zentralbanken, die EZB und die Fed, sind zu den letzten Kreditoren des Systems geworden. Kreditor bedeutet auf Lateinisch „der Gläubige“. Damit wird der religiöse Charakter dieser Krise offenbar: Die Zentralbanken sie die einzigen, die noch an dieses System glauben – und glauben müssen.

Jemand, der schon zwei iPods besitzt, braucht kein drittes, nicht einmal gratis. Und jetzt meine Frage: Warum ist das eigentlich eine schlechte Nachricht?

Tanzer: Es gibt auch hier eine interessante Parallele zur Psychiatrie: Unsere Wirtschaftskrisen gleichen einer sehr schweren Form der Depression. Bei dieser leidet der Patient nicht nur unter depressiver Stimmung, sondern auch unter massiven Psychosen, die mit Verarmungs-Halluzinationen oder Katastrophenerwartungen einhergehen. Ähnliches haben wir zuletzt beim Crash von 2008 gesehen. Ein Teil dieser Krise ließ sich durchaus auf die reale Schrumpfung der Wirtschaft zurückführen – aber die große, zerstörerische Panik resultierte erst aus der anschließenden Angst der Märkte vor Totalverlust. Die Parallelen gehen aber noch weiter: In der psychiatrischen Therapie gegen diese Form der Depression werden dem Patienten Elektroschocks verabreicht, die – vereinfacht gesagt – sein psychisches Energieniveau heben sollen. Wenn jedoch der Patient dieser Therapie mehrmals hintereinander unterzogen wird, besteht die hohe Gefahr, dass er eine manisch-depressive Störung entwickelt.

profil: Und die Parallelen zur Krise?

Tanzer: So wie die Elektroschocks den Patienten künstlich auf ein neues Niveau hebeln sollen, machen das die Zentralbanken mit den Unsummen frischen Geldes, die sie seit 2008 in den Wirtschaftskreislauf pumpen. Sie halten das System am Laufen. Aber je mehr sie das tun, desto größer wird die Gefahr künftiger Blasenbildung. Wenn diese platzen, drohen neue, noch größere Krisen. Die Höhen und Tiefen der manischen Depressionen werden deshalb immer kürzer und heftiger.

profil: Gibt es denn keine andere Therapie gegen manische Depression als die Elektroschocktherapie? Eine weniger verhängnisvolle?

Sedlácek: Es gibt die sogenannte „Verhaltens-Aktivierung“ in der Psychotherapie. Dabei werden die Ursachen der Depression untersucht. Zumeist kann man da erkennen, dass der Patient Situationen, die für ihn unangenehm sind, zu vermeiden versucht. Diese Vermeidung verschlimmert aber die Lage, statt sie zu verbessern. Der Patient soll sich ihrer deshalb bewusst werden.

Tanzer: Die Analogie zur Finanzkrise: 2001 bis 2007 haben die Staaten auf vielerlei Weise dafür gesorgt, dass schnell viel Geld in die Immobilienblase fließen kann. Sie wollten damit vermeiden, dass es weniger Wachstum gibt. Ein verantwortlicher Staat jedoch hätte aber das Wachstum reduziert, nicht befeuert. Die Ökonomen und Politiker müssten also eine Art therapeutisches Verfahren für die Wirtschaft entwickeln. Sobald ein Markt beginnt, Anzeichen von Überhitzung und Blasenbildung zu zeigen, müssten Gegenmaßnahmen gesetzt werden. Etwa indem man den betreffenden Risikomärkten Kapital entzieht und es in andere Märkte umleitet.

Die Ökonomen und Politiker müssten also eine Art therapeutisches Verfahren für die Wirtschaft entwickeln. Sobald ein Markt beginnt, Anzeichen von Überhitzung und Blasenbildung zu zeigen, müssten Gegenmaßnahmen gesetzt werden.


profil: Dabei gibt es jedoch besagtes Problem, dass der Konkurrenzdruck jede Stagnation sogleich in eine Katastrophe verwandeln kann. Ist es aus diesem Grund nicht verständlich, dass Politiker aus Sorge um Arbeitsplätze Wachstum um jeden Preis anstreben?


Tanzer:
Das Problem unseres Wachstums ist die Art, wie wir es erreichen. Wir reproduzieren Material, ohne die Kreativität und den Innovationsgeist anzuregen. Man kann natürlich immer das Gleiche produzieren – etwa Straßen und Verkehrsflächen – und sagen, das ist toll für unser Wachstum. Aber am Ende ist es wie im Song von Bob Dylan: „They paved paradise and put up a parking lot“. Die Staaten bezahlen immer mehr tote Materie mit immer höheren Schulden. Das ist wirtschaftliche Nekrophilie.

Sedlácek:
Natürlich gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Wachstum und Arbeitslosigkeit. Aber Wachstum ist nicht der alleinige Faktor. Vergleichen wir zum Beispiel die Tschechische Republik und die Slowakei, zwei sonst sehr ähnliche Staaten: In der Slowakei gab es bis zur Krise mitunter zweistellige Wachstumsraten – aber immer auch eine Arbeitslosenrate in zweistelliger Höhe. In der Tschechischen Republik hingegen war das Wachstum niedriger – aber auch die Arbeitslosigkeit. Es gibt also auch institutionelle Faktoren, die hohe Arbeitslosigkeit verhindern, zum Beispiel Arbeitsrecht und Arbeitszeiten. Darüber hinaus sollte man künftig nur noch dann Schulden machen für mehr Wachstum, wenn es gilt, gegen eine echte Krise anzukämpfen. Wir haben viel zu lang Stabilität preisgegeben, um Wachstum zu erlangen. Eine Gesellschaft, die nur unter der Annahme funktioniert, dass es immerwährendes Wachstum gibt, ist wie ein Schiff, das unter den naiven Annahme gebaut wird, dass immer der richtige Wind weht. Das wäre ein schlechtes Schiff.

Eine Gesellschaft, die nur unter der Annahme funktioniert, dass es immerwährendes Wachstum gibt, ist wie ein Schiff, das unter den naiven Annahme gebaut wird, dass immer der richtige Wind weht. Das wäre ein schlechtes Schiff.

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Böses Geld

Aus profil 48/2015

Wie finanziert sich der sogenannte Islamische Staat? Wie viel verdient ein IS-Kämpfer im Monat? Und wie kommt Pepsi-Cola ins Kalifat? Der IS aus ökonomischer Perspektive.

Von Joseph Gepp und Christina Hiptmayr

Nehmen wir zum Beispiel Österreich: ein normales Land in Europa. Der Staat hebt Steuern ein. Auf die Einkommen und Löhne seiner Bewohner etwa. Auf Waren, die sie konsumieren. Auf vieles mehr. Und das nicht zu knapp, wie wohl nahezu jeder Bürger dieses Landes bestätigen wird.

Dafür sorgt Vater Staat für Infrastruktur, für Gesundheitsversorgung und Bildungswesen. Und ein Mal im Jahr schaut der Finanzminister nach, ob sich auf der Einnahmen- und Ausgabenseite auch alles schön ausgeht. Meistens nicht – aber das ist eine andere Geschichte.

Ein ganz und gar nicht normales „Land“ im Nahen Osten. Hier hat eine radikalislamistische Terrororganisation weite Gebiete Syriens und des Irak erobert und nennt es selbstbewusst „Staat“. „Islamischer Staat“ (kurz „IS“), um genau zu sein. Aber wie funktioniert dieses Gebilde? Wie finanziert es sich? Hebt es Steuern ein? Gibt es medizinische Versorgung? Und schaut hier auch ein Mal im Jahr jemand nach dem finanziellen Rechten? Das System IS aus (volks-)wirtschaftlicher Perspektive.

Welche Einnahmen hat der IS?

Von reichen Gönnern können andere Staaten nur träumen. Doch der IS finanzierte sich anfangs ausschließlich durch Spenden. Laut dem irakischen Parlament sollen so seit Gründung des selbst erklärten Staates 6,9 Milliarden Dollar an den IS geflossen sein. Das Geld kommt von religiösen Stiftungen und wohlhabenden Privatpersonen, vor allem aus den Golfstaaten.

Weil jedoch Banküberweisungen ins selbst ernannte Kalifat nicht so ohne Weiteres möglich sind, bedient man sich der „Hawala“-Methode, dem traditionellen Überweisungssystem der muslimischen Welt, das ohne Bankwesen auskommt. Man zahlt einem Agenten die zu überweisende Summe plus einer Kommission von 0,25 bis 1,25 Prozent. Dieser ruft seinen Kontaktmann im Zielland an. Mit einem Code kann der dortige Empfänger das Geld beheben. Die Hawala-Agenten – oft Import-Export-Händler, Inhaber von Lebensmittelläden, Imbissbuden oder kleinen Reisebüros – in den jeweiligen Ländern gleichen ihre Transaktionen regelmäßig untereinander aus. Da ständig Überweisungen erfolgen, müssen nur Differenzen beglichen werden.

Doch inzwischen hat der IS seine Einnahmequellen diversifiziert. Von Spenden ist er längst nicht mehr abhängig. Einen ordentlichen Schub gab ihm die Plünderung der Banken in den besetzten Gebieten. Darunter etwa eine Zweigstelle der irakischen Zentralbank in der Großstadt Mossul. Nach Recherchen der UN soll die Beute bis zu 1,5 Milliarden Dollar betragen haben.

Laut der US-Denkfabrik Rand Corporation nehmen die Terroristen mehr als eine Million Dollar täglich ein. Ein erheblicher Teil stammt aus der Erpressung von Schutzgeldern, aber auch Steuereinnahmen tragen dazu bei. Oft sind die Grenzen jedoch fließend. So zahlte die irakische Zentralregierung in Bagdad bis Juli dieses Jahres ihren Beamten, Ärzten und Lehrern auch weiterhin Gehälter und Pensionen. Die Staatsbediensteten mussten jedoch 50 Prozent ihres Einkommens an den IS abliefern.

Für Christen gilt die „Dschizya“, eine Schutzsteuer, die sie an das Kalifat zahlen müssen, um unbehelligt zu bleiben.

Unternehmen und Geschäfte müssen bis zu 20 Prozent ihrer Umsätze an Steuern abliefern. Dazu gibt es eine Art Mehrwertsteuer und eine Einkommenssteuer von bis zu 15 Prozent für „Soziales und öffentliche Zwecke“. Weiters werden hohe Mautgebühren eingehoben. Vor allem für LKW auf Überlandstrecken.

Diese Geldströme werden mit einem Wust an Formularen geregelt. Jeder Zahler erhält eine Quittung. Sämtliche Einnahmen des Kalifats fließen im „Diwan al-Rikaz“ zusammen, quasi das Finanzministerium des IS. Diese Bürokratisierung steht in krassem Gegensatz zu dem Bild, das man im Westen von den Gotteskriegern hat. Jedoch: Wer die Zahlung verweigert, wird entführt, und von der Familie wird Lösegeld gefordert.

Welche Rolle spielt der Ölhandel?

In der Außenwahrnehmung gilt der IS als mittelalterliches Regime, das unmittelbar an die Zeit des Kalifen anschließen will. In Wahrheit jedoch agiert die Miliz durchaus modern, wenn es opportun erscheint. Nicht nur beim Steuersystem, sondern auch beim Ölhandel, einer bekanntlich neuzeitlichen Branche.

Im Zuge ihrer Expansion konnte die IS-Miliz Dutzende wichtige Ölfelder einnehmen, vor allem im Osten Syriens. Der Ölhandel stellt mittlerweile die größte Einnahmequelle der Organisation dar. Und es ist der größte Trumpf, den sie in der Hand hat. Denn das geförderte Öl wird vor allem innerhalb Syriens und des Iraks verkauft. Und geht sogar an verfeindete Rebellengruppen und das Assad-Regime. Diese haben keine andere Wahl, als mit dem Feind zu handeln. Denn die Terrororganisation hat sich praktisch ein Monopol über Syriens Ölfelder erobert. Umgekehrt heißt das: Sollte die Miliz die Ölversorgung abdrehen, würde sie zwar empfindliche Einnahmeeinbußen erleiden, könnte aber zugleich ihre Kontrahenten ins Chaos stürzen.

Und so reiht sich vor den Raffinerien Tanklaster an Tanklaster. Die Fahrer respektive Zwischenhändler müssen die sogenannte „Zakat“ (islamische Almosensteuer) entrichten. Sie bringen das Öl auf Märkte innerhalb und außerhalb des IS-Gebiets.

Dass der Ölschmuggel so reibungslos abläuft, verdankt sich auch jahrzehntelanger einschlägiger Erfahrung: Bereits in der Ära Saddam Husseins im Irak spielte der illegale Handel aufgrund der Sanktionen eine wichtige Rolle. Jene, die ihn damals kontrollierten, sind inzwischen oft zum IS übergelaufen.

Wenn die interne Expertise aus alten Saddam-Zeiten nicht reicht, werben die Terroristen auch um Fachkräfte von außen: Wie die „Financial Times“ berichtet, sucht der IS im Ausland eifrig nach Managern für seine Raffinerien und Ölfelder. Eigene Headhunter sind dafür zuständig. Sie bieten den Interessierten, etwa in Ägypten und Saudi-Arabien, marktübliche Gehälter. Die Kontaktaufnahme erfolgt über Plattformen wie WhatsApp.

Wofür gibt der IS sein Geld aus?

Wäre das IS-Gebiet ein Staat wie jeder andere, man könnte sagen: Der wichtigste Posten im Budget ist das Militäretat. Der Sold der Kämpfer und das Kriegsgerät verschlingen derzeit die größten Summen bei der Terrormiliz. Allein die Löhne für die 30.000 bis 40.000 Kämpfer kosten monatlich einen zweistelligen Millionenbetrag – der IS zahlt gut im Vergleich mit gängigen Standards in Syrien und dem Irak. 470 Euro monatlich fallen pro Person an, schätzt die OECD. Immerhin geht es um die Stabilisierung und Ausweitung des Hoheitsgebiets.

Bezahlt wird der Sold in der Währung des Feindes, in US-Dollar. Dieser ist beliebter als die syrische Lira des Assad-Regime, die von Inflation bedroht ist. Eine eigene IS-Währung gibt es noch nicht: Im November 2014 verkündeten die Islamisten zwar die Einführung eines „Dinars“ aus Gold-, Silber- und Kupfermünzen, aber der Plan ist nicht realisiert worden.

Zweiter großer Posten: die Waffenkäufe. Auch hier gehen die Terroristen durchaus umsichtig vor. Das zeigt etwa eine Liste, welche die irakische Regierung bei einer Razzia am 5. Juni 2014 fand. Sie filzte das Versteck von Adnan Ismail Najm in Mossul, dem bis zu seiner Tötung zweiten Mann im IS. Dabei stießen die Behörden auf eine Art Einkaufsliste. US-amerikanische M4-Sturmgewehre kaufte die Miliz etwa zum Preis von 8200 US-Dollar pro Stück, „amerikanische neuwertige Nachtsichtgeräte“ um je 2900 Dollar. Die Verkäufer sind nicht bekannt.

Dieselben Dokumente lassen auch Rückschlüsse darauf zu, wie das Ausgaben-Management des IS abseits von militärischen Zwecken funktioniert. So initiierten die Islamisten Sozialleistungen für die Familien getöteter oder inhaftierter Kämpfer, konkret Krankenversicherungen, Heiratsbeihilfen und Unterstützungszahlungen. Die Kosten überstiegen gar jene für Waffen.

Der Inhalt der USB-Sticks zeigt auch – einmal mehr –, wie durchorganisiert der IS agiert: In den Dokumenten ist von Budgets für jede einzelne Provinz die Rede, die dem IS untersteht. Der Bezirk Bagdad-Nord etwa gab im November 2013 genau 493.200 Dollar aus. Es gibt sogar eine Art Finanzausgleich, um den Unterschieden zwischen reichen und armen Regionen zu begegnen.

Einige Ausgaben tätigen internationale Organisationen für den IS – unfreiwillig: Im Februar 2015 tauchten Fotos von Essenspaketen für die Zivilbevölkerung auf, die mit dem Emblem der Terrororganisation versehen waren. In Wahrheit aber hatte die UN die Nahrungsmittel gespendet. Der arabische Rote Halbmond sollte sie nahe Aleppo verteilen. Doch der IS überfiel die Depots und nahm die Sache selbst in die Hand.

Was gibt es im IS zu kaufen?

„Hätte nie gedacht, dass es hier Snickers gibt“, twitterten Europäer, die sich dem Terror angeschlossen haben, vergangenes Jahr aus dem IS-Gebiet. Der Kriegsreporter Kurt Pelda berichtet, dass man in Restaurants gerne Pepsi schlürfe. Wer über das nötige Kleingeld verfügt, bekommt im IS anscheinend alles. Nur der Konsum von Alkohol und Zigaretten wird bestraft.

Das Kalifat importiert also ausgerechnet jene Waren, die es als westliches Teufelszeug geißelt. Die Güter würden über Nachbarstaaten wie die Türkei importiert, erklärt der Islamforscher Thomas Schmidinger von der Uni Wien. Oder sie gelangen über den Irak ins IS-kontrollierte Gebiet. Unterwegs sind hohe Bestechungsgelder fällig, etwa an schiitische Milizen und an den IS selbst. Das treibt die Preise in die Höhe, die inzwischen für Zivilisten kaum noch bezahlbar sind. Fazit: Es gibt zwar Snickers, aber nur für Kämpfer.

Für alle anderen ist nicht nur die Versorgungslage kritisch, sondern auch die Job-Situation. Arbeitsplätze bekommen nur jene, die sich loyal zeigen. Frauen ist es verboten, zu arbeiten. Viele junge Menschen treten der Miliz bei, weil es die einzige Möglichkeit ist, Geld zu verdienen.

Kann das System IS – rein wirtschaftlich gesehen – lange gutgehen?

Anfang dieses Jahres sprach der deutsche Islamwissenschaftler Guido Steinberg noch von einer „Beuteökonomie“. Diese könne nur so lange funktionieren, solange immer neue Gebiete dazuerobert würden. Er scheint sich geirrt zu haben. Vieles deute heute darauf hin, dass „diese gesamte Organisation eigentlich viel rationaler und viel durchdachter ist, als wir uns das bisher vorgestellt haben“, meint Peter Neumann vom Londoner King’s College. Das Steuersystem wird zunehmend ausgeklügelter, die Bedeutung der Raubzüge und des Ölschmuggels nimmt ab, Einrichtungen wie der Finanzausgleich sorgen für eine dauerhaftere Ökonomie.

Zwar ist der Weg von einem rasch wachsenden Kampfesgebiet zu einem staatlich durchorganisierten Gebilde noch weit. Aber es scheint in diese Richtung gehen. Das bedeutet: Ein paar militärische Rückschläge kann der IS – wirtschaftlich gesehen – leichter wegstecken als bisher, weil seine Einnahmen nicht mehr allein aus Beutezügen bestehen. Und: Ökonomische Interventionen von außen können der Terrormiliz weniger anhaben, etwa das Bombardement von Ölraffinerien und Infrastruktur.

Für den Westen sind das eher schlechte Nachrichten.

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Kritik an Nordbahnhof-Projekt

Aus profil 47/2015

Joseph Gepp

Auf dem Wiener Nordbahnhofgelände im 2. Bezirk soll bis zum Jahr 2025 ein großes neues Stadtviertel entstehen. Braucht es dafür eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP)?

Ja, es brauche sie, sagen kritische Rathausbeamte, die anonym bleiben wollen. ÖBB und Stadtpolitik jedoch würden sich an der Prüfung vorbeischummeln, weil sie kompliziert und aufwendig sei. Die Folge: jahrelange Rechtsunsicherheit bis hin zu möglichen Baustopps – profil berichtete (Nr. 45/15).

Das Wiener Rathaus und ÖBB halten dagegen. Laut der Umweltschutz-MA 22, die der Wiener SPÖ-Umweltstadträtin Ulli Sima untersteht, sei die Prüfung gesetzlich nicht nötig. Dem Projekt fehle nämlich der planerische Gesamtwille. „Das Gelände ist kein homogenes Stadtviertel im eigentlichen Sinn“, erklärt MA22-Pressesprecher Georg Patak. Ähnlich argumentieren die ÖBB. Diese waren bis vor Kurzem Grundeigentümer des Areals, ehe sie es an ein Immobilienkonsortium rund um die Wiener Städtische verkauften.

Kritik an dem Verweigern der UVP kommt nun erstmals nicht nur von anonymen Beamten, sondern auch von Umweltschutzorganisationen: „Ob dem Nordbahnhofgelände wirklich der planerische Gesamtwille fehlt, ist durchaus hinterfragenswert“, sagt die Umweltjuristin Birgit Schmidhuber vom Ökobüro. Dieses ist eine Allianz zahlreicher NGOs, vom Klimabündnis bis zu Global 2000. Das Ökobüro mit Sitz in Wien befasst sich vorwiegend mit Umwelt- und Rechtsfragen.

Laut Schmidhuber „müsste man ein Verfahren auf Feststellung der UVP-Pflicht einleiten“. Das bedeutet, die zuständigen Stellen müssten zumindest anfragen, ob eine Prüfung erforderlich ist oder nicht. Die verantwortliche Wiener Landesregierung könne dann immer noch entscheiden, dass es mangels Gesamtwille keine braucht. „Aber einfach so anzunehmen, dass es sie nicht braucht, halte ich für keine korrekte Vorgehensweise“, sagt Schmidhuber.

Den Antrag auf Feststellung der UVP-Pflicht hätten sowohl ÖBB als auch das Wiener Rathaus einbringen können. Beide haben es bislang nicht getan.

Ein Kommentar

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