Aus der FALTER-Beilage „Die Krise verstehen“ 34/2014
Giacomo Corneo begibt sich auf die faszinierende Suche nach einem besseren Wirtschaftssystem
Rezension: Joseph Gepp
Es gibt Fragen, die darf man sich nicht stellen, sonst gilt man als Naivling und als weltfremder Träumer. Zum Beispiel die nach Alternativen zum Kapitalismus. Diese Frage, sagen die Verteidiger, habe die Geschichte doch längst beantwortet. Der Kapitalismus sei alternativlos. Der italienischstämmige Berliner Ökonom Giacomo Corneo stellt die Frage in einem kürzlich erschienenen Buch trotzdem. Und darauf aufbauend liefert er ein faszinierendes Porträt unseres Wirtschaftssystems – und etwaiger anderer.
Corneo ist nicht etwa ein wütender Kapitalismuskritiker. Nein, er definiert sich sogar als „Neoklassiker“, also als ein Anhänger der herrschenden ökonomischen Lehre. Dennoch konstatiert Corneo ganz nüchtern, dass in unserem System einiges schief läuft: die hohe Arbeitslosigkeit etwa, die wachsende Ungleichheit, die Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung. Gibt es also andere, bessere Möglichkeiten? Ohne in seinen Befunden Gnade walten zu lassen, klopft Corneo sämtliche Alternativen auf ihre Praxistauglichkeit ab.
Könnten die anderen Systeme denn ausreichend Ressourcen produzieren, um allgemeinen Wohlstand zu schaffen? Würden die Menschen ausreichend mitarbeiten? Oder ihrem jeweiligen System aufgrund mangelnder Motivation den Rücken kehren? Solche Fragen stellt sich der Ökonom auf erfrischend undogmatische Weise.
Corneos Tour führt lehrreich durch Jahrhunderte westlicher Ideengeschichte. Sie beginnt bei Platons Wächterstaat, in dem ein allmächtiges oberstes Gremium die Ressourcenverteilung harmonisch regeln soll, ohne dass Marktkräfte ins Spiel kommen. Später führt die Tour etwa zur Insel Utopia, erdacht von Thomas Morus im 16. Jahrhundert, wo sich Demokratie und Toleranz mit dem Verbot von Privateigentum verbinden. Schließlich endet Corneo bei modernen Konzepten wie dem Genossenschaftswesen, dem Realsozialismus osteuropäischen Zuschnitts und dem bedingungslosen Grundeinkommen.
Doch bei all diesen Modellen fällt Corneos Urteil enttäuschend aus. Manchmal hätten die Menschen nicht genügend Anreize zur Mitarbeit, erhebt der Ökonom mithilfe spieltheoretischer Ansätze. In anderen Fällen reiche der Grad an Innovation und Produktion nicht aus. Das Zwischenfazit: Es muss eine Art Marktsystem sein. Nur dieses, so Corneo, sorge für genug Anreize und Güter.
Doch seine Reise ist an dieser Stelle nicht vorbei, denn es gibt unterschiedliche Marktsysteme. Die Rolle des öffentlichen Eigentums ist in ihnen etwa verschieden geregelt. Oder die Frage, was mit dem Vermögen von Verstorbenen geschieht: Bekommen es die Erben oder beispielsweise eine staatliche Einrichtung?
Corneo durchleuchtete die Vor- und Nachteile sämtlicher Marktsysteme. Hier wird sein Buch stellenweise etwas technisch, schließlich sind die Unterschiede nicht allzu groß. Doch es mangelt Corneo niemals an Verständlichkeit und wissenschaftlicher Redlichkeit. Schließlich stößt er auf den sogenannten „Aktienmarktsozialismus“.
Es ist eine wilde Mischung der Systeme, auf die der unkonventionelle Denker da gekommen ist: Große Unternehmen würden verstaatlicht und an die Börse gebracht, wo sie gegeneinander um höhere Effizienz ringen sollen – die Gewinne flössen an die Allgemeinheit. Ein florierender Sektor aus privaten Kleinunternehmen sorgt zudem dafür, dass die Innovationen nicht ausgehen.
Corneo sieht hier die Chance auf einen weniger mangelhaften Kapitalismus – und zugleich eine Art wohlfahrtsstaatliches Modell für die Zukunft. Denn vereinfacht gesagt sorgt im Aktienmarktsozialismus der Staat für Gerechtigkeit – und gleichzeitig sollen neuartige Organisationsweisen und Anreizstrukturen dafür sorgen, dass diesem System ein Schicksal erspart bleibt, wie es beispielsweise die verstaatlichten Industrien in den 1970er-Jahren erlitten.
Corneo plädiert in aktuellen Interviews gern dafür, den Praxistest in Sachen Aktienmarktsozialismus zu wagen – vorerst etwa bei zwei oder drei Großunternehmen. Mal schauen, was besser funktioniert. Man mag seine Meinung teilen oder nicht, jedenfalls war Corneos Weg zu diesem Ziel ein höchst aufschluss- und lehrreicher.
Interview mit Giacomo Corneo vom Mai 2014
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