14. Juni 2013 · 10:19
Aus dem FALTER 24/2013
Grein, Theiß und Bratislava. Eine Reise zu drei Orten an der Donau, die der Flut trotzen
Reportage und Fotos: Joseph Gepp
Das ist die Geschichte einer Welle, die sich mit ungefähr 4,2 Stundenkilometern, also der Geschwindigkeit eines Fußgängers, durch die Donau bewegt. Das ist die Geschichte von drei Orten an der Donau, die zeitversetzt, innerhalb von 56 Stunden, von der Welle getroffen werden. Und das ist die Geschichte von drei Dämmen rund um diese Orte, die hielten.
Vergangener Mittwoch, 5. Juni, Grein, Oberösterreich. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagt Bürgermeister Manfred Michlmayr. Zwei Nächte zuvor, um vier Uhr morgens, hat der Scheitel des Hochwassers sein Städtchen erreicht. Jetzt verschanzt sich Grein hinter einem mobilen Wall, der aussieht wie eine Lärmschutzwand an der Autobahn. Noch gestern habe das Wasser bis zum Rand des Damms gestanden, sagt Michlmayr und zeichnet mit der Handkante eine Linie in die Luft. Inzwischen ist es einen Meter gesunken. Michlmayr wirkt erleichtert. Der Damm hat gehalten.

Manfred Michlmayr, Bürgermeister von Grein
100 Kilometer östlich, in Theiß, einem Dorf nahe Krems. 22 Stunden hat es gedauert, bis der Höhepunkt der Welle von Grein hierher geschwappt ist. Nun ist der Kampf in vollem Gange. Ein Damm droht zu brechen und den Ort zu überfluten. Feuerwehrmänner beschweren ihn mit Sandsäcken, Gatsch spritzt von Baggerreifen. Evelyn Gruber, Helferin beim Roten Kreuz, hat unterdessen ihre alte Französischlehrerin angerufen. Sie bat um Klassenräume. Gruber organisiert Unterkünfte für den Fall der Evakuierung von Theiß. „Ich hoffe nur“, sagt sie, „wir werden sie nicht brauchen.“

Weitere 150 Kilometer flussabwärts, über der Grenze, im slowakischen Bratislava. Während man in Theiß zittert, ist die Lage hier noch ruhig. Das Wasser soll erst am nächsten Tag kommen, Donnerstagmittag. Tausende Schaulustige drängen dann ans Donauufer. Die Flut wird auf Smart Phones gebannt. „Die Leute sind sorglos“, sagt Ľubomír Andrassy, 40, Leiter des Krisenstabs. In Bratislava wurde kürzlich ein Wall errichtet, der sogar Hochwasser abhalten soll, die statistisch nur alle 1000 Jahre vorkommen. Trotzdem sagt Andrassy beim Abschied: „Wünschen Sie uns Glück!“ Man weiß ja nie, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen.

Lubomir Andrassy, Krisenkoordinator in Bratislava
Vergangene Woche gab es ein Hochwasser in Mitteleuropa, wie es sich statistisch gesehen in 100 Jahren nur einmal ereignet. Es war bereits das zweite Mal in elf Jahren. Fünf Menschen in Österreich sind ertrunken. Zuvor hatte es Niederschläge und Überschwemmungen gegeben, in Tirol, Salzburg, Oberbayern und Tschechien. Der Regen machte die Donau zum tosenden Strom. Baucontainer und Autowracks sollen in ihr gesichtet worden sein, berichten Betroffene. Doch im Gegensatz zum Hochwasser des Jahres 2002 traf die Flut diesmal auf Orte, die sich vorbereitet hatten. Seit 2002 wurden Dämme verstärkt und Wälle errichtet, 27 allein in Österreich. Jetzt zeigt sich, ob die Vorkehrungen richtig waren. Ob man aus 2002 gelernt hat. Und wo der Schutz an seine Grenzen stößt.
Manfred Michlmayr, 55, SPÖ-Bürgermeister von Grein, steht auf einem Spazierhügel und zeigt hinunter auf seine Stadt. Hübsche Bürgerhäuser säumen Gassen, die zum Donauufer abfallen – hin zu jenem filigran wirkenden Konstrukt, das die Stadt vor dem Wasser abschirmt. „Was Sie vom Damm sehen“, sagt der Bürgermeister, „ist aber nur ungefähr ein Achtel des Bauwerks.“ Überirdisch verläuft lediglich eine haushohe mobile Aluminiumwand, unter der Erde folgt „ein richtiges Bunkersystem“ aus Becken, Pumpen und Verankerungen, die das eindringende Wasser ableiten. Im Juni 2012, vor einem Jahr, wurde der Wall von Grein eröffnet. Gebaut hat ihn die deutsche Firma IBS (siehe Interview Seite 16), Kosten: rund 20 Millionen Euro. Niemand dachte, dass sich der Damm so bald bewähren wird müssen.
Das Bauwerk kann maximal ein Hochwasser wie im Jahr 2002 bewältigen. Doch nun trotzt es auch dieser Flut, obwohl sie jene von 2002 um sieben Zentimeter übersteigt. „Eine Meisterleistung“, sagt Michlmayr. „Der Damm hat uns vieles erspart.“
Seit fünf Tagen ist der Bürgermeister im Dauereinsatz. Er wirkt hellwach und konzentriert. Es ist die Ausnahmesituation, die ihn noch funktionieren lässt. Er erzählt vom Aufbau des Damms, von der Evakuierung der Bevölkerung aus Gassen am Donauufer. „Der merkwürdigste Moment kam aber danach, als die ganze Arbeit erledigt war“, sagt er. „Dann kehrt eine unheimliche Ruhe ein. Man will weitermachen, aber man kann nichts mehr tun, außer das Ereignis abzuwarten.“
Jetzt, wo sich die Situation wieder beruhigt hat, blickt ein Greiner Pensionistenpaar vom Rand der Sperrzone in Richtung seines Hauses, über Verbotstafeln und Polizeiwachen. Acht Hochwasser habe er hier schon erlebt, erzählt der Mann. „Diesmal ist zum ersten Mal alles trocken geblieben.“

100 Kilometer weiter östlich, Krems, Niederösterreich. Die ehrenamtliche Rotkreuzhelferin Evelyn Gruber, 44, kontrolliert gerade die Klassenräume der Tourismusschule. An den Tafeln stehen noch halbverwischte Formeln aus der Mathematikstunde. Statt der Schultische reihen sich hier aber dicht an dicht Feldbetten, samt weicher Matratzen. „Wir schauen, dass es bequem ist“, sagt Gruber. „Die Leute haben es ja eh schon schwer genug.“
Im Gegensatz zu Grein befindet sich Theiß, ein 870-Seelen-Dorf zehn Minuten von Krems, noch mittendrin in der Gefahrenzone. Beim Damm, um dessen Erhalt gerade gekämpft wird, handelt es sich nicht um ein High-Tech-Wunderwerk wie in Grein. Er ist stattdessen ein alter Erddamm von 1965. Vergangene Nacht, Mittwoch, 0.59 Uhr, meldete eine Feuerwehrpatrouille, die Erde rundherum sei „kuhwampig“. Weich wie die Wampe einer Kuh also. Nun bestand dringender Handlungsbedarf.
Eine Stunde später, zwei Uhr, klingelte die Feuerwehr die Theißer aus ihren Betten. Sie sollten im Fall des Dammbruchs innerhalb von zehn Minuten ihre Häuser verlassen. Eine Überflutung von Theiß wäre bereits die zweite seit 2002, erzählt Gruber. Damals kam das Wasser jedoch nicht von der Donau, sondern vom nahen Fluss Kamp. Den dortigen Damm haben die Behörden dann verstärkt – ohne zu ahnen, dass die Wassermassen aus der anderen Richtung kommen könnten.
Nun könnte bald alles unter Wasser stehen, die schlichte Kirche in Theiß, der Nah & Frisch, die Einfamilienhäuser – und der kleine Bauhof, von dem aus die Theißer gerade versuchen, ihr Dorf zu retten.
Gut 200 von ihnen schaufeln Sand, um den Damm zu beschweren. Die Stimmung wirkt nicht etwa düster, sondern optimistisch, solidarisch, fast ausgelassen. Männer nehmen große Züge aus Bierflaschen, Frauen fachsimpeln übers Fernsehen. Nachbargemeinden haben ihre Bewohner zur Hilfe aufgerufen. Die Helfer tragen T-Shirts, um die es nicht mehr schade ist – Hard Rock Café, Puma, De Puta Madre 69. Am Tag darauf sind 6000 Tonnen Material zum Damm gekarrt worden. Evelyn Gruber konnte ihre Feldbetten wieder abbauen.

Während die Theißer das Schlimmste überstanden haben, hat es Bratislava noch vor sich. Nächster Tag, 6. Juni. Als die Donau ihren Höchststand erreicht, ruhen alle Hoffnungen auf dem neuen Damm, einem 30-Millionen-Euro-Projekt, das seit Fertigstellung 2010 als Meisterleistung gepriesen wird und dessen Bauart jener von Grein entspricht. Nur ist die Belastungsgrenze des Dammes noch höher als in Grein. Theoretisch hält das Bauwerk sogar einem Jahrtausendhochwasser stand. „Damit wollten wir eine Situation wie 2002 verhindern“, sagt Krisenchef Andrassy.
Damals wäre es beinahe zur Katastrophe gekommen. Die Altstadt von Bratislava liegt, im Gegensatz zu jener Wiens, direkt an der Donau. 2002 versuchte man, sie lediglich mit Sandsäcken vor der Flut zu schützen. Das Wasser drang in die Nationalgalerie und das Nationalmuseum ein. Wenige Zentimeter hätten noch gefehlt, dann wäre der Kern von Bratislava überflutet worden. Der Schaden hätte hunderte Millionen betragen, 490.000 Menschen wären direkt betroffen gewesen.
Heute übersteigt der Wasserstand jenen von 2002 gar um einen halben Meter. Dennoch ist die Stimmung in der Stadt unbeschwert. Der Damm hält, was er verspricht. Es wären sogar Alusegmente übrig, um ihn noch höher aufzustocken. An der Uferpromenade sitzen die Bewohner in der Sonne. Dass sie ohne den Damm um ihre Gesundheit und ihr Eigentum bangen müssten, dieser Gedanke scheint weit weg. Fasziniert blicken die Leute, über den Damm, in die Flut. In Cafés rauchen sie Wasserpfeife und trinken Cappuccino. „Einige Leute“, erzählt Andrassy, „sind gar auf den Damm geklettert, um einen besseren Blick zu haben.“ Nur die ungeschützten Vororte Devín und Petržalka trifft das Hochwasser.

Das Jahrhunderthochwasser ist bisher, trotz aller Schäden und Opfer, glimpflich verlaufen. Man sei „mit einem blauen Auge davongekommen“, resümierte etwa Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer. Allerorten, wie in Grein, Theiß und Bratislava, hielten die Dämme. Experten warnen allerdings davor, sich allein auf sie zu verlassen. Je mehr Dämme es gibt, so die Befürchtung, desto größer werde die Gefahr für ungeschützte Orte. Diese – etwa Kritzendorf, Emmersdorf oder die Gegend um Hainburg – wurden vom aktuellen Hochwasser besonders schlimm getroffen. „Neben Dämmen muss es zum Schutz auch Überflutungsflächen geben“, sagt der Fließgewässerexperte Michael Tritthart von der Wiener Boku. „Es braucht auch unbebaute Gebiete, auf denen sich die Donau verlaufen kann.“ Diese Woche bewegt sich der Scheitelpunkt der Welle weiter nach Osten. Teile Ungarns stehen unter Wasser. Das Hochwasser wird aber bald an Dynamik verlieren. Denn weiter östlich vergrößert sich das Fassungsvermögen der Donau zunehmend, und die Zuflüsse führen kein Hochwasser, was die Überflutungsgefahr verringert.
Die Geschichte dieser Welle, die sich mit ungefähr 4,2 Stundenkilometern durch die Donau bewegt, wird in etwa drei Wochen enden. Im rumänischen Delta, wo der Fluss ins Schwarze Meer mündet. Die Welle wird dort allerdings wohl nur noch ein Wellchen sein. Ein leicht erhöhter Wasserstand.
„Söba schaufeln“: Wie die Polizei in Kritzendorf mit Flut-Helfern umspringt
Viel Solidarität und Hilfe für Hochwasseropfer hat man in diesen Tagen erlebt – aber auch manch haarsträubenden Zwischenfall. So zum Beispiel in Kritzendorf bei Klosterneuburg. Dort sieht es derzeit aus „wie nach der Apokalypse“, sagt Margit Landsgesell, 54, Bewohnerin eines der dortigen Stelzenhäuschen. Vergangenen Sonntag rückte sie deshalb mit drei ausländischen Arbeitern an, um aufzuräumen.
Dies sei allerdings von der Polizei unterbunden worden, erzählt sie. „Der Beamte am Eingang zum Strombad hat meine Arbeiter rüde angeschnauzt und Ausweise verlangt.“ Weil die Helfer keine Papiere dabeihatten, meinte der Polizist: „Ausländer lassen wir hier nicht rein, weil Ausländer sind Diebsbanden.“ Auf Landsgesells Protest hin rechtfertigte sich der Beamte, dass die Maßnahme von der Stadtgemeinde Klosterneuburg verfügt worden sei. Sie selbst, als Inländerin, durfte die Anlage betreten. Auf ihre Frage, was sie nun tun solle ohne ihre Arbeiter, sagte der Beamte laut Landsgesell: „Söba schaufeln!“
Landsgesell nennt den Vorfall nicht nur eine „unerhörte rassistische Entgleisung“, er sei auch eine „Verhöhnung von uns Bewohnern von Kritzendorf, die wir bis zum Hals in Problemen stecken.“ Denn der Schlamm muss rasch weggeschaufelt werden, bevor er eintrocknet.
Auf Falter-Nachfrage bestätigt die ÖVP-regierte Gemeinde, dass polizeiliche Ausweiskontrollen veranlasst wurden. „Es gab Beschwerden über Diebsbanden aus dem Ausland, die zum Beispiel Sperrmüllflächen verwüsten und sich Anrainern aggressiv aufdrängen“, sagt Birgit Maleschek, Sprecherin der Gemeinde. Nachsatz: „Aber es liegt an der Polizei, wie sie das handhabt.“
Bei der Polizei will man das Erlebnis von Margit Landsgesell weder bestätigen noch dementieren. Michael Scharf vom Polizeiposten Klosterneuburg sagt nur: „Es gibt in Kritzendorf derzeit Leute, die versuchen, die Notsituation der Anrainer auszunutzen.“
Firma IBS: „Für Melk und Dürnstein kam die Realisierung leider zu spät“
Rund 200 Mitarbeiter hat IBS, jener mittelständische Betrieb in der bayrischen Stadt Thierhaupten, der derzeit überall in Europa mobile Hochwasserdämme errichtet. Der Falter sprach mit Xaver Storr, dem technischen Geschäftsführer.
Falter: Herr Storr, wie viele mobile Dämme haben Sie in Österreich seit 2002 errichtet?
Xaver Storr: An der Donau haben wir zwischen Linz und Klosterneuburg bislang zehn Großprojekte durchgeführt. Das war unser Hauptgeschäft in dem Land in den vergangenen Jahren. Für Melk und Dürnstein gibt es auch Aufträge, aber da kam die Realisierung für das derzeitige Hochwasser leider zu spät.
Worauf muss man achten, wenn man so einen Damm baut?
Storr: Vor allem brauchen Sie eine Vorlaufzeit von ein bis zwei Tagen, in der Sie über die Ankunft des Hochwassers Bescheid wissen. Wenn also ein Gebirgsbach innerhalb von zwei Stunden anschwillt, haben solche Anlagen keinen Sinn. Die Donau ist der Klassiker, da gibt es auch ein entsprechendes Pegelwarnsystem.
Warum hat sich Ihre Firma auf Hochwasserschutz spezialisiert?
Storr: Wir kommen ursprünglich aus der Löschwasserrückhaltung – also von jenen Systemen, die kontaminiertes Löschwasser in einem Gebäude halten. In den 1990ern jedoch wurde der Ruf nach mobilen Dämmen laut, weil Hochwasserschadensereignisse immer häufiger auftraten, damals vor allem an Main und Mosel. Da dachten wir: Was beim Löschwasser von innen nach außen funktioniert, muss ja beim Hochwasser auch auf dem umgekehrten Weg möglich sein.
Und wo liegen heute Ihre Hoffnungsmärkte?
Storr: Österreich und Deutschland sind schon sehr weit ausgebaut. In Zukunft wird wohl in Ungarn entlang der Donau viel investiert werden. Rumänien steckt noch in den Kinderschuhen, was die Hochwasserplanung angeht. Darüber hinaus haben wir auch Projekte beispielsweise in Thailand, den USA, Neuseeland und Australien. Bei Großprojekten im Bereich der Mobilwandtechnik beherrschen wir den Markt zu 90 Prozent.
Ihre Dämme haben zweifelsohne viel Wasser abgehalten. Kritiker wenden aber ein, dass durch diesen Schutz andere – ungeschützte – Orte umso stärker überschwemmt werden. Stimmt das?
Storr: Wenn wir fragen, ob eine Hochwasserschutzanlage den Pegel in ungeschützten Orten zusätzlich anhebt, dann reden wir – wenn überhaupt – von zwei bis drei Zentimetern. Außerdem müssen bei modernen Planungen immer auch Ausgleichsflächen geschaffen werden. Am Ende geht es um einen insgesamten, effizienten Schutz – es ist Haarspalterei zu fragen, wer an diesem und jenem Zentimeter schuld ist.
Xaver Storr, 44, ist technischer Geschäftsführer der bayrischen Firma IBS. Der Betrieb ist Weltmarktführer bei der Errichtung großer mobiler Hochwasserdämme