Monatsarchiv: Juni 2015

Zwei, drei, viele Griechenlands

Aus profil 23/2015

Erst eroberten sie Athen, jetzt Barcelona und Madrid. Politisch unerfahrene Aktivisten und Bürgerinitiativen bringen Europas politisches System ins Wanken. Müssen wir uns vor der Linkswende fürchten?

Von Anna Giulia Fink, Joseph Gepp, Salomea Krobath (Barcelona), Manuel Meyer (Madrid)

Sonntag, 24. Mai. Touristen kommen so gut wie nie auf die Plaza de Ángel Pestaña in Barcelona, am nördlichen Stadtrand. Hier, weit entfernt von der hübschen Sagrada Familia und dem Park Güell, leben die Armen und die Ausländer. Heute zieht es trotzdem halb Barcelona hierher. Das Linksbündnis Barcelona en Comu („Für ein gemeinsames Barcelona“) hat auf der Plaza de Ángel Pestaña etwas zu feiern.

Etwas tut sich auf diesem Platz, etwas tut sich in Europa. Die Menschen begehren auf gegen die alten Systeme. Sie verlangen nach etwas Neuem, doch man weiß noch nicht, ob das eher Chancen oder Gefahren bringt. Es führt jedenfalls zu Situationen, die vor einigen Jahren undenkbar gewesen wären. So wie heute, auf dieser Plaza.

Noch nicht einmal ein Jahr ist Barcelona en Comu alt. Die Bewegung besteht aus mehreren Gruppen, etwa einem Verein gegen massenhafte Zwangsräumungen von Wohnungen oder der Linkspartei Podemos („Wir können“). Die Frontfrau von Barcelona en Comu heißt Ada Colau. Als die 41-Jährige das Podium betritt, brandet Jubel auf. „Si, se puede“, skandieren die Fans: Ja, man kann.

Seit den spanischen Kommunalwahlen steht fest, dass Colau die nächste Oberbürgermeisterin von Barcelona wird. Eine Hausbesetzerin, Antiglobalisierungsaktivistin, Tochter einer alleinerziehenden Verkäuferin. Vor zwei Jahren noch führte die Polizei Colau ab, nachdem sie an Sozialprotesten teilgenommen hatte. Nun hat ihre Bewegung knapp die Mehrheit im Gemeinderat errungen. Und auch in Madrid könnte der Bürgermeistersessel an eine Aktivistin gehen: Manuela Carmena, eine ehemalige Franco-Gegnerin und pensionierte Richterin von der Bürgerbewegung Madrid jetzt.

Gesichter der Linkswende in Südeuropa: Podemos-Chef Pablo Iglesias bei einer Wahlkampfveranstaltung vor der Europawahl 2014 (Wikipedia) ...

Gesichter der Linkswende in Südeuropa: Podemos-Chef Pablo Iglesias bei einer Wahlkampfveranstaltung vor der Europawahl 2014 (Wikipedia) …

Damit schnappen sich politisch völlig unerfahrene Initiativen die Rathäuser zweier der wichtigsten Städte in Europa. Das ist ungefähr so, als würde nach der Wien-Wahl im Oktober die Audimax-Bewegung „Uni brennt“ den Bürgermeister stellen.

1300 Kilometer weiter nördlich von Barcelona, in Brüssel. Auch hier tut sich etwas, doch von Jubel ist es nicht begleitet. Hier verhandeln Vertreter der griechischen Syriza-Linksregierung mit ihren internationalen Gläubigern um die Bedingungen für die laufenden Staatsschulden. Schon vor vier Monaten haben die Griechen getan, was ihnen die Spanier nun nachmachen könnten: Sie wählten ihr politisches System ab. Doch heute gestalten sich die Verhandlungen zäh. Ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone erscheint realistischer denn je. Ohne jede Schonfrist ist Syriza mitten in der rauen Wirklichkeit angekommen.

Zwei europäische Länder, zwei Systemwechsel.
Griechenland hat ihn bereits hinter sich, in Spanien kommt er möglicherweise bald, denn im November stehen dem Land Parlamentswahlen bevor. Die Kritiker von Syriza und den Podemos-Bewegungen warnen vor Populismus und davor, dass die Unvernunft der Wähler die zarten Pflänzchen eines Wirtschaftsaufschwungs gefährde. Die Unterstützer hoffen darauf, dass die Entwicklung einen Systemwechsel in ganz Europa antreibt: Die Folgen der Wirtschaftskrise, vor allem im Süden, sollen demokratischer und vor allem sozialverträglicher bewältigt werden. Syriza zum Beispiel „hat etwas ausgelöst, was für das Überleben Europas wichtig ist“, sagt der renommierte slowenische Philosoph Slavoj Žižek im profil-Interview.

Die Krise in Europa ist nicht vorbei, im Gegenteil, sie wirkt sich erstmals massiv auf die politischen Machtverhältnisse auf dem Kontinent aus. Die Erosion der traditionellen europäischen Großparteien, der Sozialdemokraten und Konservativen, hat Platz geschaffen, der nun erstmals nicht nur Rechtspopulisten à la FPÖ und Front National zugute kommt, sondern auch linken Bewegungen.

Im Fall Griechenlands könnte man dies noch als Randphänomen abtun; der Staat stellt nur rund zwei Prozent der europäischen Bevölkerung. Doch Spanien ist die viertgrößte Wirtschaftsmacht in der Eurozone. Was geschieht zum Beispiel, wenn eine etwaige Podemos-Regierung die Sparregeln ignoriert, die sich die EU-Staaten im Zuge der Krise selbst auferlegt haben? Aus dem Euro rauswerfen könnte man das Land nicht, jedenfalls nicht ohne massive Verwerfungen.

Worauf muss sich Europa einstellen? Wie realistisch ist, was die Rebellen wollen? Sind es weltfremde Naivlinge, die bald wieder verschwunden sein werden? Oder verändert sich Europa dauerhaft?

Dass linke, mitunter kommunistisch beeinflusste Bewegungen ausgerechnet in Spanien und Griechenland aufblühen, ist jedenfalls kein Zufall. In beiden Ländern blicken sie auf eine traditionsreiche Geschichte des Widerstands zurück: In Griechenland kämpften sie gegen die dortige Militärdiktatur bis zum Jahr 1974; in Spanien gegen den 1975 verstorbenen Staatschef Francisco Franco. Dazu kommt eine starke, teils anarchistisch geprägte Gewerkschaftsbewegung. Heute wecken die Erschütterungen der internationalen Wirtschaftskrise seit 2008 die Linke im Süden aus ihrem langen Winterschlaf.

So wie in Spanien. Seit Jahren wird das Land von einer schweren Banken- und Immobilienkrise gebeutelt. Seit dem Ende der Franco-Diktatur haben sich die Wähler in Spanien stets verlässlich in zwei Lager geteilt: Mal regierten die Sozialisten von der PSOE, mal die Konservativen vom Partido Popular. 40 Jahre lang ging das so. Das Zwei-Parteien-System sicherte dem Land Stabilität, brachte aber auch einen Klüngel aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche hervor, unter dem sich Nepotismus und Misswirtschaft breitmachten.

Nun traten bei den jüngsten Wahlen zum ersten Mal gleich vier Parteien mit Aussichten auf Spitzenplätze an. Neben Madrid und Barcelona konnten auch in vielen anderen Städten die Konservativen und Sozialisten ihre absolute Mehrheit nicht mehr verteidigen und müssen sich nun – teilweise erstmals seit Jahrzehnten – einen Koalitionspartner suchen.

Dabei könnte man meinen, dass die jüngste Wirtschaftsentwicklung in Spanien der konservativen Regierung in die Hände spielt: Die spanische Wirtschaft wächst stark, für das kommende Jahr sagt die Europäische Zentralbank gar ein Plus von 2,3 Prozent voraus. Doch während der Konsum anzieht, ist noch immer fast jeder Vierte arbeitslos. Viele Spanier halten sich mit Mini-Jobs über Wasser. Nicht nur deshalb konnte die Regierung trotz beginnenden Aufschwungs nicht mit der Dankbarkeit des Wahlvolks rechnen; auch eine lange Reihe von Korruptionsskandalen hat ihr Image arg beschädigt.

Aber nicht nur der Kampf gegen Korruption hat die Protestparteien groß gemacht. Seit der Krise können auch Hunderttausende Spanier die Raten ihrer Hypothek nicht mehr bezahlen. Während des Baubooms vor der Krise waren die Kredite von den Banken leichtfertig vergeben worden. Anschließend wurden seit 2008 fast 300.000 Zwangsräumungen vollstreckt.

Erstmals im Mai 2011 gingen die Spanier gegen all die drastischen Auswirkungen der Krise auf die Straße. Die Demonstranten kamen aus allen Schichten und Altersklassen und nannten sich „Indignados“, die „Empörten“. Sie protestierten gegen den Sparkurs der Regierung, aber auch die politische Kaste im Allgemeinen. Jetzt haben die Bürger ihren Ärger in institutionelle Bahnen gelenkt.

Podemos und all die anderen neuartigen Protestparteien sind also beides: ein Produkt der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch der generellen Vertrauenskrise in Spaniens traditionelle, als verstaubt geltende Volksparteien.

Als Podemos bei den EU-Wahlen im Mai 2014 erstmals antrat, war die Partei erst vier Monate alt, das Wahlprogramm bestand aus ein paar unkonkreten und zugleich radikalen Grundsatzideen. So sollten Spaniens Staatsschulden schlichtweg nicht mehr bedient werden. Als ökonomisches Vorbild nannte Podemos-Chef Pablo Iglesias ausgerechnet das in den wirtschaftlichen Abgrund taumelnde sozialistische Venezuela. Doch die Partei lernt rasch: Im heuer vorgelegten „Programm des Wechsels“ mit 215 Punkten liest man schon nichts von einer Einstellung des Bezahlens der Schulden, nur mehr vom „Schulden-Umstrukturierungsprozess“. Auch die einst zentrale Forderung nach einem allgemeinen Grundeinkommen ist verschwunden.

„Nicht alles, was Podemos wirtschaftspolitisch vorgeschlagen hat, war schlecht“, sagt der Finanzexperte Augsti Ulied von der Esade-Wirtschaftsschule in Barcelona: „Aber man muss eben immer auch erklären, wie man die geplanten Maßnahmen finanzieren möchte.“

Die Mäßigung der Partei lässt sich wohl auch mit dem Auftauchen einer neuen Konkurrenz erklären: Die Ciudadanos („Bürger“) bieten eine bürgerliche Alternative zu Podemos. Außerdem kommt der Konfrontationskurs von Tsipras’ Linksregierung in Griechenland in vielen spanischen Medien nicht gut weg. All das führt dazu, dass Podemos ein Stück in die politische Mitte rückt: So pries Iglesias Tsipras lange als Kampfgefährten, zuletzt aber vermied er jeden Hinweis auf Athen.

Genau nach Griechenland sollte aber blicken,
wer die Erfolgsaussichten von Spaniens Podemos-Bewegung einschätzen möchte. Denn in keinem Land fiel die politische Umwälzung bislang massiver aus: Ende Jänner 2015 wählten 36 Prozent der Griechen die Syriza-Partei, Tsipras’ Linksaußen-Bündnis, das von Grünsympathisanten bis hin zu Maoisten etliche Gruppen umfasst.

Kein Land war zuvor so hart von der Krise getroffen worden wie Griechenland. 2010 konnten es nur Notkredite der Eurozone vor dem Staatsbankrott bewahren. In der Folge musste sich Athen einem massiven Sparprogramm unterziehen, das die Euro-Staaten oktroyiert hatten. Ein Drittel der Bevölkerung fiel unter die Armutsgrenze; die Wirtschaftsleistung ging um ein Viertel zurück.

... und Syriza-Chef Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Premier Griechenlands (Wikipedia)

… und Syriza-Chef Alexis Tsipras, seit Anfang 2015 Premier Griechenlands (Wikipedia)

Wie erfolgreich agiert die neue Regierung in der Bekämpfung der Krise? Um das einzuschätzen, kann man zum Beispiel ins „Thessaloniki-Programm“ blicken, ein Wahlprogramm, das die Partei im Herbst 2014 präsentierte, kurz vor ihrem Sieg. Vom „Beenden der humanitären Krise“ ist da etwa die Rede, beispielsweise durch Nahrungsmittelsubventionen für Arme. Oder von einer staatlichen Job-Offensive, die 300.000 Griechen wieder in Lohn und Brot bringen soll.

Wie fallen die Erfolge der Syriza-Regierung aus, gemessen an diesen Vorsätzen? Bislang eher bescheiden, sagt der deutsche Ökonom und Griechenland-Experte Jens Bastian, der zwischen 2011 und 2013 Mitglied der Task Force for Greece der EU-Kommission war. „Es gab einen Realitätsschock. Die griechische Regierung hat stark unterschätzt, dass viele Dinge nicht in ihrem eigenen Einflussbereich liegen, sondern in jenem der internationalen Geldgeber.“

Bei vielen geplanten Maßnahmen muss man nun erst „Fahrpläne abwarten“, die mit den Gläubigern abgestimmt werden, sagt Bastian. Deswegen liegen Pläne wie eine Reichensteuer auf Eis, ein zentrales Versprechen. Andere Vorhaben, etwa das Zurückholen von Schwarzgeld aus der Schweiz, sind zwar in Vorbereitung, ziehen sich aufgrund des Verwaltungsaufwands jedoch in die Länge.

Definitiv durch das griechische Parlament gingen seit dem Syriza-Wahlsieg trotzdem zwei große Projekte: ein Notprogramm zur Linderung der grassierenden Armut, etwa durch Ausgabe von Lebensmittelmarken; und ein Gesetz zur Begleichung von Steuerrückständen bei Privathaushalten und Unternehmen, um die Staatseinnahmen zu erhöhen. Bastian stellt den beiden Projekten ein gutes Zeugnis aus: „Sie sind im Großen und Ganzen gelungen, und sie kommen bei den Griechen an.“

Dazu konnten im vergangenen Februar auch den Geldgebern in Brüssel einige Zugeständnisse abgerungen werden. Zum Beispiel muss das Land seither nicht mehr unter allen Umständen einen sogenannten Primärüberschuss erzielen, also ein Haushaltsplus ohne Zinszahlungen. Dabei handelt es sich aber um eine Übergangslösung. Unter welchen Bedingungen künftig Hilfsgeld nach Athen fließt, darüber verhandelt Griechenland gerade mit seinen Gläubigern – inklusive wechselseitiger Anfeindungen und taktischer Ankündigungen.

Die Mehrheit der Griechen unterstützt ihre Regierung, trotz der schwierigen Verhandlungen und ihrer bisher durchwachsenen Bilanz. Laut einer aktuellen Umfrage für die Athener Zeitung „Avgi“ steht Syriza in Meinungsumfragen bei 49 Prozent der Stimmen, die konfrontative Verhandlungsstrategie gegenüber der Eurozone goutieren gar 54 Prozent.

Zu einer Konfrontation mit der Eurozone könnte
es auch im Fall Spaniens bald kommen. Ada Colau etwa, die neue Bürgermeisterin von Barcelona, hat für ihre ersten 100 Tage im Amt einen „Schockplan“ versprochen: Zwangsräumungen sollen gestoppt, leerstehende Wohnungen Privatpersonen zur Verfügung gestellt und Dutzende Millionen Euro in die Sanierung städtischer Gemeindebauten investiert werden.

Viele dieser ehrgeizigen Pläne kosten Geld. Und die Regierungen der Eurozone halten an einer eisernen Sparpolitik fest, auch im achten Jahr der Wirtschaftskrise, die weite Teile des Kontinents in Griff hat. Podemos kann – wie Syriza – nur den Weg der Konfrontation mit Europa wählen. Oder man gibt zentrale Vorhaben auf und verliert damit seine Glaubwürdigkeit.

„Ja, wir sind unerfahren – unerfahren in Korruption, unerfahren im Fahren von Dienstwägen“, sagt Colau auf der Bühne auf der Plaza de Ángel Pestaña nach ihrem Wahlsieg vor jubelnden Fans. Unerfahren sind die jungen Initiativen auch in schwierigen Verhandlungen mit dem Rest Europas. Sie werden es wohl bald lernen müssen.

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Ist das die Rettung?

Aus profil 22/2015

Nachdem Hunderte Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, will die EU-Kommission die Flüchtlingspolitik in Europa neu aufsetzen. Zu diesem Zweck hat sie am 13. Mai die sogenannte „Migrationsagenda“ präsentiert. Ein Realitäts-Check.

Von Joseph Gepp und Bence Jünnemann

Eine europaweite Quote sorgt für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge

Es wäre eine Revolution in der Flüchtlingspolitik in Europa. Das sogenannte Dublin-System ist bislang, wenn man so will, das Grundmaß des Asylwesens. Es sieht vor, dass für einen Asylwerber im Allgemeinen jener Staat zuständig ist, den er zuerst betreten hat. Die EU-Kommission plant langfristig, dieses Prinzip aufzuweichen und durch ein Quotensystem zu ersetzen.

Vorerst soll im Rahmen einer kurzfristigen Notlösung der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen anders verteilt werden -und zwar zeitlich befristet ab Ende Mai. Ende des Jahres will die EU-Kommission darüber hinaus einen Gesetzesvorschlag vorlegen, der auch in Zukunft für eine permanente Quotenregelung sorgen soll. Denn das alte Dublin-System, so die Kritik, ist ungerecht.

Tendenziell müssen Länder am Rand Europas bisher mehr Flüchtlinge betreuen als jene im Zentrum, Länder mit einer liberalen Flüchtlingspolitik mehr als jene mit einer restriktiven. Fast drei Viertel der Asylanträge werden derzeit von nur fünf EU-Mitgliedsstaaten abgewickelt. Im Jahr 2014 behandelte der Spitzenreiter Schweden etwa 7,8 Anträge pro 1000 Einwohner, das Schlusslicht Tschechien lediglich 0,09.

Nun soll mit einem neuen Verteilungsschlüssel Gerechtigkeit einkehren. Die Flüchtlinge sollen künftig den einzelnen EU-Staaten zugeteilt werden, je nach Bevölkerungszahl, Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquote und bisheriger Flüchtlingspolitik. Vorläufig soll die Quotenregel das Dublin-System aber nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, wenn es zu besonders großen Flüchtlingswellen kommt.

Die Abnahme von Fingerabdrücken soll dafür sorgen, dass der Flüchtling in dem Land bleibt, in dem man ihn haben will – so wie das schon derzeit im Dublin-System mehr schlecht als recht praktiziert wird.

Hier setzt auch schon die Kritik am Quotensystem an. Zunächst verhindert es per se noch keine lebensgefährlichen Fahrten über das Mittelmeer. Weiters bindet es die Flüchtlinge zwingend an jenen Ort, dem sie zugeteilt worden sind. Das trennt sie nicht nur von Landsleuten anderswo, es liefert sie auch an Asyl- und Versorgungssysteme aus, die bislang von Staat zu Staat extrem unterschiedlich ausfallen. Diese Probleme gelten aber auch für das derzeit geltende Dublin-System.

Aber vielleicht spielen solche Fragen ohnehin bald keine Rolle mehr. Denn etliche EU-Staaten lehnen die Quote vehement ab – etwa Frankreich, Spanien, Polen und die baltischen Länder. Die Befürworter finden sich in den Reihen der Staaten, die bisher schon viele Flüchtlinge aufnehmen und sich nun eine Entlastung versprechen: etwa Schweden, Deutschland und Österreich.

Schulnote: befriedigend
Realisierungswahrscheinlichkeit: gering

Bootsflüchtlinge vor Lampedusa (Wikipedia)

Bootsflüchtlinge vor Lampedusa (Wikipedia)


Die Zerstörung von Schlepperbooten wird den Flüchtlingsstrom eindämmen

Es ist wohl die umstrittenste und meist diskutierte Maßnahme: Die Außen-und Verteidigungsminister der EU-Mitgliedsstaaten haben beschlossen, militärisch gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die Maßnahmen reichen von Luftüberwachung von Mittelmeerhäfen über die Zerstörung von Booten bis hin zur Absicht, sogar Militäroperationen in libyschen Hafenstädten durchzuführen.

Dies solle den Urhebern allen Übels den Garaus machen, meinen Europas Politiker: den Schleppern. Denn vor allem ihre mafiöse Tätigkeit lasse den Flüchtlingsstrom anschwellen, argumentieren sie – und nicht so sehr Kriege, Armut und Unterdrückung in den Herkunftsländern.

Die Gesamtheit der Maßnahmen stößt allerdings aus vielen Gründen auf massive Hindernisse. Für ein militärisches Vorgehen an der libyschen Küste wäre ein UN-Mandat erforderlich, aber die Vetomacht Russland sträubt sich strikt gegen die Zerstörung von Booten. Zudem müsste die Zustimmung der libyschen Regierung eingeholt werden. Davon gibt es derzeit aber gleich zwei, da sich das Land seit dem Arabischen Frühling im Bürgerkrieg befindet. Die offizielle Regierung lehnt einen Militäreinsatz ab. Hinzu kommen Milizen aus unterschiedlichsten Volksgruppen, die teilweise eng mit Schlepperbanden kooperieren sollen.

In der Vergangenheit erwies sich das Schleppersystem selbst gegen ausgefeilteste Ermittlungsmethoden als widerstandsfähig. Die Schlepper bilden ein hochflexibles Netzwerk, das man kaum mit dem der organisierten Kriminalität vergleichen kann und sich entsprechend schlecht bekämpfen lässt. „Ihr Geschäft beruht auf Vertrauen und dem gegebenen Wort. Somit strukturiert es sich blitzschnell neu. Ist ein Netzwerk aufgeflogen, bildet sich auf der Stelle ein neues“, schreiben die Italiener Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci in ihrem vergangenen Jahr erschienenen Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“. Die Anti-Schlepper-Aktion von Europas Regierungschefs ist also wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Schulnote: nicht genügend
Realisierungswahrscheinlichkeit: mittel

Eine Mission auf hoher See wird den Flüchtlingen das Leben retten

Nachdem es am 19. April zum bisher größten Flüchtlingsunglück der Geschichte mit bis zu 800 Toten gekommen war, überboten Europas Staatschefs einander mit Ankündigungen. Bei einem Sondergipfel in Brüssel einigte man sich darauf, das Budget für Seenothilfe im Mittelmeer in den kommenden zwei Jahren zu verdreifachen. Fraglich blieb damals jedoch, inwieweit die Grenzen der Mission ausgedehnt werden.

Nun hat man sich darauf geeinigt, das Einsatzgebiet auf jeden Fall auszudehnen. Das konkrete Ausmaß wurde aber auch in der nunmehr vorgelegten Migrationsagenda noch nicht präzisiert. Aber dass ausgeweitet werden soll, ist schon ein vages Bekenntnis.

Denn viele Flüchtlinge geraten schon zehn bis 20 Kilometer vor der libyschen Küste in Seenot. Ein Rettungseinsatz in italienischen Gewässern würde ihnen also kaum helfen. Ein europäisches Boot bräuchte bis zu acht Stunden, um die kritischen Stellen zu erreichen.

Kritiker argumentieren zwar, dass solche küstennahen Rettungsaktionen Flüchtlinge erst recht zur Bootsfahren animieren könnten. Die Erfahrung der vergangenen Monate hingegen hat gezeigt, dass sie sich auch nicht abschrecken lassen, wenn keine Einsätze stattfinden.

Die Erweiterung der Seemission Triton im Mittelmeer sei „eine notwendige Reaktion auf die Kritik an der Tatenlosigkeit“, sagt Lukas Gehrke vom Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (Icmpd) in Wien. Wie viele Menschenleben die Maßnahme tatsächlich retten wird können, das allerdings werde sich erst in den kommenden Wochen zeigen, wenn Details auf dem Tisch liegen und die Größe des Einsatzgebiets geklärt ist.

Schulnote: gut
Realisierungswahrscheinlichkeit: hoch, Einsatzgebiet jedoch unklar


Ein Resettlement-Projekt macht es für Flüchtlinge leichter

„Resettlement“ (Umsiedlung) lautet das Zauberwort jeder modernen Flüchtlingsdebatte. Das Konzept: Man wartet nicht erst, bis die Flüchtlinge an Europas Küsten stranden, sondern geht gezielt dorthin, wo sie sich befinden. Im Fall des Syrien-Kriegs wären dies etwa die großen Lager in den Nachbarstaaten Libanon, Türkei und Jordanien. Dort sucht man Flüchtlinge heraus, denen man dann Asyl in Europa ermöglicht.

Diese Methode hat mehrere Vorteile: Sie senkt den Anreiz, auf lebensgefährlichen Bootsfahrten sein Glück zu versuchen; und man kann die schutzbedürftigsten Personen herauspicken und damit dem Asylgedanken stärker Rechnung tragen. Derzeit herrsche im Flüchtlingswesen ein „Survival of the fittest-Prinzip“, sagt Helmut Langthaler von der österreichischen Asylkoordination. Nur wer einigermaßen bei Kräften sei, schaffe es nach Europa. Mittels Resettlement ließe sich dies durchbrechen.

Die EU-Kommission fordert nun die Mitgliedsstaaten auf, 20.000 Flüchtlinge im Rahmen eines Resettlement-Projekts aufzunehmen. Zur Verteilung der Flüchtlinge solle sogleich der neue Quotenschlüssel in Kraft treten. Für Österreich wären demnach 444 Personen vorgesehen. 50 Millionen Euro soll die Aktion kosten. Die Auswahl der Flüchtlinge treffen Institutionen wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat Unhcr, das in solchen Angelegenheiten jahrzehntelange Erfahrung hat.

Dennoch stehen sie vor der schwierigen Aufgabe, unter vielen Millionen Menschen die Schutzbedürftigsten zu finden. Unter neun Millionen Vertriebenen allein in Syrien sind 20.000 Menschen vergleichsweise wenig. Doch mehr sei derzeit „politisch wohl nicht durchsetzbar“, sagt Migrationsforscher Gehrke -zumal die EU-Kommission die Staaten nicht zur Teilnahme am Resettlement-Programm zwingen, sondern sie nur auffordern kann. Gehrke nennt die Agenda der EU-Kommission trotzdem einen „guten Start“. Der Unhcr spricht in einer Stellungnahme immerhin von einem „Schritt vorwärts“.

Schulnote: sehr gut
Realisierungswahrscheinlichkeit: hoch (bei mehr als 20.000 Menschen gering)

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