Monatsarchiv: Oktober 2011

Lesenswertes II

Zweiter Teil der unregelmäßigen Serie mit Empfehlungen unbedingt lesenswerter Geschichten:

Der US-Historiker Timothy Snyder über das Geschichtsbild des Norwegen-Attentäter Anders Behring Breivik

Der New Yorker rekonstruiert minutiös den Tag, an dem Osama Bin Laden erschossen wurde

Sascha Lobo über die Meinungslastigkeit des Internets

Das Web-Magazin Telepolis über Staatsgründungen auf künstlichen Inseln und die Idelogie, die dahintersteckt

Weil’s so interessant ist: noch mehr zur Ideologie, die dahintersteckt

Eine nicht nur wegen ihres Titels schöne SpiegelReportage über Ungarn

Ein spaßiger Rezensionen-Vergleich: So sieht der Spiegel den neuen Woody-Allen-Film „Midnight in Paris“
… und so sieht ihn Die Zeit, die in diesem Fall eindeutig den Kürzeren zieht

Herrliche Reportage im New Yorker über eine chinesische Reisegruppe in Europa

Der Historiker Philip Blom im Falter über den News-Wahnsinn

Verkehrsexperte Reinhard Seiß im Standard über die Zersiedelung in Österreich

Josef Joffe über den Papstbesuch in Deutschland

Die bisher beste Geschichte zum Niedergang Amerikas (aus Der Zeit)

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„Wie viele Zürcher ähneln George Clooney, Frau Schurter?“

Aus dem FALTER 43/2011

Nachfragekolumne

Müssen Werbespots für eine bessere Welt immer vor bierernster Sorge um ebendiese triefen?

Gar nicht, wie ein Spot der schweizerischen Entwicklungshilfeorganisation Solidar Suisse zeigt. Die NGO setzt sich dafür ein, dass Uni-Mensen und Betriebskantinen fair produzierten Kaffee anbieten. Vor allem einen Konzern kritisiert Solidar heftig: Nestlé, dessen Kaffeemarke Nespresso trotz ihres exorbitanten Preises über keine Fair-Trade-Linie verfügt.

Den parodistischen Spot sieht man seit September auf Youtube und der Website solidar.ch: Ein fast echter George Clooney tritt – inklusive passender Musik – aus einem Nespresso-Shop. Wie im richtigen Werbespot entgeht er knapp dem Flügel, der vom Himmel fällt. Dann aber löst sich das Nespresso-Schild über dem Geschäft aus seiner Verankerung und trifft Clooney auf den Kopf und in die Weichteile. „Sorry George“, sagt die nachgeahmte Stimme von John Malkovich. „So fühlt es sich an, wenn man als Kaffeepflücker ausgebeutet wird.“

Es sei langweilig, immer gesichtslose Großkonzerne zu adressieren, meint dazu eine der Macherinnen des Spots, Katja Schurter von Solidar. Stattdessen konzentriere sich ihr Beitrag auf ein äußerst bekanntes Individuum. Am Schluss des Spots wird aufgefordert: „Schreiben Sie George Clooney!“ Auf der Solidar-Website kann man das tatsächlich tun. „Wir müssen Millionen sein, um etwas zu verändern“, schreibt jemand an George. „Du kannst es allein.“

Das Clooney-Double ist ein Freizeit-Model aus Zürich, Malkovich spricht ein Stimmenimitator – dennoch erregte die Guerilla-Marketingaktion Aufsehen: Fast eine Million Menschen haben sich den Spot angesehen. Etliche TV-Stationen berichteten. Und Nespresso will nun seine Produktionsbedingungen evaluieren.

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Ein Wilhelminenberg ungeklärter Fragen

Aus dem FALTER 43/2011

Der Heimkinder-Skandal: Medien und politische Glücksritter enthüllen ohne Rücksicht auf die Opfer

Bericht:
Joseph Gepp
Nina Horaczek

Heute checken hier Touristen ein, Wiener treffen sich zum Brunch mit Blick über die Stadt und Frischvermählte feiern Hochzeit. Nur eine unauffällige Gedenktafel erinnert daran, dass hier bis zum Jahr 1977 ein Kinderheim war. „Wer Kindern Paläste baut“, steht darauf, „reißt Kerkermauern nieder“.

Glaubt man den Aussagen zweier ehemaliger Insassinnen, die vor eineinhalb Wochen ihr Schweigen brachen, war das Schloss Wilhelminenberg weniger Palast denn Kerker. Die beiden Frauen berichteten im Kurier und im ORF, wie sie im Alter von sechs beziehungsweise acht Jahren von Erziehern der Stadt Wien misshandelt und sexuell missbraucht worden waren.

Richtiggehend verkauft sollen die Kinder worden sein. Fremde Männer seien in die Schlafsäle gekommen, um sie in Serie zu vergewaltigen. Julia K. und Eva L., heute 47 und 49 Jahre alt, erzählten von Schlägen, von jahrelangen Demütigungen. Wöchentlich habe die Rettung misshandelte Kinder abgeholt. Die Erzieher hätten sie auch psychisch gefoltert, hätten ihnen Filmaufnahmen aus Konzentrationslagern vorgespielt und ihnen gesagt, dorthin würden sie auch gehören, sie hätten kein Recht auf Leben. Selbst an Todesopfer wollen sich manche der damals Gequälten erinnern.

Seit diesen Berichten tauchen immer neue Opfer auf, in Wien und in den Bundesländern. Alleine auf dem „W-Berg“, wie das Heim genannt wurde, lebten bis zu 220 Kinder. Konnten sie in der Obhut der Gemeinde dermaßen gequält und misshandelt werden? Und sind die Vorwürfe tatsächlich neu? Ja, was die Vorwürfe organisierter Misshandlung und Zwangsprostitution von Schutzbefohlenen betrifft. Nein, wenn es um „schwarze Pädagogik“, Gewalt und Missbrauch in Kinderheimen geht.

„Die Debatte über die Zustände
in der staatlichen Obsorge hat in Deutschland Anfang der 70er-Jahre mit dem Film ‚Bambule‘ von Ulrike Meinhof begonnen“, erinnert sich der Kinderpsychiater Ernst Berger, der viele Jahrzehnte für die Gemeinde Wien tätig war. „Auch in Österreich gab es eine Anti-Heim-Bewegung. Da haben sich Aktivisten aus Protest gegen die Zustände in Wiens Heimen in Schönbrunn an den Tigerkäfig gekettet und den Stephansdom gestürmt. Bei der Arena-Besetzung Mitte der 70er-Jahre haben wir auch geflüchtete Heimkinder betreut“, sagt Berger, der nun im Auftrag der Opferschutzorganisation Weißer Ring Gespräche mit ehemaligen Heimkindern führt.

Was den Schutz von Kindern betrifft, herrschte im Österreich der 70er-Jahre tiefstes Mittelalter – ein Faktum, das in der momentanen Debatte gern übersehen wird. Die „gsunde Watschn“ war ein geläufiges Erziehungsmittel, das „Züchtigungsrecht“ wurde erst 1989 abgeschafft. Wie wenig es brauchte, dass der Staat einem das Kind abnahm, zeigen auch die „Amtsvormundschaften“, die bis in die 80er-Jahre üblich waren. Gebar eine alleinstehende Frau ein Kind, war automatisch das Jugendamt der gesetzliche Vormund. Erst wenn die Behörde der Meinung war, die Mutter führe einen sittlichen Lebenswandel, wurde ihr die Vormundschaft übertragen.

Im Schloss Wilheminenberg sollen grausame Dinge geschehen sein (Wikipedia)

Die ehemalige Heimerzieherin Ute Bock berichtete im Gespräch mit dem Standard von ehemaligen Waffen-SSlern, die nach dem Krieg als Erzieher ohne Ausbildung auf Heimkinder losgelassen wurden. Dazu kam, dass bis 1954 das nazideutsche „Reichswohlfahrtsgesetz“ in Kraft war. In einer 1975 fertiggestellten Studie der späteren SPÖ-Politikerin Irmtraud Karlsson über Wiener Kinderheime ist von Heimleiterinnen zu lesen, die ihre Zöglinge mit der Hundepfeife herumkommandierten, von Kindern, die stundenlang stillsitzen mussten und davon, dass „Bettnässer“ stigmatisiert und gedemütigt wurden. In diesen „totalen Institutionen“, wie Soziologen sie nennen, wurde jegliche Individualität zerstört, die Insassen von der restlichen Welt isoliert. „Montag, Mittwoch und Freitag ist Warmbad, die Körperpflege mache ich“, zitierte Karlsson die Leiterin eines privaten Knabenheims für sechs- bis 15-jährige Burschen, die offenbar selbst Hand an ihre Schützlinge legte.

Dass derartige Aussagen damals nicht die Alarmglocken schrillen ließen, ist nur aus dem Zeitgeist zu erklären. Kindesmissbrauch sei in den 70er-Jahren kein Thema gewesen, sagt Kinderpsychiater Ernst Berger. „Wir hatten 1974 einen Buben aus einem Bauernhof in Vorarlberg als Patienten in der Kinderpsychiatrie, von dem alle Ärzte wussten, dass sein Großvater auch sein Vater ist. Darüber wurde einfach nicht geredet“, sagt der Arzt.

Damals hätten es Psychiater als Fantasieprodukt abgetan, wenn Kinder über Missbrauch sprachen. Man werde doch nicht wegen der Fantasie der Kinder ehrenhafte Männer vor Gericht stellen. „Erst ab den 90er-Jahren hat man begonnen, Kinder wirklich ernst zu nehmen und ihnen zu glauben“, sagt Berger. Heute würden ihm die Opfer von damals in Gesprächen von Erzieherinnen und Erziehern berichten, die Kinder in ihre Zimmer und ihre Betten geholt haben. „Die Täter waren Männer und auch Frauen“, sagt Berger. Warum wurde darüber so lange geschwiegen? „Wenn ich ehemalige Heimbewohner frage, ob sie mit den anderen Kindern darüber gesprochen haben, sagen eigentlich alle: Nein, wir haben uns doch geschämt“, erzählt der Psychiater. Man müsse auch bedenken, dass diese Kinder in vollständiger Abhängigkeit von diesen Erziehern leben mussten.

Auch später hat sich kaum einer für diese Missbrauchsopfer interessiert. Schon 2007 erfuhr Berger bei einer Tagung in München, dass der deutsche Bundestag eine Kommission einrichte, um Übergriffe in staatlichen Heimen aufzuarbeiten. „Ich bin nach Wien zurück und habe verschiedenen Politikern und Journalisten gesagt: So etwas brauchen wir auch. Keiner hat reagiert“, sagt Berger. Erst unter dem Eindruck des kirchlichen Missbrauchsskandals gründete Wien im März 2010 eine Anlaufstelle für Heimopfer. Eine Lawine wurde aber erst durch die Interviews von Julia K. und Eva L. losgetreten.

Die beiden Frauen hatten sich zuvor an den Weißen Ring gewandt, der im Auftrag der Stadt Wien Clearinggespräche mit potenziellen Opfern des städtischen Heimsystems führt. Dass die beiden Frauen durch ihre Erlebnisse im Heim schwer traumatisiert sind, schien dem Gutachter des Weißen Ring eindeutig. 25.000 Euro beträgt die Entschädigung der Stadt Wien für Heimkinder „bei Fällen von über mehrere Jahre hinweg fortgesetzter (sexueller) Gewalt mit Verletzungsfolgen und/oder fortdauernden seelischen Schmerzen“. Nur in „besonders extremen Einzelfällen“ gibt es eine erhöhte Entschädigung. Julia K. und Eva L. erhielten jeweils 35.000 Euro, und dies, obwohl sie bei ihren Gesprächen mit dem Weißen Ring noch nichts von Kinderprostitution erzählt hatten.

Trotzdem fühlten sich die beiden beim Weißen Ring „nicht angenommen“, wie ihr Anwalt Johannes Öhlböck sagt. „Der Weiße Ring wollte keine Geschichten, keine Beweise, keine Details. Deshalb sind Julia K. und Eva L. zu mir gekommen.“ Der Rechtsvertreter, der gemeinsam mit zahlreichen prominenten FPÖ-Politikern Mitglied in der Burschenschaft Oberösterreiche Germanen ist, organisierte für die beiden Opfer Auftritte im Fernsehen und eine Pressekonferenz im Parlament. Dort wurden Vorwürfe erhoben, dass es im Heim Kinderprostitution und Serienvergewaltigungen gegeben habe. Aus Schilderungen einer Zeitzeugin, die in den 50er-Jahren als Kind mitansehen musste, wie ein Mädchen von einer Erzieherin geprügelt wurde und die dem Kurier sagte, „alle, fast alle, waren überzeugt davon, dass die tot ist“, machte der Anwalt einen praktisch erwiesenen Todesfall. „Kinder sind zu Tode gekommen“, sagte er über einen Fall, den die Staatsanwaltschaft nicht bestätigen kann.

Wenige Tage später sprach FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache auf einer Kundgebung in der Wiener Lugner City von einem „Pädophilenring im Roten Wien“ und einem „Fall wie Dutroux in Belgien“. Der Sexualstraftäter Marc Dutroux hatte zahlreiche Kinder entführt, sexuell missbraucht und zwei von ihnen ermordet. Gibt es tatsächlich ein „Wilhelminenberg-Gate“? Oder nützen geschickte Anwälte und kampagnisierende Politiker das Leid Betroffener, um sich selbst ins Rampenlicht zu rücken?

„Unvorstellbar“ sind derartige Vorwürfe
für Beobachter wie den Sozialpädagogen Hans Feigelfeld, der in den frühen 70ern auf dem Wilhelminenberg eine reformpädagogische Abteilung leitete. „Die Möglichkeit zur sexuellen Gewalt war da“, räumt der Pädagoge ein. „Aber wie soll eine solche Organisiertheit möglich gewesen sein? Die Kinder hatten Kontakt zu ihren Familien, Schulen, Sozialarbeiterinnen. Darüber hinaus müssen sie mit Sanitätern und Ärzten konfrontiert gewesen sein. Von all denen muss niemand ein Wort gesagt haben.“

Mehr als 40 Jahre nachdem diese Vorfälle passiert sein sollen, existieren vor allem die Darstellungen der Opfer. Sie können stimmen oder auch nicht. Auch eine dritte Wahrheit ist möglich. „Es kann auch sein, dass diese Opfer es in ihrer kindlichen Wahrnehmung damals so abgespeichert haben“, meint eine Psychologin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Hier brauche es einen behutsamen Umgang mit den Betroffenen, um in einem sicheren Rahmen das Erlebte aufarbeiten zu können. „Dass das Pressezentrum des Parlaments und die ‚Zeit im Bild‘ der richtige Rahmen sind, bezweifle ich“, sagt die Expertin.

Für Psychiater Berger ist nicht entscheidend, ob in den Berichten der Betroffenen jedes Detail stimmt. „Jeder Kriminologe weiß, dass Menschen im Schock Dinge anders wahrnehmen können. Diese Kinder befanden sich damals in einer existenziellen Bedrohungssituation“, sagt Berger. Für ihn sei es wesentlich zu verstehen, wie sich die Heimerlebnisse auf das weitere Leben dieser Personen ausgewirkt haben.

Um aber herauszufinden,
ob die massiven Vorwürfe der historischen Wahrheit entsprechen, braucht es mehr als den empathischen Zugang der Opferschützer. Deshalb präsentierte SPÖ-Jugendstadtrat Christian Oxonitsch vergangenen Freitag eine Untersuchungskommission. Ab Ende November wird ein vier- bis fünfköpfiges Team unter der Familienrichterin Barbara Helige Zeitzeugen interviewen und Akten studieren, um die Wahrheit zu finden.

Bis dahin kann niemand mit Sicherheit sagen, was wirklich am W-Berg geschah – sollte man meinen. Tatsächlich übertreffen sich Gazetten täglich mit grausigen Details. Zahlreiche Medien, allen voran Kurier und ORF, präsentieren allein die Tatsache, dass sich nun weitere Opfer beim Weißen Ring melden, als Beweis für ein kriminelles System organisierten Kindesmissbrauchs. Neue Opfer schocken mit Leidensberichten – und über die hysterische Berichterstattung gerät manch dringend notwendige Differenzierung außer Acht. Gerade bei einem Thema wie Kindesmissbrauch, wo ein einziges falsches Opfer all die tatsächlichen diskreditieren kann.

Stattdessen wird blind rundum verdächtigt, um möglichst viel politisches Kapital aus den Missbrauchsfällen ziehen zu können. Der Flüchtlingshelferin Ute Bock wirft Johann Gudenus, der zweite Mann in der FPÖ hinter Parteichef Strache, gar vor, die „linkslinke Gutmenschin“ hätte als Erzieherin in Wiener Kinderheimen „Zöglinge misshandelt“. Anwalt Öhlböck, eigentlich Experte für Internetrecht, hat angekündigt, weitere Opfer staatlicher Kinderheime zu präsentieren.

Bis der Fall Wilhelminenberg aufgearbeitet ist, bis die neu eingesetzte Kommission ihren Bericht vorlegen wird, kann noch fleißig weiterspekuliert werden. Übrig bleiben die Opfer. Die werden immer noch da sein, wenn die Karawane aus hysterisierenden Medien und kampagnisierenden Politikern weitergezogen ist.

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Causa „Kiss and Ride“: Ist es schmutzig oder schlicht unsinnig?

Aus dem FALTER 43/2011
Glosse Kirche

Kiss-and-Ride-Schilder meinen laut ÖBB „das Abliefern oder Abholen von Fahrgästen an einer Zugangsstelle des öffentlichen Verkehrs durch einen von Dritten gefahrenen Privat-Pkw“. Also eine Haltezone. Aber weil englische Wortkonstruktionen schick sind und man seine Liebsten oft mit Küssen abliefert und abholt, wird daraus Kiss and Ride.

Touristen würden dies als Hinweis auf Prostitution missverstehen, alarmiert das Portal kath.net. Vor allem, wenn rundherum sowieso „das horizontale Gewerbe agiert“.

Leicht kann man nun die Nase rümpfen über die gestrige Kirche und ihre Sorgen. Dabei hat sie mit ihrer Kritik prinzipiell nicht unrecht. Nur sollte sie nicht fürchten, dass jemand fälschlicherweise an Prostitution denkt. Sie sollte eher sagen: Diese Schilder sind unglaublich blöd.

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Almasfüzitö illegal

Vor einem Jahr brach in Kolontár in Ungarn ein Rotschlammbecken. Ein weiteres in Almasfüzitö direkt an der Donau (siehe Falter 40/2011) stuft eine ungarische NGO nun als rechtswidrig gemäß ungarischem und EU-Recht ein. Ein Gutachten der Montan-Uni in Leoben befürchtet ein „massives Austreten von Schadstoffen“; Greenpeace nennt die Deponie eine „tickende Zeitbombe am Donauufer“.

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Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Ungarn

Das verflixte erste Jahr

Aus dem FALTER 42/2011

Seit einem Jahr wird Wien von einer rot-grünen Koalition regiert. Was hat sie bisher erreicht? Eine gemischte Bilanz

Der Antritt fiel pompös aus. Von einem „historischen Moment“, gar einer „neuen Zeitrechnung“ sprachen SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl und die frischgebackene grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, als sie 2010 Österreichs erste rot-grüne Koalition verkündeten. Die Verhandlungen dazu hatten vor genau einem Jahr begonnen, am 22. Oktober 2010.

Seitdem mag man manch atmosphärische Diskursveränderung in der Stadt registrieren – wohl auch deshalb, weil sich die FPÖ in Nicht-Wahlkampfzeiten eher zurückhält. Doch was hat die rot-grüne Koalition darüber hinaus auf sachpolitischer Ebene geleistet? Und: Können die Grünen ihre Wahlversprechen halten?

Wahlrecht
Stets war sich die Opposition einig, dass das mehrheits- (und damit SP-)freundliche Wahlrecht der Stadt in Richtung eines „modernen Verhältniswahlrechts“ geändert werden müsse. Schon mit rund 47 Prozent der Stimmen regiert man in Wien absolut. Entsprechend verpflichteten sich ÖVP, FPÖ und Grüne vor der Wahl 2010 in einem Notariatsakt, zusammen das Wahlrecht zu ändern.

Nachher stimmten die Grünen prompt gegen den eigenen Vorschlag, zugleich aber wurde mit der SPÖ bis 2012 eine Wahlrechtsreform vereinbart. Im März 2011 preschte zudem David Ellenson vor. Noch dieses Jahr solle es zu einer Allparteieneinigung kommen, sagte der grüne Klubchef und lud ÖVP und FPÖ zu Gesprächen. Beim ersten Treffen seien die Grünen laut ÖVP-Politikern gegenüber den Roten „durchaus keck“ aufgetreten. Allerdings blieb es bei diesem Treffen und nichts weiter geschah.

„Wie im Koalitionspakt vereinbart, wird das Wahlrecht Ende 2012 fertig“, sagt Ellenson heute. Sein Vorstoß in Richtung Vierparteiengespräch sei auch deshalb gescheitert, weil sich Grüne, ÖVP und FPÖ untereinander nicht über einen Randaspekt der Reform einigen hätten können: Wahlrechte für EU-Bürger in Wien.

Verkehr
Vieles ist beim grünen Leibthema Fahrradfahren weitergegangen. Es gibt Werbekampagnen, es gibt den Radverkehrsbeauftragten Martin Blum und einen respektabel gewachsenen Fahrradanteil in Wien. Bis Jahresende wird er sich laut Verkehrsclub Österreich um 1,5 Prozent erhöht haben. Bis 2015 will man den Anteil von fünf auf zehn Prozent verdoppeln. „Wenn es so weitergeht, ist dieses Ziel mit einiger Mühe erreichbar“, konstatiert Aktivist Alec Hager von der IG Fahrrad. Hager bemerkt „Weichenstellungen, wie sie früher nicht möglich gewesen wären“. Trotzdem sei der unter Vassilakou fertiggestellte Ringradweg ein „Fiasko“. So wie bauliche Maßnahmen überhaupt auf sich warten lassen. Die angekündigten „Fahrradstraßen“ etwa scheitern bislang am Bund, der dafür die Straßenverkehrsordnung ändern müsste.

Positiv wertet der VCÖ auch, dass über mehr billige und umweltschonende Straßenbahnen nachgedacht wird. Die Verlängerung von U1 und U2 steht dafür zur Disposition. Ein anderes Projekt, dass dem stark verkehrsbelasteten Stadtrand nutzen könnte, scheitert dafür wie eh und je an der Unwilligkeit Niederösterreichs: Straßenbahnen ins Umland, etwa nach Schwechat oder Großenzersdorf.

Öffi-Preise
Die Tarifreform war eine zentrale grüne Forderung und Gegenstand zäher Verhandlungen. Pünktlich zum Geburtstag der Koalition präsentierte Rotgrün das Ergebnis: Die Jahres- verbilligt sich ab Mai 2012 ebenso signifikant (von € 449 auf € 365 Euro) wie die Monatskarte (€ 49,50 auf € 45). Teurer werden jedoch Wochen- und Einzelfahrschein (€ 1,80 auf € 2) sowie Senioren- und Studentenfahrten.

Von der grünen Wahlkampfforderung 1/10/100 (pro Tag, Woche und Jahr) ist dies zwar meilenweit entfernt. Dennoch stellt das Ergebnis in Zeiten leerer Stadtkassen einen Verhandlungserfolg dar. Zudem gilt es Experten als sinnvolle ordnungspolitische Maßnahme: Vielfahrer zahlen weniger, Touristen und Autofahrer mehr. Kritiker warnen jedoch vor Qualitätseinbußen bei den Öffis.

Bürgerinitiativen
Hier haben die Grünen alte Freunde verloren. Die Besetzer des Augartenspitzes zeigten sich gleich nach Koalitionsbildung 2010 enttäuscht über den Übergang von „Ideal- zur Realpolitik“ – Vassilakou hatte erklärt, der Baubeginn habe Fakten geschaffen. Ebenfalls enttäuscht äußern sich heute engagierte Bürger in den größten aktuellen Causen in Wien in Steinhof und an der Alten Donau (siehe Falter 41/11). Immerhin haben die Grünen mit der SPÖ die Schaffung einer „Koordinationsstelle für Bürgerinnenbeteiligung“ ausverhandelt. „Bürger einzubeziehen ist leichter gesagt als getan“, räumte Grünmandatar Christoph Chorherr im vergangenen Falter ein. Proteste würden sich oft auf Beschlüsse von vor der grünen Zeit beziehen, „wir wollen und können den Rechtsstaat nicht aushebeln“.

Glücksspiel
55 Millionen Steuereinnahmen bringen Spielautomaten jährlich, wenn man soziale Folgekosten außer Acht lässt. Dementsprechend umkämpft ist ein Verbot des sogenannten kleinen Glücksspiels. Die Grünen waren damit schon in den Koalitionsverhandlungen 2010 gescheitert. Dann aber kam Hilfe von unerwarteter Seite. Ende Mai beschloss das Fußvolk beim SPÖ-Landesparteitag das Verbot des Glücksspiels, nachdem Jungfunktionär Niki Kowall eine flammende Rede gehalten hatte. Lange druckste die Spitze um Häupl herum, bis sie im September dem Funktionärswillen nachgab. Ab 2015 wird es in Wien keine Spielautomaten mehr geben, die in die Kompetenz des Landes fallen. Die Grünen schreiben den Schwenk auch ihrem eigenen jahrelangen Kampf gegen Automaten zu.

Mindestsicherung
Was unter Experten als das wesentliche rotgrüne Vorhaben im Sozialbereich gilt, wurde – wie in den Koalitionsgesprächen vereinbart – gleich in der ersten gemeinsamen Pressekonferenz im November 2010 verkündet: die Anhebung der Mindestsicherung für Kinder auf 203 Euro. Ebenso fix ist die Spitalsreform, die bis 2030 Wiens Krankenhausnetz effektivieren will.

Gebührenerhöhungen
Als die absolut regierende SPÖ 2008 eine Gebührenerhöhung beschloss, sprach Vassilakou noch von „Sozialverrat“. 2011 muss sie selbst die wohl unpopulärste rotgrüne Maßnahme mittragen: Empfindlich teurer werden ab 2012 Kanal-, Müll- und Wassergebühren – letztere gleich um ein Drittel. Die Stadtregierung rechtfertigt dies mit Inflationsabgeltung, Qualitätssicherung und damit, dass sozial ausgewogenere Maßnahmen auf Bundesebene ausbleiben würden.

Parken
Die Parkpickerlreform gilt als wichtiges Instrument zur Verkehrseindämmung. Der VCÖ etwa schlägt ein „gestaffeltes System“ vor, bei dem Parkgebühren desto höher werden, je näher man zur Innenstadt kommt. Die Grünen, deren Idee einer Citymaut schon mittels Volksbefragung abgewürgt wurde, wollen eine Ausweitung des Parkpickerls auf Bezirke außerhalb des Gürtels. Hier allerdings haben – ebenso wie bei der flächendeckenden Einführung von Tempo-30-Zonen – die Bezirkskaiser ein Wörtchen mitzureden. Döblings ÖVP-Bezirkschef Adolf Tiller etwa will sich von Vassilakou gar nicht dreinreden lassen. Aber auch Ottakrings SPÖ-Chef Franz Prokop wusste nichts von einer Bemerkung Vassilakous im Falter, wonach das Parkpickerl in seinem Bezirk praktisch fix sei. „An der Lage im 16. Bezirk ändert sich nichts“, sagte er.

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Eingeordnet unter Bürgerbeteiligung, Behörden, Das Rote Wien, Stadtplanung, Verkehr, Wien

Buch: Investieren als Selbstermächtigung

Immerhin eines kann man Gerald Hörhan nicht vorwerfen: dass er nur ein weiteres Buch zur Krise geschrieben hat. Stattdessen gibt der selbsternannte Wiener „Investment Punk“ in seinem knapp 200-seitigen Pamphlet den wohl unpopulärsten Tipp, den man derzeit geben kann: Investiert! Hörhans These: Menschen unter 30 sind träge geworden und haben ihr „ökonomisches Gen“ verloren. Deshalb braucht sie die Wirtschaft nicht mehr und demütigt sie in immer neuen Bewerbungsritualen. Sein „Gegengift“ ist die aktive Beteiligung am Wirtschaftsprozess und die Vermarktung von Ideen, sei es an der Börse, durch Unternehmensgründungen oder -beteiligungen. Das alles kommt zwar ziemlich präpotent daher („Ihr seid Arschkriecher“), entpuppt sich aber im Zuge der Lektüre als eine Art Aufruf zur Selbstermächtigung: Politische und gesellschaftliche Macht würden die Jungen als marginalisiertes Prekariat niemals erreichen, argumentiert der Autor, auch nicht durch Demos. Deshalb gelte es zu begreifen, was das Bildungssystem vernachlässigt: die Bedeutung des Wirtschaftens. Diese vermittelt Hörhan polarisierend und streckenweise polemisch, aber auch sehr unterhaltsam. Joseph Gepp

Gerald Hörhan: Gegengift. Wie euch die Zukunft gestohlen wird. Edition A, 192 S., € 19,95

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Blutland: Historiker Timothy Snyder präsentiert sein Werk

Aus dem FALTER 42/2011

Manchen Historikern gelingt es, alte Erkenntnisse mit neuen Deutungsmustern anzureichern – und eine neue Perspektive zu schaffen. So wie Timothy Snyder. In seinem Buch „Bloodlands“ definiert der US-Amerikaner einen Streifen des Grauens quer durch Europa, etwa vom Baltikum zur Krim (siehe Falter 34/11). Vor diesem Hintergrund erzählt er Hitlers und Stalins Verbrechen neu.

Am Donnerstag präsentiert der Yale-Professor, der am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen forscht, sein Werk. Die Veranstaltung wird in deutscher und englischer Sprache stattfinden. Im Anschluss diskutiert Snyder mit der heimischen Historikern Sybille Steinbacher. Am 20.10., 19 Uhr, im IWM, 9., Spittelauer Lände 3.

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Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien

GONE: Der Film zum Fall

„GONE“ heißt der US-Dokumentarfilm über Aeryn Gillern. 2007 verschwand der Amerikaner nach einem Saunabesuch in Wien spurlos (siehe hier). Der Fall wurde im Falter von Joseph Gepp ausführlich behandelt. Im Rahmen der Viennnale kommt „GONE“ nach Wien: am 23.10., 18.30 Uhr, im Urania-Kino und am 24.10., 13 Uhr, im Gartenbau

Ankündigung auf der Viennale-Seite

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Rosenwasser und Redewettbewerbe

Aus der FALTER-Buchbeilage 41/2011

Geschichte: Jonathan Phillips schildert die mittelalterlichen Kreuzzüge anschaulich und atemberaubend spannend

Die Geschichte des Mittelalters scheint vielen interessierten Laien als Aneinanderreihung von Schlachtschauplätzen und Herrschernamen. Oder aber sie setzt sich zusammen aus TV-Klischeebildern wie Schwertergeklirr oder würdigem sakralem Getue vor dem Hintergrund gotischer Kathedralen.

Wer meint, diese Epoche lasse sich gar nicht anders darstellen, weil sie einfach schon zu weit zurückliegt, sollte das neu erschienene Buch „Heiliger Krieg“ von Jonathan Phillips lesen. Phillips ist Professor für die Geschichte der Kreuzzüge am Royal Holloway College der Universität London.

Sein „Heiliger Krieg“ vollbringt auf 639 Seiten eine Meisterleistung: Er vermittelt umfassend, anschaulich, lebensnah, vielschichtig und stilistisch elegant eine Ära, die entweder nur als besagtes Fernsehklischee wahrgenommen wird – oder aber als historische Bezugsgröße für Fanatiker wie Osama bin Laden oder Anders Behring Breivik.

Wohl vernünftig bei einem Thema, bei dem man so wenig Vorwissen voraussetzen kann, gliedert Phillips sein Werk ganz konventionell chronologisch: Er erzählt die Historie der Feldzüge strikt vom Beginn des Ersten Kreuzzugs 1096 bis zum Fall der letzten Kreuzfahrerstadt Akkon 200 Jahre später.

Trotzdem versteht und vermittelt Phillips die Kreuzzüge nicht nur als Abfolge militärischer Kämpfe um die Stadt Jerusalem, sondern auch als politische Idee mit wechselndem geografischem Bezug, die Europa zwei Jahrhunderte lang dominierte.

So gab es etwa auch einen Wendenkreuzzug gegen heidnische Slawen im heutigen Ostdeutschland und Westpolen, den Albigenserkreuzzug gegen christliche Häretiker im heutigen Frankreich oder die Reconquista des muslimischen Spanien.

All dies firmierte bei Zeitgenossen unter „Kreuzzug“, und all dies konsolidierte die Macht der römischen Kirche, die im Hochmittelalter den Staub der Völkerwanderung gleichsam abschüttelte und im kleinräumigen und zersplitterten Westeuropa zum bestimmenden Faktor aufstieg.

Phillips befasst sich mit der Dehnbarkeit des Begriffs Kreuzzug. Er geht auf muslimische Quellen ebenso ein wie auf christliche. Er thematisiert „die unzähligen Widersprüche und die Vielschichtigkeit des Heiligen Krieges“.

Darunter fallen auch „Kreuzzüge gegen Christen und Aufrufe zum Dschihad gegen Muslime“. Ein prominentes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel dafür ist die Plünderung des griechisch-orthodoxen Konstantinopel durch ein Kreuzfahrerheer 1204.

Im letzten Kapitel liefert Phillips zudem eine Art Rezeptionsgeschichte der Kreuzzüge: Während sie Gelehrten der Barockzeit noch als „einzigartiges Denkmal des menschlichen Irrsinns“ galten, fand im 19. Jahrhundert eine Romantisierung statt, die sich etwa in den populären Ritterromanen von Walter Scott manifestierte.

Im Kolonialismus und später im arabischen Nationalismus wurden die Kreuzzüge wieder zum Politikum, was sie bis heute geblieben sind.

Um ihren Verlauf zu schildern, greift Phillips auf Augenzeugenberichte zurück – fast 100 Seiten umfasst das Literatur-und Personenverzeichnis am Ende des Buchs. Die Berichte liefern nicht nur einen Einblick in die Geschichte der Kämpfe, sondern auch ins Alltagsleben einer fernen Epoche: was die Menschen aßen, woran sie litten, wie sie Macht und Status zur Schau stellten, an welcher Stelle der Stadtmauer der Durchbruch nach Konstantinopel oder Jerusalem erfolgte usw., usf.

Die großen geopolitischen Linien des Mittelalters verbinden sich in seinem Buch mit einer faszinierenden und detailreichen Alltagsgeschichte von Okzident und Orient.

So ließ, um nur ein Beispiel zu nennen, Sultan Saladin den Jerusalemer Tempelberg 1187 mit Rosenwasser säubern, um symbolisch die fast 100-jährige christliche Herrschaft wegzuwaschen. Das kupferne Kreuz, das die siegreichen Muslime vom Felsendom stürzten, ließ Saladin – aus heutiger Perspektive widersprüchlich – vergolden, um es danach, als es sozusagen wertvoller geworden war, in seiner Hauptstadt Bagdad nahe der Moschee zu vergraben.

Ein Redewettbewerb ermittelte danach, wer die erste Predigt in der Al-Aksa-Moschee halten durfte. Sogar der Gewinner ist überliefert, er hieß Ibn al-Zaki, ein Imam aus Damaskus.

Des Weiteren ließ Sultan Saladin eine kunstvolle Kanzel aus Aleppo nach Jerusalem bringen, um sie in der Al-Aksa-Moschee aufzubauen. Dort stand sie, bis sie im Jahr 1969 ein Brand zerstörte – an einem Ort, der wohl niemals in seiner Geschichte unumstritten war.

Jonathan Phillips: Heiliger Krieg. Eine neue Geschichte der Kreuzzüge. DVA, 640 S., € 30,90

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