Aus dem FALTER 47/2011
Wie alltäglich Gewalt an Kindern in den 50er-Jahren war, zeigen die Erfahrungen der Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Dem Falter stand die Literaturnobelpreisträgerin schriftlich Rede und Antwort. Als Fünfjährige erlebte sie im Sankt-Anna-Kinderspital Dinge, die sie nicht vergessen hat. Jelineks Ausführungen zeigen einen Aspekt der Missbrauchsdebatte, der bisher nicht thematisiert worden ist: jenen der Gewalt im Spitalswesen.
Falter: Frau Jelinek, was ist Ihnen im Sankt-Anna-Kinderspital geschehen?
Elfriede Jelinek: Als fünfjähriges Kindergartenkind bin ich mit Scharlach auf der Isolierstation des Sankt-Anna-Kinderspitals gelegen und wurde dort mit systematischer Gewalt vonseiten der älteren Krankenschwestern behandelt, vielleicht weil mir das gesundheitlich hätte nützen sollen.

Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wurde in den 50er-Jahren Opfer von Gewalt im Kinderspital (Wikipedia)
Wie sah diese systematische Gewalt aus?
Jelinek: Ich bin systematisch geschlagen worden, weil ich einmal Durchfall gehabt und ins Bett gemacht hatte. Ich habe schlimme verbale Demütigungen und andere schöne Sachen erlebt. Ich kann mich heute noch an jedes Wort erinnern, sage aber keins davon hier weiter. Achtung: Es war aber kein sexueller Missbrauch!
Wie kann man sich den Kinderspitalsalltag zu jener Zeit vorstellen?
Jelinek: Ich weiß zum Beispiel noch, dass sie mir Spielzeug, das mir meine Eltern geschickt hatten, nicht gegeben haben, es wurde ihren Lieblingen ausgehändigt. Das war ein Specht, der laut gepeckt hat, aus Blech, und ich habe ihn aus dem Nachbarzimmer gehört und wusste genau, dass es meiner war, meine Mutter hatte ihn mir mitgebracht. Es war mir damals schon klar, dass das eine Strafaktion gegen mich war. Das sind Sachen, die ein fünfjähriges Kind nicht vergisst, das können Sie mir glauben.
Wie soll man heute mit solchen Vorfällen umgehen?
Jelinek: Auch Kinderspitäler sollten ihre oft brutale Vergangenheit, die zum Glück wirklich und endgültig vergangen ist, aufarbeiten. Ich will die Sache nicht aufbauschen, aber es wäre schon interessant, ob man aus Spitälern aus den 50er-Jahren ähnliche Geschichten wie die meine hört.
Elfriede Jelinek sagt am Schluss ihres Interviews „… es wäre schon interessant, ob man aus Spitälern aus den 50er-Jahren ähnliche Geschichten wie die meine hört.“ Ich war in den 70er Jahren im St.Anna Kinderspital und ich habe genau das Gleiche erlebt. Sogar die Szene mit dem Spielzeug wegnehmen und einem anderen Kind geben, habe ich im Jahr 1973 oder 74 genau so erlebt. Aber auch noch andere Grausamkeiten musste ich erleben bzw. mitansehen. Eine „vorbeugende“ Strafmaßnahme war zum Beispiel, dass wir gezwungen wurden, der Rückenmarkpunktierung eines kleinen Buben zuzusehen (durch ein großes Fenster). Es wurde unglaublich brutal durchgeführt und die uns „betreuende“ Schwester sagte dazu: „Seht genau hin, das passiert euch auch, wenn ihr schlimm seid!“ Ich bin sehr berührt, dass Elfriede Jelinek den Mut hatte auch noch diesen Aspekt anzusprechen. Ich habe es 2mal probiert, allerdings vor ca 10 und 15 Jahren und ich bin damals gescheitert. Jetzt hatte ich keinen Mut mehr dazu.
Untenstehenden Offenen Brief schreibt Georg Mann, ärztlicher Direktor des St.-Anna-Kinderspitals, an Elfriede Jelinek.
„Sehr geehrte Frau Jelinek!
Die von Ihnen beschriebenen schlechten Erfahrungen die Sie in unserem Haus als 5jähriges
Kind in den 50er Jahren machen mussten, empfinden wir auch für uns als äußerst
schmerzlich, zumal besonders das St. Anna Kinderspital sich bereits mit Beginn in den
Siebziger Jahren und zum Teil gegen äußere Widerstände um eine möglichst kindgerechte
Behandlung und Betreuung bemüht hat. Die Aufarbeitung davor liegender, aus der
österreichischen Geschichte und einer damaligen Geisteshaltung erklärbarer Missstände, die
auch die Kinderspitäler betroffen haben ist auch uns ein Anliegen. Erlauben Sie uns darüber
hinaus die Darstellung der Entwicklung unseres Spitals: So wurden Maßnahmen wie z.B. die
Mitaufnahme der Eltern, Auflassung der Krankensäle zugunsten kleinerer Einheiten,
Anstellung von Experten aus dem Psychosozialen Bereich und der Pädagogik,
Professionalisierung der Pflege, Schulunterricht im Hause und Bildung einer
multiprofessionellen, in das soziopolitische Netz der Stadt integrierten Kinderschutzgruppe
neben vielen anderen zum Teil baulichen Verbesserungen iind Servicemaßnahmen umgesetzt.
Das Ziel war immer nicht nur eine möglichst optimale medizinische Versorgung sondern auch
einen für alle Beteiligten möglichst angenehmen Aufenthalt zu bieten. Förderlich für die zum
Teil revolutionäre Umsetzung dieser Anderungen war sicherlich die damals begonnene
schwerpunktmäßige Befassung mit Krebserkrankungen im Kindes-und Jugendalter. Das
dafür erforderliche extreme persönliche Engagement der Mitglieder des Behandlungsteams
hat von vornherein den Einsatz für das momentane seelische und körperliche Wohlergehen
der durch die Krankheit beeinträchtigten Familien mit eingeschlossen. Wir glauben damit
einen Beitrag zu einem kulturellen Wandel geleistet zuhaben, der es ermöglicht, eine
Vorgangsweise wie sie Ihnen damals widerfahren ist heute klar als Unrecht zu erkennen.
Freundliche Grüße“
Ich bin schockiert, berührt…….Und auch etwas verwundert über die Stellungnahme von Herrn Direktor Mann. Es tut mir leid, aber aber wirklich empathisch habe ich Ihre Reaktion nicht empfunden. Sie gehen gar nicht wirklich auf Frau Jelinek ein. Schreiben davon wie sich alles zum Guten gewendet hat. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass die ÄrztInnen und TherapeutInnen das vielleicht auch so beschrieben haben? Und dabei auf noch frühere „zu veurteilende“ Zeiten verwiesen haben. Nein, da ist was ganz Schreckliches passiert, und noch HEUTE passiert oft genug Verletzendes, Schmerzhaftes, und immer wieder kommt es zu Mißbräuchen durch Professionelle.
Vielen Dank Frau Jelinek, ich bin sehr berührt, und bewundere Sie für Ihren Mut, und Lebensweg! Trotz des Erlebten.
Alles Gute weiterhin für Sie, und viel Kraft!
Michael Mair (im Gesundheitswesen tätig)
P.S. Die (eigene) Geschichte sollte uns immer wieder auch als Orientierung helfen, auch für eine gewisse Demut als Therapeut.