AUS DEM FALTER 41/2011
Christoph Chorherr über direkte Demokratie, den Zenit von allem und Wiens Grüne auf dem steinigen Weg von der Ideal- zur Realpolitik
Interview: Joseph Gepp
Foto: Heribert Corn
Verändert!“ heißt das neue Buch des grünen Vordenkers Christoph Chorherr. Der Titel bezieht sich auf Stéphane Hessels Pamphlet „Empört euch!“. Von Bildung über Energie bis zu Entwicklungshilfe schreibt Chorherr „über die Lust, Welt zu gestalten“.
Falter: Herr Chorherr, Bürger fühlen sich frustriert und machtlos. Was kann man tun?
Christoph Chorherr: Man soll eine Debatte über die Grundfesten unserer Demokratie führen. Die repräsentative Demokratie muss erneuert, direktdemokratische Elemente stärker eingeführt werden. Demokratie ist derzeit ein ziemlicher Patient.
In ihrem Buch empfehlen Sie eine Staatsreform. Sind Österreich und Europa undemokratischer geworden oder reicht uns nur das bisherige Maß an Demokratie nicht mehr?
Chorherr: Angesichts großer Aufgaben in Bildung, Umwelt oder bei der Finanzkrise sind die derzeitigen Personen und Strukturen nicht zur Erneuerung imstande. Wir müssen uns etwa fragen, ob wir wirklich die Auswahl unserer Spitzenrepräsentanten den Parteien überlassen wollen? Oder wie das Parlament mehr sein könnte als ein Vollzugsorgan der Regierung?
Wie kann der durchschnittliche Bürger, abgesehen von der Wahlurne, etwas verändern?
Chorherr: Es gibt vieles. Ich persönlich engagiere mich etwa für südafrikanische Schulen. Es gibt politisches Engagement und das, was ich als Mühe um Entfeudalisierung betrachte. Man kann sich engagieren, dass Leute endlich ihre Nase in ihre eigenen Angelegenheiten stecken. Kompetenz gehört zu jenen, die sie am besten lösen. Zum Beispiel brauchen die Schulen Autonomie statt einen Streit, ob der Bund oder die Länder die Lehrerbestellung politisch beeinflussen darf.
In Wien versuchen immer mehr Menschen sich einzumischen. Von der grünen Regierungsbeteiligung versprachen sie sich viel und sind nun enttäuscht. Was läuft schief?
Chorherr: Der Protest bezieht sich oft auf Beschlüsse von vor unserer Zeit. Wir wollen und können den Rechtsstaat nicht aushebeln. Wo wir aber in der Tat einen Nachholbedarf haben, ist der Anspruch auf transparente Entscheidungsfindungsprozesse. Das ist uns bisher nicht annähernd so gelungen wie von uns gewollt. Bürger einzubeziehen ist leichter gesagt als getan, dafür mag die Umgestaltung der Mariahilfer Straße ein Beispiel sein. Wien ist halt obrigkeitshörig, und ein knappes Jahr ist zu kurz, um die Grundlagen einer jahrhundertealten habsburgischen Tradition zu verändern.
Reicht eine Legislaturperiode?
Chorherr: Nach fünf Jahren muss einiges anders sein. Aber nach den Habsburgern sind auch fünf Jahre ein bisschen kurz.
Wie kann man direkte Demokratie leben, ohne zu riskieren, dass alle alles blockieren?
Chorherr: In vielen Fällen soll am Schluss schon das repräsentativ-demokratische System entscheiden. Wichtig ist aber, Konzepte früh öffentlich zu machen. Man darf Bürgern keine fixfertigen Projekte aufs Aug drücken. Man muss es aushalten, wenn Entscheidungen einige Monate länger dauern. Leidenschaftlich soll über Vor- und Nachteile gestritten, und Alternativen sollen aufgezeigt werden. Der Streit um Steinhof würde etwa anders aussehen, wäre man im Vorfeld transparenter gewesen.
In ihrem Buch erweitern Sie den „Peak Oil“, den Zenit der Erdölförderung, zum „Peak Everything“. Nahrungsmittel, Energie, alles gehe zur Neige. Sie schlagen radikale Maßnahmen vor. Glauben Sie tatsächlich, dass die internationale Politik dazu in der Lage ist? Sie kann doch selbst bei drängendsten Problemen nicht koordiniert handeln.
Chorherr: Der Wandel muss dramatisch sein, wenn neun Milliarden Menschen Ernährung, Energie und Mobilität haben wollen. Demokratie und Frieden sind nicht möglich, wenn die einen das 20-Fache der anderen konsumieren. Nein, zu Verteilungspolitik auf globaler oder europäischer Ebene sind die Verantwortlichen nicht imstande. Ich glaube, dass die lokale Politik, etwa in Sachen Energie, viel tun kann.
Christoph Chorherr:
Verändert! Über die Lust, Welt zu gestalten. Kremayr & Scheriau, 190 S., € 22,-
Pingback: Wir Wutmenschen | Geppbloggt
Pingback: Das verflixte erste Jahr | Geppbloggt