Monatsarchiv: Mai 2015

Frühling in Fyrom

Aus profil 21/2015

Mazedonien ist klein, wird autoritär regiert und scheint Europa so unwichtig, dass es nicht einmal seinen richtigen Namen tragen darf. Jetzt setzt sich dort eine Demokratiebewegung gegen alle Widerstände für Freiheit ein.

Text und Fotos: Joseph Gepp, Skopje

Vielleicht sollte eine Geschichte über Mazedonien in diesen Tagen nicht in Kumanovo beginnen. Möglicherweise tut man damit genau das, was irgendjemand bezwecken möchte. Vor einer Woche rückte die Polizei gegen angebliche albanische Terroristen in der 70.000-Einwohner-Stadt vor. Es war ein Anti-Terror-Einsatz, behauptet die Regierung. Die Täter hatten sich in einem Viertel nahe des Zentrums verschanzt. 22 Menschen starben, acht davon Polizisten, 14 vermeintliche Terroristen. Heute, vier Tage später, riecht es zwischen den Ruinen der zerstörten Häuser noch immer nach verkohltem Holz. Unter den Schuhsohlen knirschen die Scherben zerbrochener Fenster und Dachziegel. Das war kein Polizeieinsatz. Das war ein kleiner Krieg.

Es war ein Ablenkungsmanöver, denken viele in Skopje, der Hauptstadt, 30 Kilometer weiter südlich. Die Regierung selbst habe die Aktion in irgendeiner Form orchestriert oder wenigstens eskalieren lassen, sagt ein junger Demonstrant. Seine Mitstreiter rundherum nicken. „Kumanovo geschah genau in dem Moment, als wir endlich begonnen haben, uns mit den echten Problemen zu befassen.“

Das echte Problem, so die Demonstranten, sei die Regierung. Allabendlich gehen sie auf die Straße, seit Wochen, ein kilometerlanger Tross. Sie schreien, pfeifen und skandieren „Diktatur“. In Skopje findet gerade eine Art Volksaufstand statt. Bis vor wenigen Tagen noch hat er das Land in Atem gehalten. Doch jetzt reden alle nur noch vom aufsehenerregenden Polizeieinsatz in Kumanovo und der Gefahr, die von dem ständig schwelenden ethnischen Konflikt im Land ausgeht. Keiner spricht mehr von der Bürgerrevolte in der Hauptstadt.

Die Lage ist angespannt in Mazedonien, wegen der Gewalt in Kumanovo, wegen der Demonstrationen in Skopje. Die mächtige konservative Regierungspartei, seit 2006 an der Macht, trägt das sperrige Kürzel VMRNO-DPMNE („Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit“). Sie habe hier alles in der Hand, im Großen wie im Kleinen, sagen die Demonstranten. Um die Pressefreiheit etwa ist es laut der NGO Reporter ohne Grenzen nirgendwo in Europa außer in der Türkei und Russland so schlecht bestellt wie in Mazedonien. Doch die Herrschaft der Partei reicht bis in kleine Alltagsprivilegien hinein: Ohne Mitgliedschaft bekomme man in Mazedonien nicht einmal ein Bett im Studentenheim, berichten die Demo-Teilnehmer.

Kumanovo nach dem angeblichen

Kumanovo nach dem angeblichen „Anti-Terror-Einsatz“ (Gepp)

Auch Anastas Vangeli protestiert: 28 Jahre, Vollbart, Sympathisant der linken „Solidaritätsbewegung“. Er arbeitet als Sozialwissenschafter in Polen und ist gerade auf Besuch zu Hause. Auf seinem Hemd prangt eine Plakette mit dem durchgestrichenen Konterfei des Premierministers Nikola Gruevski. „Er hat das Land in ein autoritäres System verwandelt“, sagt Vangeli.

Bei den Protesten gegen Gruevski spielt es – zum ersten Mal in diesem multiethnischen, hochkomplexen Balkanland – keine Rolle, ob man der slawisch-mazedonischen Mehrheit oder der albanischen Minderheit angehört. Mitunter teilen sich der schwarze albanische Doppeladler und die gelbe mazedonische Sonne sogar eine Fahne, die aus dem Menschenmeer ragt.

Im abgelegenen Kleinstaat Mazedonien ist exemplarisch zu beobachten, wohin sich Südosteuropa momentan ansatzweise entwickelt. Angesichts autoritärer Eliten definieren sich Menschen nicht mehr nur über ihre Volksgruppen, sondern auch als Staatsbürger. Sie fordern mit dieser Haltung ihre Systeme heraus. Aber Mazedonien zeigt auch, wie schnell ein Anlass für neuen ethnischen Hass gefunden werden kann.

Noch vor wenigen Jahren wäre wohl undenkbar gewesen, was heute geschieht. Ein Drittel der mazedonischen Bevölkerung sind ethnische Albaner. Im Jahr 2001 wäre es beinahe zum Bürgerkrieg gekommen, rund 100 Menschen starben bei einem albanischen Aufstand. Was Mazedonien stets prägte, war der Graben zwischen den beiden großen Volksgruppen.

Mazedonien ist nur eines der Länder dieser Region, in denen die Albaner eine wichtige Rolle spielen. Als Minderheit leben sie auch im nahen Serbien, das nun von dem angeblichen Terroreinsatz in Kumanovo im südlichen Nachbarland ebenso alarmiert ist. Die Mehrheit stellen die Albaner außerdem im Kosovo und in Albanien. Ihr Unabhängigkeitsstreben und ihre großalbanischen Pläne sorgen auf dem Balkan seit den 1990er-Jahren für Kriege und Konflikte.

Mazedonien, bis 1991 die südlichste Teilrepublik von Jugoslawien, ist heute ein kleines, armes und ziemlich isoliertes Land. Es hat zwei Millionen Einwohner, kaum mehr als Wien. Der Durchschnittslohn beträgt 338 Euro im Monat. Die internationale Öffentlichkeit kümmert sich wenig um Mazedonien, weil es unbedeutend erscheint. Und das Land hat nicht einmal einen richtigen Namen.

Der südliche Nachbar Griechenland stößt sich an der Bezeichnung „Mazedonien“, weil diese angeblich Ansprüche auf die gleichnamige Provinz in Nordgriechenland impliziert. Also firmiert Mazedonien in der internationalen Diplomatie unter dem Kunstwort „Fyrom“, abgekürzt für „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ (Frühere Jugoslawische Republik Mazedonien).

Wegen des Namensstreits liegen alle Bestrebungen des Ländchens seit Jahren auf Eis, EU und NATO beizutreten. Kaum jemand blickt nach Mazedonien. Und wo niemand hinblickt, können die Dinge leicht aus dem Ruder laufen.

Mazedonien sei heute „ein gekaperter Staat“, sagt der Grazer Balkanexperte Florian Bieber: „Die konservative Regierungspartei und der Premier haben die staatlichen Institutionen, die ohnehin nie besonders stark waren, völlig unter ihre Kontrolle gebracht.“

„Gekaperter Staat“: Derartige Prunkarchitektur ließ das Regime in den vergangenen Jahren in Skopje errichten (Gepp)

Der Mann, der das ändern könnte, heißt Zoran Zaev und ist Chef der oppositionellen sozialdemokratischen Partei. Die „Wahrheit über Mazedonien“ nennt er eine Serie von über 30 Enthüllungen, die er seit Anfang Februar präsentiert. Aber alle anderen sprechen nur metaphorisch von den „Bomben“. Mehr als 30 davon hat der Sozialdemokrat in den vergangenen Monaten gezündet, indem er abgehörte Telefonate der Regierungsspitze rund um Premier Nikola Gruevski veröffentlichte.

Keiner weiß, woher Zaev diese Mitschnitte hat. Aus ihnen geht hervor, dass die Regierung 20.000 Menschen abhörte: Diplomaten, Journalisten, Unternehmer, Oppositionelle. Ein System von Korruption, Machtmissbrauch und Vertuschung kommt ans Licht. Es erschüttert das Land, und es bewirkt gleichzeitig, dass es sich verändert.

Mittwoch, 13. Mai, im Hauptquartier der Sozialdemokratischen Partei, Bihaæka-Straße 8, Erdgeschoss. Der Saal ist brechend voll. Zaev, ein kleiner Mann mit dunklen, borstigen Haaren, spricht mit fester Stimme. Die regimetreue Justiz hat ihn inzwischen wegen staatsfeindlicher Umtriebe angeklagt. Er kooperiere mit einem ausländischen Geheimdienst und plane einen Staatsstreich, lautet der Vorwurf. Doch Zaev macht weiter. Er dreht das Band auf, lässt 30 Minuten lang Telefonmitschnitte laufen. Ein Freizeichen ertönt, laut wie bei einem Konzert. Es folgen Telefonate unter Männern, einer von ihnen ist Premier Gruevski. Als man sie selbstgewiss lachen hört, greifen sich einige im Publikum an die Stirn.

Seit Februar finden solche Audiovorführungen statt. Dabei wurde beispielsweise enthüllt, wie Regierungspolitiker politisch inopportune Richter mit Versetzungen bestrafen. Die Leiter von Waisenhäusern werden angewiesen, ihre Schützlinge zur Wahl zu karren und für die Konservativen stimmen zu lassen. Der Transportminister erzwingt beim E-Werk einen Defekt der Aufzüge in den Plattenbauten am Wahltag, damit es die alten Leute, meist Wähler der Sozialdemokraten, nicht in die Wahllokale schaffen.

Es war das Jahr 2008, als Mazedonien anfing zu werden, wie es heute ist. Bei einem NATO-Gipfel in jenem Jahr beschlossen die Mitgliedsstaaten nach einem Veto Griechenlands, keine Beitrittsgespräche mit Mazedonien zu führen. Da war Nikola Gruevski, der ursprünglich als liberaler Reformer galt, gerade zwei Jahre lang an der Macht. Als sich die NATO- und EU-Perspektive Mazedoniens für absehbare Zeit zerschlagen hatte, begann eine Suche nach „alternativen Erzählungen“, sagt der Experte Bieber.

Da Mazedonien keinen Anschluss an Europa und den Westen fand,
schuf es sich eine neue archaische Identität aus dem Altertum. Die konservative Regierung propagiert eine Staatsideologie, die an das antike Mazedonien von Alexander dem Großen anschließen soll. Regimetreue Historiker versuchen, die Abstammung der modernen Mazedonier von den antiken zu belegen, auch wenn die Slawen tatsächlich erst 900 Jahre später auf dem Balkan einwanderten. Im Rahmen eines gewaltigen Bauprogramms, das seit 2009 in Skopje läuft, entstehen Dutzende riesige Statuen und säulenbewehrte Festhallen. Sie verherrlichen die angeblich antike Vergangenheit des Volkes. Der Höhepunkt ist Alexander der Große selbst: als Reiterstatue mit gezücktem Schwert, 24 Meter hoch, auf dem Hauptplatz von Skopje, zwischen Bronzelöwen und Wasserfontänen.

Heute dient Alexander den allabendlichen Protestmärschen durch die Stadt als Kulisse. Die Demonstranten ziehen vorbei an den monumentalen Bronze-Fantasien des Regimes, an wehenden Fahnen, wallenden Umhängen, wiehernden Schlachtrössern. Eine urbane, gebildete Schicht führe die Bewegung an, sagt Anastas Vangeli, der Anti-Regierungs-Aktivist. „Aber inzwischen stoßen auch immer mehr gewöhnliche Leute zu uns, zum Beispiel Alte und Arbeiter.“ Die Enthüllungen des Sozialdemokraten Zaev haben all die Unzufriedenen zusammengeführt. Alte und Junge, mehr und weniger Gebildete, Slawen und Albaner. „Vieles von dem, was nun ans Licht kommt, haben die Leute vorher schon geahnt“, sagt Vangeli: „Aber wir hätten nie gedacht, dass es so schlimm ist.“

Reiterstatue Alexanders des Großen in Skopje (Gepp)

Reiterstatue Alexanders des Großen in Skopje (Gepp)

Die mazedonischen Medien, mehrheitlich in Regierungshand, schmähen die Protestler. Sie seien Söldner der US-Geheimdienste, heißt es im Fernsehen. Seit dem sogenannten Anti-Terror-Einsatz bringt man sie außerdem mit den Terroristen von Kumanovo in Verbindung. Was allerdings in Kumanovo genau geschehen ist, das scheint auch eine Woche nach dem Vorfall niemand in Mazedonien zu wissen – nicht einmal die, die dabei waren.

So wie der 61-jährige Hasani Shabi, ein ethnischer Albaner. Am Samstag, 9. Mai, 7 Uhr morgens, wurde er von seiner Frau geweckt. Sie hatte draußen Schüsse gehört und sagte zu ihm: „Es ist Krieg.“

Shabi versteckte sich mit seiner sechsköpfigen Familie im Keller, einem dunklen, feuchten Loch, in dem man nicht aufrecht stehen kann. Unterdessen trafen Patronen und Granaten das Einfamilienhaus, stundenlang. Das Viertel versank in Trümmern. Sie rochen unten, wie das Haus zu brennen begann. Um vier Uhr nachmittags schließlich, als die Schüsse kurz aufhörten, lief Shabi nach draußen. Er lotste seine Familie einen schmalen Pfad neben seinem Haus entlang, hinaus aus dem Kampfgebiet. Die Schlacht sollte danach noch bis in die späte Nacht weitergehen, insgesamt 16 Stunden lang.

Wer waren die Terroristen? Das wisse er nicht, sagt Shabi, genauso wie die anderen Einheimischen in Kumanovo: „Ich habe nur Polizisten gesehen.“ Waren ihm zuvor verdächtige Fremde aufgefallen? Nein, sagt er. Standen hier im Viertel Häuser leer, in die sich Terroristen früher schon hätten zurückziehen können? Ebenfalls nein. Gibt es in Kumanovo Probleme zwischen den Volksgruppen? Vorbehalte schon, sagt Shabi, aber insgesamt lebten Slawen und Albaner friedlich aneinander vorbei.

Was ist also geschehen in Kumanovo? Laut dem mazedonischen Innenministerium sind albanische Unabhängigkeitskämpfer illegal aus dem Kosovo eingesickert. 14 von ihnen starben, etwa 30 sollen sich ergeben haben, sagt Ivo Kotevski, Pressesprecher des Ministeriums. Über etwaige Einvernahmen von ihnen habe er noch keine Informationen. Die Gruppe stand angeblich seit Monaten unter Beobachtung und plante Anschläge mit bis zu Tausenden Toten, etwa auf Sportstadien und Sehenswürdigkeiten in Skopje.

Könnte der Anti-Terror-Einsatz von Kumanovo tatsächlich eine Art Manöver des eigenen Staatsapparats gewesen sein, um die Aufmerksamkeit von den Anti-Regierungs-Protesten auf die alte Angst vor dem ethnischen Konflikt zu lenken? Eine Inszenierung, die aus dem Ruder lief? Vorläufig gibt es nur zahlreiche Ungereimtheiten, offene Fragen und den verdächtigen Zeitpunkt der Aktion. Als Triebkraft hinter dem Vorfall werden, abseits der offiziellen Version, kriminelle Schmugglerbanden, inneralbanische Mafiaclans oder gar der mazedonische Geheimdienst vermutet.

Möglicherweise wird man nie erfahren, was wirklich in Kumanovo geschehen ist. Denn was immer die mazedonischen Behörden bei ihren Ermittlungen herausfinden werden, man wird es ihnen nicht glauben, nach all der Propaganda und den abgehörten Telefonaten.

Immerhin hat Kumanovo die europäische Politik aufgerüttelt. Außenminister, Botschafter und EU-Kommissare äußern sich besorgt über die Gewalt und fordern zudem eine rasche Lösung der politischen Krise. Dies zwang Premier Gruevski erstmals zu Zugeständnissen. Vergangene Woche entließ er die umstrittene Außenministerin, den Transportminister und seinen Cousin, den mächtigen Geheimdienstchef Sašo Miljakov. Auf eine Interviewanfrage von profil antwortete das Büro des Premiers nicht; auch regierungsfreundliche Politik-Experten in Mazedonien waren nicht zu Gesprächen bereit.

Es wäre leicht für Europa, die Krise in Mazedonien zu lösen. Mit ein wenig Druck auf Griechenland und Mazedonien ließe sich der Namensstreit beenden. Dann hätte Mazedonien wieder eine EU-Perspektive. Das politische System hätte eine Motivation, nicht weiter ins Autoritäre und gar in Gewalt abzugleiten, als Nächstes vielleicht gegen die Demonstranten von Skopje.

Doch bisher erschien das kleine Mazedonien dem großen Europa zu unwichtig für entschlossenes Handeln. Über den Namensstreit seien manche EU-Regierungschefs sogar froh, sagen Diplomaten hinter vorgehaltener Hand. Denn er hält ihnen einen weiteren unpopulären EU-Beitritt vom Leib, ohne dass sie deshalb in Erklärungsnöte gerieten.

Diese Geschichte endet an dem Ort,
wo sie auch nicht hätte beginnen sollen. „Noch ein Kumanovo wird Mazedonien wohl nicht aushalten“, sagt der regierungskritische Experte und mazedonische Ex-Diplomat Nikola Dimitrov. Zwar sei das Verhältnis der Volksgruppen heute stabiler denn je, auch wegen der Proteste in Skopje. Aber weitere Gewalt würde es wieder auf die Probe stellen. Dann würden Slawen und Albaner vielleicht nicht mehr miteinander demonstrieren, sondern gegeneinander kämpfen, weil sie einander die Schuld für etwaige Anschläge gäben.

Die mazedonische Regierung, sagt Dimitrov, sei jetzt in einem „Alles-oder-nichts-Dilemma“. Wenn Gruevski nun aufgibt, „drohen ihm und seinen Gefolgsleuten schwerwiegende Konsequenzen, bis hin zur Haft“. Also werde der Premier weitermachen. So lange wie möglich. Vielleicht bis zum Ende.

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Warum sie gehen

Aus dem profil 19/2015

Sind es Clan-Kriege? Ist es der Klimawandel? Oder einfach das Verlangen nach einem besseren Leben? Viele von Europas Bootsflüchtlingen stammen nicht aus Syrien, sondern aus Afrika.

Von Joseph Gepp

Ihr Wunsch wegzukommen ist so groß, dass sie undichte, überfüllte Boote besteigen. Auf dem Weg nach Europa riskieren sie ihr Leben. Was treibt diese Menschen zur Flucht? Im Fall von Syrien und Afghanistan kennt die breite Öffentlichkeit die Gründe, dort herrschen Terror und Bürgerkrieg. Weniger klar sind die Fluchtmotive bei einer ganzen Reihe afrikanischer Länder.

Von dort stammt fast die Hälfte der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, wie die Statistiken der EU-Grenzschutzagentur Frontex belegen. Im Jahr 2014 zum Beispiel handelt es sich zwar beim Großteil jener Menschen, die illegal die Grenze der Schengen-Zone überquerten, um Syrer. Dahinter allerdings folgen – von Afghanistan abgesehen – ausschließlich afrikanische Länder: Besonders viele Flüchtlingen kamen aus Eritrea, danach folgen Mali, Gambia, Nigeria und Somalia.

profil hat mit Experten, Behörden und Flüchtlingen über die Ursachen gesprochen. Es zeigt sich: Oft treibt eine diffizile Gemengelage die Leute davon. Wenn man die Motive genau betrachtet, verschwimmt die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Wirtschaftsund Kriegsflüchtlingen. Eines spielt ins andere hinein und geht ins andere über. Häufig führt ein Krieg in einem Landesteil zu mehr Armut und Not in anderen.

Ein Rundblick in Afrika.

ERITREA

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30 Jahre lang kämpfte das Sechs-Millionen-Volk der Eritreer um seine Unabhängigkeit vom Nachbarn Äthiopien. Nachdem im Jahr 1991 das Ziel endlich erreicht worden war, errichtete der Freiheitskämpfer Isaias Afewerki am Horn von Afrika allerdings eine Diktatur von steinzeitlicher Dimension.

Unter ständigem Beschwören der angeblichen äthiopischen Bedrohung schottet sich Eritrea heute von der Außenwelt ab. Presse- und Versammlungsfreiheit existieren nicht; die einzig zugelassene Partei ist die von Afewerki. Eritrea gilt inzwischen als das Nordkorea Afrikas; aus keinem afrikanischen Staat sind die Flüchtlingszahlen in Richtung Europa annähernd so hoch.

Was genau treibt die Eritreer zur Flucht? Es sind weder Krieg noch Hunger, auch wenn die Lebensbedingungen nicht rosig sind. „Der Auslöser ist ganz klar der nationale Dienst“, sagt Nicole Hirt vom Hamburger Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien. Dieser Dienst wurde im Jahr 2002 eingeführt, nach einem weiteren Grenzkrieg mit Äthiopien. Seither müssen die Eritreer für ihr Land arbeiten, für ein Taschengeld und auf unbestimmte Dauer.

Es ist im Grunde ein riesiges System staatlich organisierter Zwangsarbeit. Der nationale Dienst ist kein klassischer Militärdienst, oft dienen die Menschen auch als Lehrer und Krankenschwestern. Er gilt für Männer wie Frauen, wobei Letztere freigestellt werden, sobald sie schwanger sind. Meist dauert der Dienst rund zehn Jahre – eine Zeit, in der die Eritreer „kein Geld verdienen, nicht heiraten, keine Familie gründen und ihre Eltern nicht versorgen können“, wie Hirt sagt. „Deshalb bleibt ihnen nur die Flucht.“ Ein Abtauchen ist kaum möglich, das kleine Land wird streng überwacht. Wer bei den regelmäßigen Razzien aufgegriffen wird, kommt ins Straflager.

Der Großteil der Flüchtlinge landet in den Nachbarländern. Allein im – politisch ebenfalls instabilen – Sudan sollen derzeit mehr als 100.000 Eritreer leben. Weiter nach Europa schaffen es gemeinhin nur die besser gestellten.

Inzwischen hat das Regime gelernt, von der Massenflucht zu profitieren. Es presst den Emigranten eine Art Einkommenssteuer ab. Die Abgabe wird fällig, wenn man aus dem alten Heimatland etwa einen Reisepass oder eine Ausbildungsbestätigung benötigt. Zwei Prozent auf alle Bezüge – Gehälter genauso wie Sozialhilfen – müssen Auslands-Eritreer sogar dann abliefern, wenn sie über eine andere Staatsbürgerschaft verfügen. Bizarrer Nebeneffekt der Maßnahme: Geld aus Europas Sozialsystemen dient indirekt zur Finanzierung eines der blutigsten Regime weltweit.

SOMALIA

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Seit 27 Jahren tobt in Somalia ein Bürgerkrieg mit wechselnden Teilnehmern, in den vergangenen Jahren jedoch hat der Schrecken für die Bevölkerung einen neuen Namen bekommen: al-Shabaab, wörtlich: „die Jugend“.

Die islamistische Miliz kontrolliert weite Teile von Süd-und Zentralsomalia. Nur im Norden des Landes und in den wichtigsten Städten habe sie keinen Einfluss, sagt Andreas Tiwald, Afrika-Referent der Staatendokumentation des heimischen Bundesamts für Fremdenwesen. In den Städten allerdings droht weiterhin die Gefahr von Anschlägen durch al-Shabaab-Kämpfer.

„Für 80 Prozent der Somalier dauert der Krieg nach wie vor an“, sagt die deutsche Afrika-Journalistin Bettina Rühl, die die Lage in Somalia vor Ort recherchiert. „Das sind schwere, bedrohliche Situationen.“ Menschen bekommen zum Beispiel Droh-SMS, in denen die Islamisten erkennen lassen, dass sie wissen, wo sich ihr Opfer gerade aufhält. Sie erpressen von Geschäftsleuten hohe Schutzgelder, rekrutieren junge Männer zwangsweise und blockieren Straßen, sodass Bauern ihre Felder nicht mehr bestellen können. Dazu verübt die Miliz gezielte Tötungen an angeblichen Agenten des Westens, etwa an Parlamentariern und Mitarbeitern internationaler Organisationen. Der Hass trifft aber mitunter auch die eigenen Kämpfer, die man des Verrats bezichtigt.

Ausländische Vermittlungsversuche und Interventionen konnten bislang immerhin einen Erfolg erzielen: Früher tobte auch noch ein grausamer Krieg zwischen unterschiedlichen Clans in Somalia. Dieser zumindest stellt heute für den Großteil der Zivilbevölkerung keine Gefahr mehr dar, nur die al-Shabaab terrorisiert noch die Somalier.

Der Bürgerkrieg begann bereits im Jahr 1988 mit einem Aufstand gegen den damaligen Diktator Siad Barre. Seither sind Millionen Menschen innerhalb Somalias vertrieben worden. Weitere leben heute in Nachbarländern, allein ungefähr eine halbe Million im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, dem größten weltweit, unweit der somalischen Grenze. Von dort aus versuchen viele in Richtung Europa weiterzukommen.

GAMBIA

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Das Land, gelegen in Westafrika, ist kleiner als Oberösterreich und hat weniger Einwohner als Wien. Vielschichtige Ursachen treiben die Gambier in die Flucht.

Im Jahr 1994 putschte sich der Militär Yahya Jammeh an die Macht, seither regiert er immer uneingeschränkter. In jüngster Zeit verschlechtere sich die menschenrechtliche Lage „fast im Jahresrhythmus“, sagt der deutsche Westafrika-Experte Heinrich Bergstresser. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa wirft dem gambischen Regime „regelmäßige Folter“ vor. Opfer der Repression seien vor allem kritische Journalisten, Aktivisten sowie Schwule und Lesben.

Bei der Bevölkerungsmehrheit sei Jammeh trotzdem beliebt, sagt Bergstresser – aber auch deren Lage werde kritischer. Die wichtige Tourismusindustrie beispielsweise hat sich nicht nur vom Militärputsch nie richtig erholt, sie befindet sich auch in der Hand des präsidialen Clans. Wer niemanden kennt, bekommt keinen Job.

Dazu kommen umstrittene Fischereiabkommen. Die EU hat sie mit dem Nachbarland Senegal abgeschlossen, das Gambia von drei Seiten her einschließt. Seither fischen Europas Trawler Tausenden lokalen Küstenfischern den Fang weg, etwa Thunfische. Für sich genommen würde dieser Aspekt zwar keine Fluchtbewegung auslösen. Aber die politische Repression, die wirtschaftliche Lage, die Perspektivlosigkeit – all das sind Mosaiksteine, die zur kritischen Situation beitragen.

Meist verlassen nicht die ärmsten Gambier das Land, sondern jene, die lesen und schreiben können. Das Regime hält mit Propaganda dagegen: Zeitungsartikel und sogar Reggae-Songs warnen vor den Gefahren der Meeresüberfahrt und schildern Elend und Ausgrenzung, die in Europa drohen. Bisher hat das die Gambier nicht abgeschreckt.

MALI

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Die Lage in Mali, dem westafrikanischen Land von knapp der doppelten Einwohnerzahl Österreichs, ist kompliziert. Wie bei Gambia führen viele Ursachen dazu, dass das Land am Rand der Sahara in den Flüchtlingsstatistiken weit oben steht.

Da wäre zunächst ein ethnischer Konflikt im Norden. Im Jahr 2012 brach er, wieder einmal, gewaltsam aus. Islamistisch geprägte Rebellen vom Volk der Tuareg riefen einen eigenen Staat aus. Die malische Armee schlug sie – mit vor allem französischer Unterstützung – zurück.

Bürgerkrieg und Terror in Nordmali trieben zwar knapp eine halbe Million Menschen in die Flucht. Diese allerdings „flohen hauptsächlich innerhalb Malis oder in die Nachbarländer“, sagt der Wiener Afrikanist Walter Schicho, der sich in seinem dreibändigen „Handbuch Afrika“ mit der Lage des Kontinents befasst.

Es ist also weniger der unmittelbare Konflikt im Norden, der die Malier zur Flucht nach Europa treibt, sondern seine langfristigen Begleiterscheinungen. Die Städte des Südens, wo es friedlich geblieben war, haben sich mit Flüchtlingen gefüllt. Diese konkurrieren mit der dortigen Bevölkerung um Perspektiven. Das verstärkt den Auswanderungsdruck – zumal Europa in Mali idealisiert wird. Viele Fluchtwillige können zudem auf Verwandte zurückgreifen, die es bereits nach Europa geschafft haben.

In all das mischen sich ökologische Aspekte: Das Klima verschlechtert sich; die Wüste wandert in den Süden. „Schuld ist der Klimawandel, aber auch Fehler in der Landwirtschaft, vor allem die Ausbreitung von Monokulturen“, sagt Schicho. Dies treibt nomadische Hirten des Nordens nach Süden, wo ihre Rinder Nahrung finden. Dort aber leben sesshafte Bauern, mit denen die Nomaden in Konflikt geraten. Und der Druck auf Südmali steigt weiter.

NIGERIA

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Nigeria ist das größte Land Afrikas; jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer. Allein aufgrund seiner Größe spielt das Land eine Rolle in den Asylstatistiken.

Für Unruhe sorgt mit Morden und Entführungen die radikalislamistische Boko Haram im Norden – aber dies schlägt sich in den Fluchtzahlen nach Europas kaum nieder. „Boko Haram hat eher eine Binnenflucht zur Folge“, sagt Westafrika-Experte Heinrich Bergstresser. Die Unruhen im Norden destabilisieren die Gesellschaft und tragen dazu bei, dass sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert.

Dabei wurde für Nigeria – zumindest im Süden – in den vergangenen Jahren sogar ein Wirtschaftsboom konstatiert. Doch Korruption und Vetternschaft sorgen dafür, dass der Wohlstand in der Masse kaum ankommt. Bergstresser macht „eine Mischung aus Zug- und Druckfaktoren“ für die Flucht verantwortlich. Auf der Druck-Seite: wenig Perspektiven für die meisten, eine von Ölkonzernen verwüstete Küstengegend, die Fluchtbewegung von Nord nach Süd.

Der Zug-Faktor hingegen: eine millionenstarke nigerianische Community im Ausland, etwa in Großbritannien, die eine Flucht erleichtert. Und die ungebrochene Strahlkraft des europäischen Traumes, die sich durch Neue Medien inzwischen selbst in entlegenste Dörfer verbreitet.

Dazu kommen Drogen- und Prostitutionsnetzwerke, auf die sich die nigerianische Mafia spezialisiert zu haben scheint. Inwieweit diese ausschlaggebend für die Migration sind, lässt sich nicht quantifizieren. Jedenfalls aber spielen sie eine Rolle. „Es ist ein raffi niertes Geschäftsmodell“, sagt Hannah-Isabella Gasser, die Gründerin der Wiener NGO Footprint für Betroffene von Frauenhandel. Frauen werden mit falschen Versprechungen nach Europa geschleust, wo man sie Komplizen überantwortet und sie auf dem Straßenstrich die angeblichen Reiseschulden abstottern lässt.

Die Menschenhändlerinnen – durchwegs Frauen, die man „Madames“ nennt – statten ihre Opfer mit fixfertigen Fluchtgeschichten aus, die sie Fremdenbehörden auftischen. Sie sind kaum überprüfbar; oft handeln sie von der Verfolgung durch Voodoo-Geheimbünde mit Namen wie „Black Eggs“. Viele dieser Bünde existieren wirklich, über ihre Rolle in der nigerianischen Gesellschaft weiß man aber wenig.


WAS FLÜCHTLINGE ERZÄHLEN


ASHA AYNAB, 23, aus Somalia, derzeit Wien-Penzing

„Ich bin in der somalischen Hauptstadt Mogadischu aufgewachsen. Bevor ich 2007 nach Österreich kam, haben dort Milizen das Haus meiner Familie überfallen. Sie gehörten einer anderen, größeren Volksgruppe an; meine war zu schwach, um sich zu wehren. Wir konnten gerade noch nach Kismayo fliehen, einer Stadt im Süden Somalias, die damals sicherer als Mogadischu war. Von Kismayo aus sind mein Vater und ich – es waren nur wir beide, für die anderen Mitglieder meiner Familie hat das Geld nicht gereicht – über die Grenze nach Kenia gegangen. Von Kenia aus bin ich mit dem Flugzeug nach Syrien gereist und habe mich anschließend über die Türkei und Griechenland nach Österreich durchgeschlagen.“

MUSTAFA JOBE, 18, aus Gambia, derzeit Eisenstadt (aufgrund des laufenden Asylverfahrens wurde der Name geändert)

„Ich stamme aus der Stadt Serrekunda in Gambia. Vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 habe ich mich dem Oppositionsbündnis NADD angeschlossen, der Nationalen Allianz für Demokratie und Entwicklung. Nachdem es bei Wahlkundgebungen Zusammenstöße mit Regierungsanhängern gegeben hatte, begannen mich die Behörden zu schikanieren. Sie steckten mich zum Beispiel tageweise ins Gefängnis und verhörten mich. Wenn ich am Fußballplatz mit Freunden sprach, war kurz danach die Polizei da und durchsuchte alle. Sie schickten auch Briefe an meine Arbeitgeber. So ging das drei Jahre, bis ich im April 2014 schließlich floh: erst in den Senegal und schließlich durch die Wüste und das Mittelmeer nach Italien und Österreich.“

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„Wegducken, wenn es ungemütlich wird“

Aus dem profil 19/2015

Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, über Spannungen mit Österreich, Faymanns Kritik an Merkels Sparkurs und die Unterstützung der NSA durch den deutschen Geheimdienst.

Interview: Joseph Gepp, Otmar Lahodynsky

profil: Sie haben bei Ihrem Besuch in Wien die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich bis auf das Thema Fußball als überaus harmonisch bezeichnet. Doch es gibt auch Konflikte wie den Streit mit Bayern um die Hypo-Bank.

Norbert Lammert: Dieses Thema ist ebenso ärgerlich wie kompliziert. Der Versuch, es mit ein paar flotten politischen Absichtserklärungen zu lösen, ist nicht erfolgversprechend. Es wird zu einer rechtlichen Klärung der jeweils geltend gemachten Ansprüche kommen müssen.

profil: Spannungen mit Deutschland hat auch die Einführung der PKW-Maut auf deutschen Autobahnen ausgelöst.

Lammert: Der Deutsche Bundestag hat dazu gerade mit großer Mehrheit eine Regelung beschlossen. Die wird nun wiederum von anderen beklagt. Das sollten wir in aller Ruhe den weiteren Überprüfungen überlassen.

profil: So leicht lassen wir Sie jetzt nicht auskommen. Sie waren ja früher parlamentarischer Staatssekretär im Verkehrsministerium. Es stellt eine unzulässige Diskriminierung dar, wenn nur die deutschen Autofahrer die Mautgebühren über Steuerrefundierung zurückbekommen.

Lammert: Da der Gesetzgeber in Deutschland unter Beteiligung von Europarechtlern zu dieser Entscheidung gekommen ist, werden Sie jetzt doch nicht von mir als Parlamentspräsidenten erwarten, dass ich sage, ich teile diese Auffassung nicht.

Norbert Lammert, 67, ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und damit die zweithöchste politische Persönlichkeit Deutschlands. Der CDU-Politiker, in Bochum geborener Sohn eines Bäckers, studierte Politologie, Soziologie und Sozialökonomie und promovierte 1975 an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1986 bis 2008 gehörte er dem Landesvorstand der CDU von Nordrhein-Westfalen an. Bundeskanzler Helmut Kohl holte ihn ab 1989 als parlamentarischen Staatssekretär in mehrere Ressorts. 2010 wurde er nach dem Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler als möglicher Nachfolger gehandelt. Ein 2013 erhobener Plagiatsvorwurf zu seiner Dissertation wurde nach Überprüfung durch die Ruhr-Uni zurückgewiesen. Lammert hielt vergangene Woche einen Vortrag zum 70. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik auf Einladung der "Österreichischen Gesellschaft für Völkerverständigung" in Klosterneuburg. (Foto: Wikipedia)

Norbert Lammert, 67, ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und damit die zweithöchste politische Persönlichkeit Deutschlands. Der CDU-Politiker, in Bochum geborener Sohn eines Bäckers, studierte Politologie, Soziologie und Sozialökonomie und promovierte 1975 an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1986 bis 2008 gehörte er dem Landesvorstand der CDU von Nordrhein-Westfalen an. Bundeskanzler Helmut Kohl holte ihn ab 1989 als parlamentarischen Staatssekretär in mehrere Ressorts. 2010 wurde er nach dem Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler als möglicher Nachfolger gehandelt. Ein 2013 erhobener Plagiatsvorwurf zu seiner Dissertation wurde nach Überprüfung durch die Ruhr-Uni zurückgewiesen. Lammert hielt vergangene Woche einen Vortrag zum 70. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik auf Einladung der „Österreichischen Gesellschaft für Völkerverständigung“ in Klosterneuburg. (Foto: Wikipedia)

profil: Das klingt aber nicht, als wären Sie über das Maut-Gesetz besonders froh.

Lammert: Der Hinweis auf meine, allerdings zeitlich begrenzte, Tätigkeit im Bundesverkehrsministerium reicht ja aus, um den Nachweis zu führen, dass ich damals weder eine Maut gefordert noch ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren angeregt habe.

profil: Bundeskanzler Faymann ist zuletzt mit Kritik an Bundeskanzlerin Merkel aufgefallen. Die harte Sparpolitik aus Deutschland bremse den Wirtschaftsaufschwung in anderen EU-Ländern. Hat er damit Recht?

Lammert: Wir erwarten erstens von anderen EU-Staaten nicht eine Politik, die wir nicht selber auch im eigenen Land für richtig halten und praktizieren. Zweitens zeigt der Vergleich der Wirtschaftsdaten zwischen Deutschland und anderen europäischen Staaten, dass wir mit unserer Politik ganz so falsch nicht liegen können. Drittens: Soweit sich aus solchen Empfehlungen Vorgaben für Drittstaaten ergeben, setzt das die Zustimmung anderer europäischer Staaten voraus, einschließlich Österreichs. Keine einzige Vereinbarung mit Griechenland ist übrigens bilateral zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland verhandelt worden, sondern von den EU-Gremien mit der Regierung in Athen.

profil: Das heißt, Sie finden, dass Merkels Sparpolitik in vollem Ausmaß richtig war und ist?


Lammert:
Nochmal: Es gibt überhaupt keine deutsche Politik gegenüber Griechenland. Den vertraglichen Vereinbarungen der europäischen Partnerländer mit Griechenland hat Österreich ebenso zugestimmt wie Deutschland.

profil: Der Sparkurs in der EU ist doch von Deutschland maßgeblich mitgestaltet worden.

Lammert:
So wie alle europäischen Mitgliedsstaaten an europäischen Entscheidungen beteiligt sind, neigen sie dazu, sich hinter dem einen oder anderen wegzuducken, wenn es ungemütlich wird. Das ist keine völlig neue Erfahrung in Europa. Mit ist nicht erinnerlich, dass die damalige österreichische Regierung eine andere Politik vorgeschlagen hätte, als sie diese jetzt offenkundig für zweckmäßig hält. Dass wir in Europa nicht nur eine Konsolidierungspolitik und eine Austeritätspolitik brauchen, sondern auch eine, die Perspektiven der Entwicklung und damit für Wachstum und für neue Arbeitsplätze schafft, ist eine der Überzeugungen, die in der jüngeren Vergangenheit quer durch Europa gewachsen ist.

profil: Zur aktuellen Hauptaffäre im Deutschen Bundestag: Der US-Geheimdienst NSA hat offenbar mit Wissen des Bundesnachrichtendienstes BND Unternehmen und Behörden in Deutschland und Europa ausspioniert. Und Bundeskanzlerin Merkel soll davon gewusst haben. Bereitet Ihnen als oberster Parlamentarier in Deutschland diese Bespitzelung nicht Sorge?

Lammert: Ich habe bereits vor zwei Jahren die amerikanische Haltung zu den Aktivitäten der eigenen Dienste und zu der direkten oder der indirekten Inanspruchnahme von befreundeten Diensten für eine schwerwiegende Belastung der Beziehungen erklärt. Insofern verfolge ich dieses Thema mit besonderem und besorgtem Interesse. Der dazu eingesetzte Untersuchungsausschuss wird für Aufklärung sorgen. Erst dann stellt sich die Frage von Konsequenzen.

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