Aus dem FALTER 50/2011
Rezension: Joseph Gepp
Der deutsche Vordenker Hermann Scheer und Österreichs Grüne skizzieren ihre Visionen von der bevorstehenden Energiewende
Die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 hat Hermann Scheer nicht mehr erlebt. Dabei hätte sie eindrucksvoll bestätigt, was der SPD-Bundestagsabgeordnete sein Leben lang predigte: dass an der raschen und 100-prozentigen Einführung erneuerbarer Energien kein Weg vorbeiführt.
Dieser Leitgedanke war in den Jahren vor Fukushima etwas in die Defensive geraten. Stattdessen sollten „Brückentechnologien“, wie die Atomkraft plötzlich genannt wurde, den Weg in die neue Zeit weniger opferreich gestalten. Scheer erlebte nicht mehr, wie sich dies als Illusion entpuppte. Am 14. Oktober 2010 starb er – plötzlich und unerwartet. Sein letztes Buch vom Herbst 2010, „Der energethische Imperativ“, fasst noch einmal alle Argumente für die Energiewende zusammen. Zugleich skizzieren auch Österreichs Grüne in einer soeben erschienen 82-seitigen Broschüre ihre Vorstellung von der Wende. Der Vergleich der beiden Schriften zeigt, wie die Energiedebatte in Österreich und Deutschland geführt wird und inwieweit man bereit ist, Dogmen zu verwerfen, falls sie sich als falsch oder undurchführbar herausstellen.
Bei Letzterem liegt Scheer eindeutig vorne. So betrachtet er große Klimaschutzkonferenzen wie vergangene Woche in Durban, bei der man sich lediglich auf eine Vertagung des Problems um einige Jahre einigen konnte, als geradezu hinderlich für die Verbreitung erneubarer Energien. Der CO2-Emissionshandel stellt in seinen Augen kein Bündnis zum Guten dar, sondern führt dazu, dass sich die Staaten auf einem Minimalkompromiss ausruhen – statt unilateral kraftvolle Initiativen zu setzen, die sich im zwischenstaatlichen Wirtschafts-und Innovationswettbewerb ausbreiten. Ebenso vehement verwirft Scheer Großvorhaben wie das Wüstenstromprojekt Desertec oder Windparks in der Nordsee. Das sei unrealisierbare „Gigantomanie“.

Im Oktober 2010 unerwartet gestorben: Umweltpolitiker und Vordenker Hermann Scheer (Foto: Wikipedia)
Wie aber lässt sich, davon abgesehen, die Wende bewerkstelligen? Scheer bezieht sich hier auf ein deutsches Gesetz, das er selbst im Jahr 2000 maßgeblich geschaffen hat: das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Der Gedanke: Mittels garantierter Mindestpreise für Strom und bevorzugter Einspeisung ins Netz schafft der Staat einen Rahmen, in dem sich private Innovationen und Investitionen in Erneuerbare Energie lohnen. Subvention sei das keine, widerspricht Scheer einem gängigen Argument. Vielmehr stelle es Kostenwahrheit her, denn konventionelle Energie koste zehn- bis zwanzigmal mehr als den regulären Preis, wenn man soziale und ökologische Folgeschäden mitberechnet.
Das Gesetz hat Deutschland zum Vorreiter gemacht. So wurden dort 2010 44 Prozent der weltweiten Photovoltaik-Anlagen installiert. Im selben Jahr entstanden auf deutschen Dächern mehr Solaranlagen als 2009 auf der ganzen Welt. Scheer plädiert für fortgesetzte staatliche Förderung privater Innovation. Modulare Kleinkraftwerke, Autos als mobile Energielieferanten, Alleen aus Windrädern entlang von Autobahnen: Solchermaßen soll sich sein Land künftig mit Energie versorgen.
Konkrete Berechnungen zu diesem Szenario bleibt Scheer zwar nicht schuldig, sie kommen aber etwas zu kurz – allerdings sind sie bei den derzeit rasanten Innovationsschüben bei Green Technologies auch schwierig vorauszusehen.
Gar nicht zu kurz kommt hingegen bei Österreichs Grünen ein Aspekt der Energiedebatte, den Scheer etwas übersieht: das gewaltige effizienzsteigernde Potenzial durch Energiesparen. Dieses zu nutzen, ist zentrale Forderung einer Energiewende, wie sie sich die Grünen für Österreich wünschen. Konkrete Szenarien oder etwa genaue Zeitpläne fehlen zwar auch hier. Ansonsten aber fasst die Broschüre seriös und profund den Wissensstand zur Energiewende zusammen.
Einzig die etwas einseitige Fixierung auf die Gefahren der Atomkraft wirkt zuweilen penetrant. Die desaströsen Folgen fossiler Energiegewinnung kommen im Vergleich eher dürftig daher. Und bei langen Passagen zu Temelin und Mochovce denkt man unwillkürlich an den wohlbekannten erhobenen Zeigefinger der Kronen Zeitung, bei dem Öko-Sorgen und Austro-Chauvinismus eine sehr österreichische Symbiose eingehen. Doch im Jahr von Fukushima lässt sich die Dringlichkeit der Energiewende mit der Gefahr von Atomkraft allemal besser darstellen als mit schleichenden klimatischen Veränderungen.
Hermann Scheer:
Der energethische Imperativ. Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist. Kunstmann, 271 S., € 20,50
Eva Glawischnig, Rudi Anschober: Die Grüne Energiewende. Ja, es geht! Zu beziehen unter: gruene.at
Filmtipp:
Die 4. Revolution – Energy Autonomy. Ein Film von Carl-A. Fechner. Siehe: www.4-revolution.de