Der Gaddafi-Experte Andreas Dittmann fürchtet eine Machtübernahme der Islamisten im Wüstenstaat
Gespräch: Joseph Gepp
Andreas Dittmann, Anthropogeograf der Uni Gießen und einer der wenigen deutschsprachigen Libyenexperten, im Interview.
Falter: Herr Dittmann, in Libyen werden Autodieben Gliedmaße amputiert. Kaum jemand hätte gedacht, dass die arabische Revolution hierher übergreift. Wie war das möglich?
Andreas Dittmann: Die Heftigkeit des Aufstands überrascht zwar. Aber geografisch und historisch gesehen ist das Übergreifen wenig verwunderlich. Das moderne Libyen ist aufgebaut auf dem Versuch, politische Ereignisse in Ägypten zu kopieren. Die Septemberrevolution durch Gaddafi 1969 geschah in glühender Verehrung für Nasser und seine Freien Offiziere 1954. Danach waren viele Maßnahmen in Libyen am Vorbild Ägypten orientiert – wie jetzt wieder.
Aber Ägypten ist wesentlich ärmer als Libyen, das reichste Land Afrikas. Warum kann Gaddafi die Revolution nicht einfach im Geld ersticken?
Dittmann: Bis jetzt hat er das getan, wobei das Geld vor allem in die innere Sicherheit floss. Deshalb revolutioniert es sich in Libyen nicht so leicht wie in Ägypten und Tunesien. In 42 Jahren lernte Gaddafi permanent mit potenziellem Widerstand umzugehen – im libyschen Fall war er stets religiöser Natur. In dieser Zeit wurden die Kontrollorgane immer professioneller.
Wer sind die Träger des Aufstandes?
Dittmann: Vor allem die Jungen. Über die Hälfte der Libyer sind unter 25 und haben keine Perspektive. Wobei die Perspektivlosigkeit weniger als in Ägypten und Tunesien materiell begründet ist. Es ist stattdessen das Gefühl einer allgemeinen Unfreiheit, vor allem im Vergleich zu gleichaltrigen Tunesiern und Ägyptern.
Wie kann ein solches Gefühl in ein isoliertes Land wie Libyen vordringen?
Dittmann: Internet und Handys funktionieren, wenn auch eingeschränkt. Man muss zwei Dinge bedenken: Erstens ist Libyen mit 6,3 Millionen Einwohnern ein ziemlich kleines Land. Zweitens liegt die libysche Küste nicht weit von Lampedusa und Sizilien entfernt. Das schafft virtuelle Ausweichmöglichkeiten, wenn das Regime Verbindungen kappt. Es ermöglicht auch einen Austausch unter Jugendlichen in Libyen, Ägypten und Tunesien.
Welche Rolle spielen die Stämme?
Dittmann: Es gibt unzählige Ethnien in Libyen, aber grob kann man unterscheiden: Rund um die zweitgrößte Stadt Bengasi lebt die strenggläubige Senussi-Brüderschaft. Ihr Oberhaupt war König Idris, den Gaddafi 1969 stürzte. Für die Senussi setzt Gaddafi den Islam nicht strikt genug um – obwohl man keinen Alkohol kaufen kann und Strafen oft drakonisch sind. Aber die Islamisten stört vor allem, dass Gaddafi die Frauengleichberechtigung durchgesetzt hat.
Wie groß ist die Gefahr eines islamistischen Regimes nach Gaddafi?
Dittmann: Der Islamismus in Libyen ist viel gefährlicher als in Ägypten oder Tunesien. Seit Gaddafis Machtergreifung war nur der radikale Islam eine Bedrohung für das Regime. Im Westen übersieht man nun diesen Aspekt wegen Gaddafis Menschenrechtsverletzungen. Aber ob im Kampf gegen Islamismus oder im grausamen Auslagern europäischer Flüchtlingsproblematiken ins Innere von Afrika – es war praktisch für Europa, einen Diktator wie Gaddafi zu haben.
Erschienen im Falter 8/2011