Im Land der Angefressenen

Aus dem FALTER 42/2013

Schlechtes System, blöde Politiker, totaler Stillstand: Immer mehr Menschen sind wütend über die Zustände in Österreich. Zu Recht?

Annäherung: Joseph Gepp

Ein Gefühl schleicht durch Österreich. Es ist schwer fassbar, blitzt aber immer wieder auf. In Fernsehbeiträgen. In Zeitungsartikeln. Abends in einer Runde beim Bier. Das Gefühl ist Wut.

Zum Beispiel im Falter, vor wenigen Wochen. Da kam das Gefühl besonders stark zum Vorschein. Vier junge Intellektuelle erzählten vor der Nationalratswahl, wie sie zu Österreich stehen und was sie sich von der Gesellschaft erwarten. Die Befunde waren verheerend: Wer sie las, wähnte sich passagenweise in einem Land am Rand des sozialen Zusammenbruchs. Die politische Situation sei nur noch „zum Weinen“, sagte einer der Diskutanten. Die Politiker: allesamt „lächerlich“. Als „pervers“ bezeichnete eine Befragte das Parteiensystem. „Ich hoffe, dass meine Enkel es einmal im Fach Geschichte und nicht im Fach Politische Bildung lernen werden.“

Mit dieser Wut stehen die jungen Intellektuellen bei weitem nicht allein da. Worte wie ihre hört man oft, vielleicht immer öfter. Eine diffuse Wut greift um sich. Eine Fundamentalkritik an Politik und Staat. Ein tiefer Pessimismus. Eine eher unbestimmte, aber heftige Sehnsucht nach Aufbruch und Erneuerung.

Wohlgemerkt, diese Geschichte handelt nicht vom wütenden Ressentiment vieler FPÖ-Wähler. Die Fremdenfeindlichkeit und Verschwörungstheorien der sogenannten Modernisierungsverlierer sind eine andere Sache. Träger der Wut, um die es hier geht, ist vielmehr eine urbane, oft junge Bildungsschicht mit Abstiegsängsten. Sie fürchtet, es einmal nicht mehr so gut zu haben wie einst ihre Eltern.

Neben ihrer ständigen Klage über die blöden Politiker empört sie sich gern über das angeblich so primitive Debattenniveau in Österreich – und verweist auf die Zustände in Deutschland als leuchtendes Gegenbeispiel. Außerdem erbost sie kaum etwas so sehr wie die berühmten, halbgaren „österreichischen Lösungen“, die dem Staat angeblich schaden. Stimmt das alles? Ist die Wut gerechtfertigt?

Quantifizieren oder messen lässt sich die Grundstimmung jedenfalls nur schwer. Einzig Umfragen über die Politikverdrossenheit geben Aufschluss darüber. So erhob das Meinungsforschungsinstitut OGM im Vorjahr, dass bei fast drei Vierteln der Österreicher das Vertrauen in die Politik in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen sei. 57 Prozent halten das derzeitige System sogar für „unreformierbar“. Ursache für den Pessimismus: der vielzitierte „Stillstand“.

Dieser allgemeine Negativbefund wirkt sich massiv auf die politische Machtverteilung im Land aus: Mit 74,91 Prozent war die Wahlbeteiligung bei der vergangenen Nationalratswahl – wiewohl im internationalen Vergleich immer noch hoch – die niedrigste seit 1945. Auch die jungen Neos verdanken ihren Wahlsieg wohl zum Großteil ihrem Ruf nach Systemerneuerung; die Hälfte ihrer Wähler nannte „Protest“ als Wahlmotiv. Und jetzt, wo dem Land erneut eine große Koalition ins Haus steht, erreicht die Klage über den gefühlten Stillstand in Medien und Öffentlichkeit wieder einen neuen furiosen Höhepunkt.

Wer verstehen will, wie es in Österreich tatsächlich aussieht, der muss die Gefühlsebene verlassen. Natürlich gibt es einen Reformstau in wichtigen Bereichen. Ärger ist gerechtfertigt, wenn es etwa um Österreichs unfaires Bildungswesen geht. Oder um undurchsichtige Verwaltungsabläufe. Um Klüngeleien, die Korruption begünstigen. Um die opportunistische, visionslose Europapolitik. Oder um die mangelnde Gleichstellung von Männern und Frauen.

Wenn man aber auf die Zahlen blickt, die beschreiben, wie gut es dem durchschnittlichen Österreicher geht und wie sich sein Wohlstand entwickelt – dann sieht die Sache anders aus. Diese Indikatoren sind etwa das Realeinkommen, die Arbeitslosenrate oder die Anzahl von Armutsgefährdeten, Teilzeitarbeitern und Working Poor. All diese Kennzahlen ergeben, mehr oder weniger, ein stimmiges Gesamtbild: Die Situation verschlechtert sich zwar allmählich. Aber sie ist immer noch sehr gut. Vor allem wenn man von außen auf Österreich blickt. Immerhin herrscht gerade die schwerste Wirtschaftskrise seit 1929.

Zum Beispiel das reale Einkommen eines durchschnittlichen unselbstständig Erwerbstätigen in Österreich. Dabei handelt es sich um rund vier Millionen Menschen. Wenn man die Inflation und Veränderungen am Arbeitsmarkt einberechnet, dann sank es laut Einkommensbericht des Rechnungshofs zwischen 1998 und 2011 um vier Prozent. Das ist deutlich weniger als in anderen Staaten. Dort brechen die Realeinkommen seit Ausbruch der Krise teils jedes Jahr um einige Prozentpunkte ein.

Oder die Arbeitslosenquote in Österreich. Sie hat sich seit dem Jahr 2000 nicht wesentlich verändert, trotz Krise. Derzeit beträgt sie 4,7 Prozent der Erwerbsfähigen. Das ist Platz eins in der EU. In Südeuropa liegt sie bei bis zu 27 Prozent. Selbst im boomenden Deutschland ist ein halbes Prozent mehr Menschen arbeitslos als hier.

Auch der Prozentsatz der Working Poor
liegt im vielgelobten Deutschland fast doppelt so hoch wie in Österreich, seit SPD-Kanzler Gerhard Schröder vor einem Jahrzehnt mit seinem Hartz-IV-Programm rigorose Arbeitsmarktreformen durchsetzte. Hierzulande gelten laut Sozialministerium und Statistik Austria rund vier Prozent der Menschen als trotz ihrer Erwerbstätigkeit arm – das ist drittbester Wert in Europa. Auch wuchs die Zahl der armutsgefährdeten Österreicher in den Krisenjahren nicht, sondern ging leicht zurück. Und was Teilzeitarbeit und Prekariat betrifft, hält ein Bericht der Statistik Austria fest: „Es kann in Österreich von keiner eindeutigen strukturellen Verschiebung in Richtung Atypisierung gesprochen werden.“

Charakterkopf: Der österreichisch-deutsche Barockbildhauer Franz X. Messerschmidt (1763–1783) stellte menschliche Emotionen dar – auch die Wut. Er arbeitete in Wien unter Maria Theresia. 16 seiner Büsten sind im Unteren Belvedere zu sehen

Charakterkopf: Der österreichisch-deutsche Barockbildhauer Franz X. Messerschmidt (1763–1783) stellte menschliche Emotionen dar – auch die Wut. Er arbeitete in Wien unter Maria Theresia. 16 seiner Büsten sind im Unteren Belvedere zu sehen

Was sagen all diese Zahlen? Natürlich veranlassen sie nicht zu Optimismus. Der normale Österreicher – einer, der mit einer unselbstständigen Beschäftigung ein durchschnittliches Einkommen von 24.843 Euro brutto im Jahr hat – scheint den Zenit seines Wohlstands überschritten zu haben. Auch hierzulande entkommt man nicht einem mächtigen internationalen Trend, den die kanadische Journalistin Chrystia Freeland als die „neue Gründerzeit“ bezeichnet: der massiven Macht- und Kapitalumverteilung von Staaten hin zu einer übernationalen, global tätigen Elite. Allerdings – und das ist entscheidend: Bislang hält Österreich bemerkenswert gut dagegen.

Hierzulande wächst die Anzahl der Armen nicht
– im restlichen Europa hingegen stieg laut Rotem Kreuz seit 2009 die Anzahl jener, die auf Nahrungsmittelspenden angewiesen sind, um drei Viertel. Hierzulande gibt es keine Massenentlassungen; kaum etwas an Infrastruktur verfällt; der soziale Frieden bleibt gewahrt. Für all das sorgten politische Unterfangen wie Kurzarbeit, staatliche Investitionen gegen die Krise oder breite Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit, etwa Ausbildungsgarantien. Freilich: Dass solche Aktionen überhaupt möglich waren, liegt weniger an der Brillanz der heimischen Regierungen – sondern am strukturellen Umfeld.

Im Gegensatz zu Ländern wie Spanien oder Griechenland hat Österreich noch Spielraum zum Investieren, ja generell zum politischen Handeln. Die enge Verflechtung mit Deutschland stimuliert die Wirtschaft. Für Stabilität sorgen zudem die Sozialpartnerschaft und ein starker betrieblicher Mittelstand, der nicht auf jede Zuckung der Märkte mit Panik reagiert. All das führt dazu, dass die Österreicher die Wirtschaftskrise im Alltag bislang kaum spüren. In Rankings und internationalen Medien wie Foreign Policy gilt das Land deshalb als Vorbild. Österreich – das ist das Land, in dem es die Krise nicht gibt.

Fazit: Trotz berechtigter Zukunftssorge,
trotz legitimen Nachdenkens über Reformen ist erbitterte Fundamentalkritik am heimischen System nicht angebracht. Hemmungsloses Schimpfen über den totalen Stillstand und dumme Politiker? Nein, so schlecht waren Österreich und seine politische Kaste bislang wahrlich nicht.

Im Gegenteil, vielleicht hat die heimische Reformunwilligkeit sogar ein wenig dazu beigetragen, dass die Lage heute besser ist als anderswo. Denn all jene Staaten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten massive Reformen verordneten – die also genau das taten, was so viele Österreicher herbeisehnen -, sind heute mit bestenfalls durchwachsenen Resultaten konfrontiert. Meistens gingen die Veränderungen auf Kosten der Mittelschicht und des breiten Wohlstands. Das zeigt sich etwa, so unterschiedlich die einzelnen Reformen auch waren, an Gerhard Schröders Deutschland, an Margaret Thatchers Großbritannien, an den USA unter Reagan und Clinton oder an den Staaten Südeuropas, denen Troika und EU Sparmaßnahmen aufzwingen. Hierzulande hingegen wurde keine Eisenbahn privatisiert und wurden keine Langzeitarbeitslosen mit Minijobs abgespeist. Die vielgeschmähten, halbgaren „österreichischen Lösungen“ – vielleicht sind sie ja besser als ihr Ruf.

Bleibt zuletzt eine Frage: Wenn die Situation in Österreich besser ist als angenommen – woher kommt dann die pessimistische Grundstimmung? Nun, hier gibt es zwei mögliche Antworten: eine österreichische und eine europäische.

Die österreichische hat mit der spezifischen Geschichte dieses Landes seit Kriegsende 1945 zu tun. Über drei Jahrzehnte lang lebte das offizielle Österreich danach mit der Illusion, mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nichts zu tun zu haben. Man richtete es sich in einem spießigen Biedermeier ein – bis in den 1980er-Jahren das Stillschweigeabkommen aufbrach. Rund um die Waldheim-Affäre entspann sich eine bissige Debatte, in der die Identität des Landes auseinandergenommen wurde. Es war, wenn man so will, eine Art Selbsttherapie. Lügen verloren ihre Maske. Die Selbstbeschimpfung wurde zur Königsdisziplin im Kulturbetrieb. Thomas Bernhard porträtierte die degenerierten österreichischen Provinzler; Elfriede Jelinek beschrieb die seelischen Abgründe der Wiener Bürger; die sogenannte Anti-Heimat-Literatur gilt bis heute als nationales Spezifikum. Seitdem redet auch manch kritischer Intellektuelle gern wie Bernhard und Jelinek. Allerdings: Inzwischen hat sich der Diskurs von seinem Ursprung, der Entlarvung von Lebenslügen, entkoppelt. Ausgerechnet das, was einst der Gesellschaft aus dem Sumpf heraushalf, hat sich heute verselbstständigt und ist zur zwecklosen Gewohnheit geworden.

Und die europäische Antwort?
Die hängt mit der Krise zusammen. In dieser wird der Österreicher wohl mehr zum Europäer. Er hat Ängste und Sorgen der anderen Bevölkerungen übernommen. In deren sozialen Verwerfungen sieht er seine eigene Zukunft. Am Horizont merkt er bedrohlich den Wandel herannahen. Und die Schuld an all dem gibt er dann denen, die immer schon für alles verantwortlich waren: den wohlbekannten, nationalstaatlichen Politikern.

Buchtipps
Was prägt(e) unser Bild des Staates? Wie geht es national und international weiter? Einige Leseempfehlungen
Erwin Ringel: Die österreichische Seele. Kremayr & Scheriau, € 19,90
Chrystia Freeland: Die Superreichen.Westend, 368 S., € 23,70
Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg. Böhlau, 1222 S., € 45
Armin Thurnher: Republik ohne Würde. Zsolnay, 304 S., € 17,90
Petra Dobner: Bald Phoenix – bald Asche. Wagenbach, 96 S., € 9,90


:: „Dass niemand ganz bekommt, was er gern hätte, liegt im Wesen des Staates“

Wie stehen Bürger zum Staat? Wie entwickelt sich das Verhältnis? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die deutsche Politologin Petra Dobner von der Universität Halle. Dobner plädiert für einen „kritischen Etatismus“ der Bürger.

Falter: Frau Dobner, schimpfen die Deutschen auch so viel auf Staat und Politiker wie die Österreicher?

Petra Dobner: Ich glaube schon. Jedenfalls gibt es auch in Deutschland eine Grundhaltung, „die da oben“ für doof zu halten. Das betrifft aber nicht nur die Regierenden, es ist mehr eine generelle Tendenz.

Woher kommt diese Haltung?

Dobner: Zum einen gab es immer schon eine kritische Haltung gegenüber Staat und Politik. Man hält sich im weitesten Sinn für unterdrückt und meint, dass sich die Herrschenden nur bereichern. Andererseits glaube ich aber, dass sich die Lage verschärft.

Warum?

Dobner: Das hat meiner Ansicht nach mit dem zu tun, was wir sehr allgemein als „Neoliberalismus“ bezeichnen. Mit dessen Vordringen geschah eine Wende. Dem üblichen Gemurre über den Staat steht keine gesellschaftliche Kraft mehr gegenüber, die sagt: „Wir brauchen den Staat.“ Jetzt beginnen stattdessen alle, an ihm zu zweifeln.

Brauchen wir denn den Staat überhaupt noch, oder leben wir schon in einem postnationalen Zeitalter?

Dobner: Der Staat ist immer noch die unmittelbarste Form politischer Selbstbestimmung. Er fängt die sozialen und wirtschaftlichen Gefahren des globalen Kapitalismus ab und kanalisiert dessen Herausforderungen und Zumutungen. Wie unverzichtbar er ist, zeigt gerade die Finanz- und Wirtschaftskrise. Ich halte es für eine gefährliche Tendenz, die Gestaltungsmacht des Staates mit der pauschalen Behauptung zu bestreiten, dass die Geschichte ihn überholt hat.

Wird der Staat die Leistungen, die er anbietet, in die Zukunft retten können?

Petra Dobner, Politologin an der Universität Halle in Sachsen-Anhalt, befasst sich mit dem Verhältnis von Staat und privat. Ihr jüngstes Buch handelt von Wasserprivatisierungen

Petra Dobner, Politologin an der Universität Halle in Sachsen-Anhalt, befasst sich mit dem Verhältnis von Staat und
privat. Ihr jüngstes Buch handelt von Wasserprivatisierungen

Dobner: Das kann man derzeit nicht sagen, weil es davon abhängt, ob der Staat seine finanzielle Leistungsfähigkeit wiederherzustellen vermag. Jedenfalls aber liegt in dieser Frage auch ein Dilemma begründet, das unsere Sichtweise auf den Staat prägt. Historisch gesehen hat sich der Staat vom Rechtsstaat, der nur Spielregeln vorgibt, zum Leistungsstaat entwickelt. In dem Maß steigen auch die Ansprüche. Man will nun nicht mehr nur sicher leben, man will auch Bildung, soziale Versorgung und Ähnliches. Je höher die Ansprüche, desto mehr materielle Ressourcen benötigt der Staat. Wenn er jedoch an seine Grenze stößt, wächst das Misstrauen der Bürger. Schließlich spüren sie als Erstes, wenn irgendwo das Schwimmbad zusperrt oder die Gebühren in die Höhe schießen.

Wie könnte man diesen Kreis durchbrechen?

Dobner: Man könnte zumindest das Wissen über Systemlogiken stärken. Ich glaube, hier gibt es einen Mangel bei den Bürgern. Nicht nur der Staat hat eine Bringschuld. Auch der Bürger muss erkennen, dass Politik von Kompromissen lebt. Dass niemand voll und ganz bekommt, was er gern hätte, liegt im Wesen des Staates.

Und wie könnte man das vermitteln?

Dobner: Durch Dagegenhalten auf individueller Ebene. Im Grunde sprechen wir hier von klassischer Aufklärung. Es geht darum, nicht in billigen Unmut und billige Politikerschelte einzustimmen. Stattdessen soll man aufzeigen, wie die Dinge tatsächlich sind. Zum Beispiel bei den Politikergehältern. Diese werden immer wieder unendlich dramatisiert. Dabei stimmt es gar nicht, dass Politiker so gut verdienen. Solche Dinge muss man aber auch sagen.

:: „So kann es nicht weitergehen“: wie vor 1914 Endzeitstimmung um sich griff
Schon einmal machte sich eine gewisse Endzeitstimmung in der Bevölkerung breit. Das war am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Periode endete mit einem Ereignis, das sich demnächst zum 100. Mal jährt: dem Attentat auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 – mit allen bekannten Folgen.

Wie sah die Stimmung in den Jahren vor 1914 aus? Und kann man daraus irgendetwas für heute lernen?

Es war eine Zeit, „in der gerade in den intellektuellen Kreisen die Meinung vorherrschte: So kann es nicht weitergehen, es muss etwas geschehen“, erklärt Manfried Rauchensteiner, Historiker, Buchautor und Ex-Direktor des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums. „Es krachte an allen Ecken und Enden.“ In Österreich wie auch in Ungarn kamen keine Budgets mehr zustande, zudem waren die Landeshaushalte in Unordnung. Im Abgeordnetenhaus des Reichsrats beflegelten sich Vertreter verschiedener Nationalitäten weit heftiger, als man es von heutigen Parlamentariern kennt. Die Konflikte waren durchwegs vom kompromisslosen Beharren auf eigenen Interessen geprägt – und gingen so weit, dass das Parlament im März 1914 sogar sistiert wurde.

„Als dann die Kriegserklärung an Serbien erfolgte, lautete der allgemeine Tenor: Jetzt sind wir endlich an dem Punkt, an dem das Alte überwunden wird“, sagt Rauchensteiner. Selbst ansonsten Friedliebende jubelten damals. So meinte Sigmund Freud, er sei nach Jahrzehnten endlich wieder stolz, Österreicher zu sein.

Die Erleichterung über das Ende des Alten erfasste mehr Bevölkerungsschichten als nur das Bürgertum. Auch die heimische Sozialdemokratie sprach sich in ihren Beschlüssen zwar nicht für den Angriffs-, aber doch für den Verteidigungskrieg aus. Der spätere russische Revolutionär Leo Trotzki, der sich 1914 in Wien aufhielt, notierte, er habe noch nie so viele Arbeiter auf der Ringstraße gesehen – dort hatten sie sich vor lauter Begeisterung über den Kriegsbeginn eingefunden.

Zwar hielt man vor allem in Deutschland und Frankreich den eigenen Staat für weniger kaputt als in Österreich-Ungarn. Dafür verband sich dort das Bewusstsein neuer Stärke mit der Sorge, ebendiese wieder an Konkurrenzmächte zu verlieren. Und so stand dem Weltkrieg nichts mehr im Wege.

Sein letzter Weg: Franz Ferdinand und seine Gattin auf Besuch in Sarajevo im Juni 1914

Sein letzter Weg: Franz Ferdinand und seine Gattin auf Besuch
in Sarajevo im Juni 1914

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Ein Kommentar

Eingeordnet unter Bücher, Sonstiges, Soziales, Wirtschaft

Eine Antwort zu “Im Land der Angefressenen

  1. christa wallner

    danke, endlich! bitte mehr aufklärung dieser art! aufzeigen, wohin das reflexhafte wettern pinker und pseudolinker gegen kompromiss, sozialpartnerschaft, angeblichem stillstand, staat und politik überhaupt führen kann. wie grotesk, dass junge „intellektuelle“ sich manchmal anhören wie stronach, mateschitz und konsorten

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