„Stellen Sie sich einmal vor, wie es damals gerochen hat“

Aus dem FALTER 39/2014, Wohnbeilage

Wie wohnte man vor hundert Jahren in Wien? Der Wiener Historiker Gerhard Halusa über Badebottiche, Dienstbotenböden und Kohlenkeller

Interview: Joseph Gepp

Seit 26 Jahren führt Gerhard Halusa im Wiener Wirtschafts-und Gesellschaftsmuseum im fünften Bezirk Museumsgäste durch die Epochen. Ein rekonstrierter Salon aus dem Fin de Siècle reiht sich hier etwa an ein Wohnzimmer aus den 60er-Jahren. Die Räume sollen zeigen, wie sich Wohnwelten und Standards in Wien im vergangenen Jahrhundert veränderten. Wir fragen Halusa, 54, studierter Historiker und Geograf: Wie hat man vor einem Jahrhundert gewohnt?

Falter: Herr Halusa, wie sah vor 100 Jahren die typische Wiener Wohnung aus?

Gerhard Halusa: Es war jedenfalls nicht die Wohnung der Adligen oder Großbürger, an die man heute vielleicht denkt. Darin lebten um das Jahr 1900 nur knapp zehn Prozent der Bevölkerung, neun davon Bürgerliche, einer adlig. Der Rest der Bevölkerung waren Arbeiter. Die typische Wiener Wohnung war also eine Arbeiterwohnung: höchstens 25 Quadratmeter groß, aus nur einem Raum bestehend. Wenn man sie betrat, stand man in einer so genannten „Gangküche“, die sich weiter hinten in einem Wohn-und Schlafraum fortsetzte. Wasseranschluss und Toilette lagen am Gang. Einen Vorraum gab es nicht: Von knapp 375.000 Wohnungen im Wien der Jahrhundertwende hatte gerade ein Viertel ein Vorzimmer oder einen kleinen Vorraum.

Wie viele Menschen lebten typischerweise in einer solchen Arbeiterwohnung?

Halusa: Meist eine Familie mit Kindern, dazu oft Untermieter und Bettgeher.

Wie war sie möbliert?

Halusa: In der Küche gab es eine kleine Arbeitsfläche und einen Herd, oft gemauert, wie man das heute noch in alten Bauernhäusern sieht. Entlüftet wurde die Küche durch ein Fenster zum Gang, deshalb nennt man sie „Gangküche“. Diese Gangfenster gibt es bis heute in vielen Wohnungen.

Und das Zimmer dahinter?

Halusa: Dort stand ein Bett, manchmal auch ein Schrank oder eine Truhe. Dazu gab es einen Ofen, den die Arbeiter meist mit aufgeklaubtem Holz beheizten. Die Möbelstücke kaufte man gebraucht, zum Beispiel bei Pfandleihern oder jüdischen Wanderhändlern. Die Ärmeren der Armen haben sich ihre Betten oft auch selbst gebaut, aus Brettern und Strohsäcken.

Beim Bürgertum hingegen herrschte wohl ein durchkomponierter, historistischer Prunk.

Halusa: Das galt nur für die ganz Reichen. Diese ließen sich teilweise Salons einrichten, in denen alles durchkomponiert und stilistisch einheitlich war. Das weniger hohe Bürgertum hingegen, beispielsweise die Beamten, wählten oft Möbel, die leistbar waren und einigermaßen repräsentativ aussahen. Da mischte sich dann etwa altdeutscher Stil mit Jugendstil.

Wie sahen Wiens Badezimmer vor hundert Jahren aus?

Halusa: Im Normalfall gab es nur eine Lavour für die Körperpflege, selbst für die Reichen. Zu denen kam aber immerhin allwöchentlich ein so genannten Badeknecht. Dieser stellte einen Holzbottich mit warmen Wasser auf, teils beheizbar. In den Bottich gingen dann nacheinander Vater, Mutter, Kinder und schließlich die Dienstboten. Alle im selben Wasser, alle natürlich in Badekleidung.

Wie lief die Körperpflege bei den Armen ab?

Halusa: Die hatten nur besagte Lavour sowie einen Kübel, den sie als Toilette verwendeten und regelmäßig ausleerten. Stellen Sie sich einmal vor, wie intensiv es in einer Wiener Arbeiterwohnung um die Jahrhundertwende gerochen hat: In jedem Haus kochen zehn bis 15 Familien und entlüften in den Gang. Dazu kommt das Klo am Gang sowie die Kübeln, die als Toiletten verwendet werden. Schließlich muss man bedenken, dass jede Person nur ein, zwei Kleidungsstücke besaß, die meist den ganzen Tag getragen wurden. Für unsere modernen Nasen wäre all das kaum auszuhalten.

Reden wir über schönere Dinge. Wie wurde damals Kaffee gekocht?

Halusa: Echten Kaffee konnte sich nur die zehn Prozent Oberschicht leisten. Die Armen verwendeten Ersatzkaffee, etwa aus Feigen. Oder man ist Zichorien stechen gegangen; dies kommt auch in Ferdinand Raimunds „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ vor. Zubereitet wurde der Kaffee auf viele Arten, es gab etliche Filterund Brühformen.

Wurde der Herd in der Küche mit Holz betrieben?

Halusa: Ja, meist. Es gab aber gemeinhin auch Gas in den Wohnungen. Das war eine einzelne Flamme in der Küche, die dauernd brannte. Sie diente hauptsächlich als Lichtquelle, manchmal auch zum Kochen. Die ganze Angelegenheit war eher unhygienisch, weil die Gasflamme stark gerußt hat. Weil reines Gas kein Licht gibt, hat man es in den Gaswerken mit Benzol oder dem Insektenmittel Naphthalin versetzt.

Und wie hat man die Wohnzimmer vor hundert Jahren beheizt?

Halusa: Mit Öfen. Die Reichen bestellten sich dafür Kohle in ihre Keller, die Armen sammelten Holz. Zumindest die Variante mit der Kohle hat es bis in die jüngere Vergangenheit noch gegeben: Als ich in den 60er-Jahren in Simmering im Gemeindebau aufgewachsen bin, hat noch der Kohlewagen seine Fuhren ins Kellerabteil gekippt. Wir sind dann mit Schaufeln und Kübeln hinunter, Kohle holen.

Was für einen Boden hatte vor einem Jahrhundert eine Wohnung in Wien?

Gerhard Halusa, Historiker im Wiener Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum (Foto: Gepp)

Gerhard Halusa, Historiker im Wiener Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum (Foto: Gepp)

Halusa: Auch hier müssen wir unterscheiden. Die Reichen hatten meist Parkettböden, die Arbeiter Böden aus Stein. Letzterer bestand beispielsweise aus Steinfliesen, wie man sie heute noch in vielen Wiener Altbauten in Stiegenhäusern sieht. Interessant war, dass es beim Adel und Bürgertum immer auch Bereiche für Dienstboten gab – in denen man dann die Parkettböden manchmal gezielt rausnahm. Denn der Parkettboden markierte den Herrschaftsbereich.

Wo in den Häusern lebten die Dienstboten?


Halusa:
Wiens vornehme Häuser verfügten über eine Beletage, den ersten Stock, wo die Herrschaften wohnten. Darunter liegt das Mezzanin. Diese Halbstöcke entstanden ursprünglich, weil die Bauherren die damalige Bauordnung umgehen wollten. Man durfte in Wien nicht höher als drei Stockwerke bauen, also zogen findige Unternehmer das Mezzanin ein. Ebendort kamen bevorzugt die Dienstboten unter. All dies gilt aber nur für das hohe Bürgertum. Jene Reichen, die weniger Platz hatten, stellten ihren Dienstboten einfach ein Klappbett im Vorzimmer auf.

In der Ära, über die wir sprechen, entstand ein Großteil der Bauten, die bis heute den inneren Teil von Wien prägen. Sie reicht ungefähr vom Jahr 1860 bis zum Beginn der Ersten Weltkriegs. Wo liegt der Unterschied zwischen einer Wohnung von 1860 und einer von 1910?

Dieses Wohnzimmer einer Familie des gehobeneren Bürgertums um 1900 hat man im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum rekonstruiert (Gepp)

Dieses Wohnzimmer einer Familie des gehobeneren Bürgertums um 1900 hat man im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum rekonstruiert (Gepp)

Halusa: Das hängt mit der Industrialisierung zusammen. 1860 gab es noch viele kleine Handwerke und Facharbeiter. Entsprechend fanden sich in den Höfen kleine Werkstätten und Betriebe; die dazugehörigen Gebäude stehen noch heute hinter vielen Wiener Gründerzeithäusern. Doch im Lauf der Jahrzehnte änderte sich das Bild. Der Handwerker wurde vom Fabriksarbeiter abgelöst, für den man Massenquartiere brauchte. Also wurden Zinskasernen hochgezogen, etwa in Favoriten. In diesen Häusern gibt es keine Beletage mehr, keine soziale Schichtung. Jede Wohnung schaute gleich aus. Wobei: Noch viel größer als der Unterschied zwischen den Jahren 1860 und 1910 ist beispielsweise jener zwischen 1910 und 1925. Die Gemeindebauten des Roten Wien nach dem Ersten Weltkrieg brachten eine immense Umwälzung des Wohnens.

Worin drückte die sich aus?

Halusa: Man wollte einen Gegenentwurf zum Elend der Kaiserzeit schaffen. Licht, Luft und Sonne statt Armut und Elend. Also führten die Stadtverantwortlichen Beschränkungen ein, zum Beispiel, was die Größe des unverbauten Anteils an einem Grundstück betraf. Dazu kamen neue, gemeinschaftliche Infrastrukturen wie Waschküchen. Und schließlich hatte man mit dem so genannten Friedenszins die Höhe der Mieten begrenzt. Vor dem Weltkrieg konnten private Bauherren mit Zinskasernen immense Profite machen, nun rentierten sie sich kaum noch. Folglich sprang die Stadt Wien ein, teils aus Überzeugung, teils aus Notwendigkeit. Aus all dem entwickelte sich eine neue, moderne Form des Wohnens.

Vor einem Jahrhundert bedeutete es für die meisten Menschen Armut und Elend, im Gründerzeitbau zu wohnen. Heute lieben ihn die Wiener viel mehr als den Neubau. Verblüfft Sie das?

Halusa: Da ist sicher viel Nostalgie im Spiel, aber Gründerzeitbauten sind auch gestalterisch schöner als viele jüngere Gebäude, zudem liegen sie nah am Zentrum. Außerdem hat sich das Wohnen verändert: Um das Jahr 1900 lag die durchschnittliche Wohnungsgröße bei 22 Quadratmetern. Heute haben die Wohnungen nicht nur alle Anschlüsse, viele von ihnen wurden auch zusammengelegt. Hätte man vor hundert Jahren ein durchschnittliches Stockwerk in einem Wiener Gründerzeitbau betreten, man würde viel mehr Wohnungstüren sehen.

Wien wächst heute so stark wie seit einem Jahrhundert nicht mehr, Stadtforscher sprechen von einer „zweiten Gründerzeit“. Was kann man heute von der ersten Gründerzeit lernen?

Halusa: Die Dichte von gründerzeitlichen Stadtviertel hat sicher Vorteile, die Wege sind kurz und das Straßenleben rege. Aber ansonsten sollte man die Wohnverhältnisse im Wien der Jahrhundertwende nicht romantisieren. Im Wesentlichen folgte die Gründerzeit dem eiskalten Prinzip der Gewinnmaximierung: Es galt, so viele Menschen wie möglich auf möglichst wenig Raum unterzubringen.

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3 Kommentare

Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtgeschichte

3 Antworten zu “„Stellen Sie sich einmal vor, wie es damals gerochen hat“

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  2. Franziska Malatesta

    Er hat wirklich „eine Lavour“ (ausgesprochen: lawuur, genus: Femininum) gesagt? Interessante Transkription für ein Wort, das für ältere Zeitgenossen wie mich als „das Lavoir“ (ausgesprochen: lawoor, genus: Neutrum) bekannt war und irgendwann in den Siebzigern obsolet geworden sein muß. Die Sprachebenen im Wiener Dialekt offenbaren immer wieder erhellende Feinheiten, besonders über die von den Linken sogenannte „Sozialisation“.

    Zwei Einwände: in zahllosen Gründerzeitwohnungen gibt es unmittelbar neben der Wohnungstüre oder hinter der Küche ein kleines Dienstbotenzimmer. Dort sind dieselben Böden verlegt wie überall sonst in der Wohnung. Wer für das Dienstmädchen ein Klappbett aufstellen mußte, war nicht wirklich vermögend, sondern ein gewöhnlicher Kleinbürger. Meine Großmutter war ein derartiges Dienstmädchen, ihre Arbeitgeber waren selber beinahe arm.

    Richtig ist „Vor dem Weltkrieg konnten private Bauherren mit Zinskasernen immense Profite machen, nun rentierten sie sich kaum noch. Folglich sprang die Stadt Wien ein, teils aus Überzeugung, teils aus Notwendigkeit.“ Genau. Es gibt keinen privaten Bau von Mietshäusern mehr in Wien, es werden von privater Hand nur Eigentumswohnungen errichtet. Der Halusa sollte mal drüber nachdenken, ob das nicht vielleicht etwas mit dem völlig überzogenen Mieterschutz und der faktischen Enteignung der Hauseigentümer zu tun hat.

  3. Stevie Beier

    Aber die Frage, wie es vor hundert Jahren in einer Wiener Wohnung ausgesehen hat lässt sich doch viel einfacher beantworten – man muss nur genug Wohnungen in Wien besichtigen, da sind genug dabei die seit damals nicht saniert wurden 😀
    Hab da vor kurzem erst ein cooles Vorher/Nachher entdeckt, auf der Seite von einem Baumeister in Wien. http://www.koenig-heinrich.at/einzelgewerke/baumeister Die haben scheinbar öfter solche Fälle, wo sie quasi bewohnbare Fossilien ordentlich sanieren 😉

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