Monatsarchiv: Dezember 2010

Budapest revisited

Ungarn hat ihn einst vertrieben und ächtet ihn heute wieder. Der Journalist Paul Lendvai führt durch die Stadt seiner Jugend

Porträt: Joseph Gepp, Budapest

Wie wird wohl die Wohnung von Professor Paul Lendvai aussehen, dieses großen alten Erklärers von Osteuropa?

Man denkt vielleicht an einen massiven Holzschreibtisch mit schwerer Messinglampe mitten im Zimmer. Teure Teppiche werden wahrscheinlich an den Wänden hängen, und natürlich laufmeterweise Bücher.

Doch in Lendvais Wohnung im 13. Budapester Bezirk, der Neuleopoldstadt, fehlen diese Insignien von Altersweisheit. Sie ist gediegen, ja. Parkettböden, zwei moderne Gemälde in antiken Rahmen, Fensterblick durch einen tiefverschneiten Park direkt auf die Donau. Aber es fehlt die Überfülle an Erinnerungen, wie sie sonst die Wohnorte alter Menschen ausmacht. Es fehlt der Status, das Gesetzte, das Erreichte. Erst vor drei Monaten sei er hier eingezogen, erzählt der 81-jährige Lendvai. Die Wohnung habe ihm gefallen. Jetzt verteilen sich seine Sachen auf Wien und Budapest, und was er gerade suche, sei immer in der anderen Stadt, scherzt er. Seine Frau Zsóka reicht inzwischen Schwarztee und entschuldigt sich dafür, dass kein Zuckerstreuer da sei und man sich daher aus einer Schüssel bedienen müsse.

Es ist heute noch ein Leben der Umbrüche, das Paul Lendvai führt. Dreimal hat er bereits den Wohnort gewechselt, seit er sich nach der Wende wieder phasenweise in der ungarischen Hauptstadt niederließ. Fünf- oder sechsmal im Jahr kommt das Ehepaar nach Budapest, die meiste Zeit lebt es nach wie vor in Wien.

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Lendvai am Schreibtisch seiner Wohnung
Foto: Heribert Corn

Budapest ist Wiens Zwilling, das gründerzeitliche Pendant, der Konkurrenzentwurf, in derselben Epoche gebaut und doch einen Tick imposanter. Von der Straßenbahnoberleitung bis zum Kanaldeckel strotzt alles in dieser Stadt vor Zierrat und Schnörkel, mehr noch als in Wien. Das liegt daran, dass in Budapest immer nur geflickt und ausgebessert wurde – kein Wirtschaftswunder wie im Westen zog Autobahnarme über historische Plätze und opferte Palais dem Verkehrsfluss. Der ungarische Kommunismus hat, konträr zu anderen Ostblockstaaten, die großbürgerlich-elegante Anmutung der Stadt eher konserviert als zerstört. Ab dem 1. Jänner wird sie Kulisse für die große Politik und die europäischen Staatschefs sein. Dann übernimmt Ungarn von Belgien für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union.

Eine stabile EU-Präsidentschaft
Das regierende Parteienbündnis Fidesz-KDNP (Ungarischer Bürgerbund/Christlich-Demokratische Volkspartei) unter Ministerpräsident Viktor Orbán rühmt sich, dass nach dem fragilen Belgien nunmehr eine stabile Regierung der EU vorstehe. Das stimmt unbestreitbar, verfügt doch die rechtskonservativ-populistische Fidesz seit den letzten Wahlen im April über eine Zweidrittelmehrheit.

Doch Ungarns Problem ist nicht die Stabilität seiner Regierung. Sondern, wie sie diese Stabilität nützt. So änderte sie seit April mit ihrer Mehrheit umstandslos die Verfassung, beschnitt die Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofs, die Medienfreiheit, das Pensionssystem. „Halbautoritär“ nennt Paul Lendvai die Stoßrichtung. Ungarn sei „vom Schrittmacher zum Krisenherd“ geworden, liest man in dicken Lettern auf dem Umschlag seines nunmehr 15. Buchs, „Mein verspieltes Land“. Darin setzt er sich auch mit der Fidesz-Regierung auseinander. Die aber sieht Kritik nicht gern. Nicht lange nach Erscheinen des Buchs will eine staatsnahe Zeitung aufgedeckt haben, dass Lendvai in den 80er-Jahren als freiwilliger Informant den Kommunisten gedient habe. „Absurde und lächerliche Vorwürfe“, nennt das der langjährige ORF-Moderator und Korrespondent der Financial Times. Er bemüht sich, die Angelegenheit locker zu nehmen: „Es ist gut für die Verkaufszahlen meines Buchs und schlecht für meinen Blutdruck.“

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Foto: Heribert Corn

Näher, als die Österreicher meinen
Wer die Vorwürfe verstehen will, wer dieses Land begreifen will, dass an Österreich grenzt und doch so weit entfernt scheint, der sollte die Geschichte dieses Mannes kennen. Denn Paul Lendvai ist Symbol für die jahrhundertealte Verbindung der beiden Staaten, die der Eiserne Vorhang durchtrennte. Er ist der Letzte, der publikumswirksam darauf aufmerksam macht, dass Europas Osten geografisch viel näher an Wien liegt, als die Österreicher meinen. Und dass die Bewohner des heutigen Österreichs immer Teil jenes speziell mitteleuropäischen Völkergemischs waren, das so viele Potenziale und Gefahren hervorbrachte – was heute wie aus dem heimischen Gedächtnis getilgt scheint.

Fast alle kennen Lendvais Gesicht und seinen markanten Akzent aus dem Fernsehen. Viele lesen seine Texte, die er für verschiedene Zeitungen schreibt. Aber nur wenige wissen, dass Lendvai in seinem langen Leben nahezu alle Erschütterungen im unruhigen Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren musste.

Hier in Budapest entwischte er, gerade dem Kindesalter entwachsen, mit knapper Not den ungarischen Nationalsozialisten, die ihn verfolgten, weil er Jude ist. Hier sperrte ihn das neu errichtete kommunistische Regime ins Gefängnis, kaum dass der Krieg vorbei war. Hier floh er, als sich sowjetische Panzer 1956 durch die Straße vor dem Elternhaus einen Weg in die Innenstadt freischossen, durch Kellergewölbe.

Den Keller kann er heute nicht mehr betreten. Vor dem Stiegenabgang hat jemand ein versperrtes Gitter angebracht, das Hausfremde abhält. Paul Lendvai – er wirkt kleiner als im Fernsehen, sein Gang ist etwas schleppend, aber zielstrebig – blickt kurz durch die Stäbe auf die Wendeltreppe, die Postkästen, den Hinterhof. Er dreht sich gleich wieder um. „Es schaut alles ganz anders aus als früher“, sagt er.

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Foto: Heribert Corn

Hier, in dem grauen Altbau in der Üllöi utca 53a, im neunten Bezirk, der Franzstadt, wurde Paul Lendvai am 24. August 1929 als Einzelkind geboren. Aber das Haus gehört zu einer Zeit, die in seinem Leben schon lange keine Rolle mehr spielt. Bereits Mitte der 60er-Jahre holte sich die kommunistische Regierung die Elternwohnung zurück, weil die verwitwete Mutter dem Sohn nach Österreich gefolgt war. Neonfarbene Buchstaben auf der Fassade werben heute für ein Solarium mit Fitnessstudio.

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Foto: Heribert Corn

Binnenzuwanderer aus Großungarn
Im zweiten Stock lebte die Familie Lendvai, der Vater ein Anwalt aus der Ostslowakei, die Mutter aus Siebenbürgen, beide Binnenzuwanderer aus Großungarn. Dicke Schneeflocken wirbeln auf Lendvais schwarze Kappe, als er wieder auf die Straße tritt. Während des Ungarnaufstands von 1956 habe die Familie ganze Tage im Keller verbracht, erzählt er, die Hände in der Winterjacke vergraben. In der Üllöi utca tobten die härtesten Kämpfe der Stadt. Oben seien die Sowjetpanzer gerattert, unten krochen der damals 26-jährige Paul und seine Eltern durch miteinander verbundene Kellergänge aus der lebensgefährlichen Zone.

Einige Ecken weiter steht die Synagoge, die Lendvai als Kind mit seiner religiösen Mutter besuchte – der agnostische Vater sei derweil im Kaffeehaus gesessen, erzählt Lendvai. Als Kind spielte er auf dem Vorplatz des Gotteshauses. Jetzt darf man nur noch durch einen Metalldetektor hinein. Die Synagoge in der Páva Utca beherbergt heute das Budapester Holocaust-Museum. Monolithische graue Trakte, die Museumsräume einfassen, umgeben das alte Bethaus wie Festungsmauern.

Bis in die 40er-Jahre war jeder fünfte Budapester jüdischen Glaubens. Die Hälfte davon, etwa 100.000 Menschen, wurde ermordet – in kürzester Zeit und mit unbarmherziger Planmäßigkeit. Ungarns Judenverfolgungen begannen erst im Spätherbst 1944, als die Pfeilkreuzler, die vom Deutschen Reich unterstützten ungarischen Nationalsozialisten, die Macht ergriffen. Paul Lendvai überlebte die folgenden Monate in einem schlichten grauen Wohnblock unweit seines heutigen Appartements in der Neuleopoldstadt.

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Foto: Heribert Corn

Es war eines von 125 sogenannten Schutzhäusern, wie sie in Budapest von neutralen Staaten, etwa der Schweiz, Schweden und dem Vatikan, errichtet worden waren. 50 Leute vegetierten in einer Zweizimmerwohnung dahin. Lendvais Vater Andor hatte einen Schweizer „Schutzpass“ und damit eine Wohnerlaubnis ergattert. Ob der Pass überhaupt echt war, weiß der Sohn bis heute nicht. Der Zufall – ein im richtigen Moment vorgewiesener Zettel, ein Biegen um die Straßenecke im richtigen Augenblick – entschied jedenfalls über Tod oder Leben der Familie. „Karneval des Todes und der Hölle“ nennt Lendvai in einem seiner Bücher den Winter 1944.

Neue Pfeilkreuzler marschieren

Heute scheint es bisweilen, als würden die bösen Geister dieses Höllenkarnevals wiederauferstehen. Vor drei Jahren gründeten hunderte Rechtsextreme unter dem Amtssitz des Staatspräsidenten auf der Budaer Burg die Ungarische Garde. Sie marschierten in Springerstiefeln, trugen Uniformen und schwenkten Fahnen der alten Pfeilkreuzler. Es sei, als würden „2000 Neonazis einen Eid vor dem Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten in Berlin ablegen“, meinte der ungarische Regisseur László Kornitzer. „Weit und breit wäre kein Polizist zu sehen. Die Zeremonie würde zwei Stunden dauern, dann würden die Nazis abmarschieren, unbehelligt, mit unbekanntem Ziel.“

Die Garde steht der rechtsextremen Jobbik-Partei nahe, die im April drittstärkste Kraft im Parlament wurde. Immer heftiger dringt ihr radikales, oft verschwörerisches Gedankengut in den Diskurs der ungarischen Mitte. Schuld daran ist auch die Politik der großen Parteien: Die Sozialisten etwa, Regierungspartei bis zu Orbáns Machtantritt, gelten als zerstritten und korrupt. Ihre Misswirtschaft führte fast zum Staatsbankrott. 2008 konnte dieser nur mit einem internationalen Notkredit von 20 Milliarden Euro abgewendet werden. Mittlerweile war Ungarn in Sachen Budget, Wachstum und Arbeitsmarkt längst hinter Staaten wie Polen, Tschechien oder die Slowakei zurückgefallen – jener reformfreudigen Riege ehemaliger Ostblockländer, der die einst „fröhlichste Baracke im Ostblock“ stets als Vorbild gedient hatte.

Jetzt zeigt sich das wirtschaftliche Versagen immer stärker auch in der politischen Sphäre. Dammbrüche in der Wortwahl lösen einander ab, immer niedriger sind die Hemmschwellen, was demokratische Standards betrifft. Treibende Kraft in den Augen vieler ist die mächtige Zweidrittelpartei Fidesz, die im April die immens geschrumpften Sozialisten als Regierungspartei ablöste.

„Es sei Friede, Freiheit, Eintracht“
Als „Revolution“ bezeichnen die Rechtspopulisten ihren Wahlsieg. Die vorherige Regierung boykottieren sie, nennen sie „illegitim“. Ein „System der nationalen Einheit“ setzt neuerdings Staats- und Parteiinteressen gleich. Und ein gerahmtes Spruchband mit dem Satz „Es sei Friede, Freiheit und Eintracht“ ist seit kurzem in allen Ämtern Vorschrift.

Dazu kommen fragwürdige Wirtschaftsreformen, etwa bei privaten Pensionskassen oder der Besteuerung bestimmter Handelsbranchen. Kurzfristig sollen sie das enorme Budgetdefizit kaschieren, langfristig fürchten Ökonomen um die Stabilität des Landes. Deshalb stellte die US-Ratingagentur Moody’s Anfang Dezember Ungarns Kreditwürdigkeit auf dieselbe Stufe wie die eines Landes, das wegen seiner Zahlungsschwierigkeiten deutlich öfter mediale Aufmerksamkeit erregt: Irland.

Wer gegen Fidesz ist, ist gegen das ganze Land – so hört man es in Ungarn derzeit oft. Fidesz will die wahre Erbin jener Freiheitskämpfer sein, die 1956 gegen die russisch-kommunistische Fremdherrschaft aufbegehrten und grausam geschlagen wurden. Die echte Wende, so die große Erzählung der Parteiideologen, habe es auch 1989 nicht gegeben – sie sei von den Sozialisten gekapert und erst im April 2010 tatsächlich durchgezogen worden. In dieses Gedankengebäude passt natürlich gut, dass einer wie Paul Lendvai in Wahrheit ein Spion des kommunistischen Regimes sein soll.

Dabei war Lendvai selbst Opfer der stalinistischen Säuberungen. Es war eine Winternacht 1952, als ihn zwei Polizisten in einen Wagen russischer Bauart steckten und mit ihm davonfuhren. Es folgten drei Jahre an Gefängnisaufenthalten, Verhören und Berufsverbot.

Zuvor war Paul Lendvai Journalist geworden – und überzeugter Kommunist. Er schrieb Propagandaartikel, für die er sich heute schämt, wie er in seiner Autobiografie schreibt. In eine „journalistische Scheinwelt“ habe er sich begeben, meint er, in eine „dialektisch verbogene Wirklichkeit“. Lendvai schimpfte im Namen der Staatsideologie auf den internationalen Zionismus oder Titos Jugoslawien, das sich von Stalin abgewandt hatte. Schließlich holten die ungarischen Schergen des roten Zaren dann auch ihn ab.

Das Gefängnis, in das sie ihn brachten, existiert noch heute. Es steht auf der anderen Donauseite, in der Fö Utca in Buda. Es ist ein wuchtiger, klischeehaft abweisender Bau.

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Foto: Heribert Corn

Das eisenbeschlagene Einfahrtstor sei heute dasselbe wie damals, sagt Lendvai. Durch den Fensterschlitz seiner Zelle in der politischen Abteilung habe er die Kinder im Park gehört.

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Foto: Heribert Corn

Das Essen sei praktisch ungenießbar gewesen, gekochte Wurzeln und trockenes Brot. Drei Jahre nach Paul Lendvais Entlassung aus der Haft wurde im selben Gebäude der Führer des ungarischen Volksaufstands von 1956, Imre Nagy, zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Aus einem „Amalgam“, einer diffusen Mischung aus Gerüchten und Halbwahrheiten, habe ihm das Regime damals einen Strick gedreht, sagt Paul Lendvai. Ein Amalgam, wie es auch die heutige Regierung gegen ihn verwende. So zum Beispiel bezieht sich die Fidesz-nahe Zeitung Heti Válasz in ihrer Lendvai-Kampagne darauf, wie dieser in den 80er-Jahren für den ORF mit Ungarns Behörden um Drehgenehmigungen feilschte. „Ein Unsinn, daraus abzuleiten, dass ich Informant war“, sagt Lendvai. „Wer jemals als Journalist in einer Diktatur gearbeitet hat, der weiß, wie hier jede Kleinigkeit zur Verhandlungssache wird. Wie man die Behörden ständig beschwichtigen und beruhigen muss.“

Für andere Ungarn-Experten – zum Beispiel den Politologen Anton Pelinka oder den Ökonomen Sándor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche – passt die Causa zu weiteren Fällen, in denen Ungarns Regierung mit Kritikern ähnlich verfuhr. Im Fall Lendvai, so Richter, trete es nur für Ausländer offen zutage, weil Lendvai eben im Ausland tätig sei. Fidesz-Politiker selbst wiegeln ab, wenn man sie auf die Causa anspricht: Die Geschichte entstamme einem „freien Medium“ und habe mit Parteiinteressen nichts zu tun.

„Die politische Kultur Ungarns ist eine Hasskultur“, sagte der Schriftsteller György Dalos. Paul Lendvai nennt den Zustand der Nation in seinem neuen Buch den „kalten Bürgerkrieg“. Seit den großen Demonstrationen gegen die Regierung von 2006 und dem Fastbankrott 2008 scheint die ungarische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten. Die Bereitschaft zum Fanatismus ist größer. Das kann etwa Journalisten treffen, die das Land „nicht ständig in ein schlechtes Licht rücken sollen“, wie ein Fidesz-Politiker bei einem Hintergrundgespräch ausführt. Das betrifft Plattformen im Internet, die mit rechtsradikalen Hasstiraden sehr viele Ungarn erreichen. Es kann sich aber auch auf oppositionelle Politiker und Andersdenkende beziehen.

Besonders nach dem Ende der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft Mitte 2011 empfehle es sich, auf die Entwicklungen im Land zu achten, sagt Paul Lendvai. Denn dann schaue sonst niemand mehr hin. Zu diesem Zeitpunkt sei der Weg frei für noch umstrittenere Maßnahmen. Zum Beispiel für Strafverfahren gegen Oppositionspolitiker.

Warschau, Prag, Wien, Budapest
Es war der 12. Jänner 1957, im Jahr nach dem Aufstand. Für Paul Lendvai, damals 27 Jahre und Redakteur beim kommunistischen Abendblatt, steht die erste Auslandsreise seines Lebens an. Sie führt ihn nach Warschau, danach soll er mit Zwischenaufenthalten in Prag und Wien nach Budapest zurückkehren. Das vergilbte Ticket der ungarischen Fluglinie Malev besitzt er bis heute. Lendvai reist wie vorgesehen nach Warschau, fliegt dann weiter nach Prag und Wien.

Am 4. Februar 1957 tritt er dort aus dem Flughafengebäude in Schwechat und fängt ein neues Leben an.

Montagabend vor Redaktionsschluss beschloss die Fidesz-Mehrheit im Parlament ein umstrittenes neues Mediengesetz. Es sieht unter die Auflösung autonomer Redaktionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor. Eine mächtige Medienkontrollbehörde für Zeitungen wird außerdem von einer Fidesz-Vertrauten auf neun Jahre geleitet, also für zwei Legislaturperioden. Was den EU-Vorsitz im ersten Halbjahr 2011 betrifft, plant Ungarn einen Fokus auf Energieunabhängigkeit von Russland, eine koordinierte Entwicklung des Donauraums und neue Ansätze in der Roma-Frage, etwa im Zensuswesen

Zur Person
Paul Lendvai, 81, Journalist, gilt als profunder Kenner Osteuropas. 1944 wurde er von den Nazis verschleppt, 1953 von den Kommunisten inhaftiert, 1957 Flucht nach Österreich. Hier wurde er 1982 ORF-Osteuropa-Chef und Korrespondent der „Financial Times“. Heute schreibt er für den „Standard“, moderiert das „Europastudio“ und gibt die „Europäische Rundschau“ heraus. Autor zahlreicher Bücher, etwa zu den Themen Ungarn, Österreich, Jugoslawien, Antisemitsmus

Paul Lendvai:
Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch. Ecowin Verlag.
272 S. € 23,60

Erschienen im Falter 51/2010

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Ein Kommentar

Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Ungarn

Gottes volle Häuser

Während Katholiken kaum noch in die Messe gehen, brauchen andere Christen dringend Platz. Jetzt sollen Wiener Kirchen verschenkt werden. Über religiöse Wirren in einer unübersichtlichen Zeit

Reportage: Joseph Gepp

Jeden Sonntag kurz vor elf füllen sich die ruhigen Gassen Neulerchenfelds in Ottakring mit dichtgedrängten, schwatzenden und aufgeputzten Menschen.

Sie strömen massenhaft in die Kirche. Junge Frauen wippen Babys in ihren Armen, um jene der älteren baumeln Handtaschen. Stöckelschuhe klappern auf dem Asphalt, dutzendweise dunkle Regenschirme stemmen sich gegen das nasskalte Wetter. Eine Viertelstunde dauert der Auflauf, dann wird es wieder ruhig – drinnen hat die Messe begonnen und hinter dem letzten Kirchgänger ist die Tür zugefallen.

Rund 750 Wiener Polen kommen jedes Wochenende zum polnischsprachigen Gottesdienst in die Neulerchenfelder Kirche, sagt der aus Krakau stammende Priester Tadeusz Cichon, 52. Dann wird der unauffällige, zweitürmige Bau im Multikultigrätzel um den Brunnenmarkt wieder zu dem, was er zuletzt vor vielen Jahrzehnten war: zum Mittelpunkt eines Viertels. Beim Betreten des Kirchenraums verbeugen sich die Polen mit gewohnheitsmäßiger Inbrunst. Die Menschenmenge staut sich bis nach hinten zur Eingangstür. Weil an einen Sitzplatz nicht zu denken ist, haben manche alte Frauen sogar Klappsessel mitgebracht. Aus allen Teilen Wiens würden Polen in seine Kirche kommen, sagt Cichon, ein dunkelhaariger, hagerer Mann in Soutane. Es sei ganz anders als zwei Stunden zuvor, wenn er die Messe auf Deutsch liest. Dann kommen die angestammten Ottakringer. Und es sind höchstens ein paar Dutzend, und keine 750.

Die Früh-, nicht die Spätmesse ist Normalität in Wiens Kirchen. Denn wenn die Polen nicht gerade in Neulerchenfeld beten, bleiben die 172 Wiener Pfarrkirchen meist ziemlich leer. Sie seien „an Anzahl und Größe unter anderen Verhältnissen gebaut“ worden, meinte unlängst Kardinal Christoph Schönborn. Leicht entrückt und manchmal baufällig stehen die repräsentativen Bauwerke in den Straßen einer Stadt, deren Anteil an Katholiken in einem halben Jahrhundert von knapp 90 auf 45 Prozent gesunken ist – und selbst davon besucht nur eine Minderheit Gottesdienste. Es sei denn, es handelt sich um zahlenmäßig starke katholische Einwanderergruppen.

Hauptsächlich Wiens rund 36.000 Polen und 50.000 Kroaten praktizieren noch den Katholizismus im großen Stil. Sie besuchen durchwegs muttersprachliche Messen, die in zehn polnischen und zwei kroatischen Kirchen der Stadt gelesen werden. Hier stimmt noch das Verhältnis zwischen Bauwerk und Nutzung. Doch gerade hier will die Erzdiözese nun sparen.

Ausgerechnet Tadeusz Cichons Neulerchenfelder Kirche soll aufgelöst und den orthodoxen Serben für deren Gottesdienste geschenkt werden. Das habe ihm die Diözese Wien im Oktober überraschend mitgeteilt, erzählt der Priester nach der Messe im Pfarrsaal. „Man will unsere starke Gemeinde zerreißen.“ Im Juni 2011, so der Plan, soll die Polengemeinde mit einer anderen Kirche in der Hasnerstraße zusammengelegt werden, einen halben Kilometer stadteinwärts. Sie heißt Maria Namen, ist ein 70er-Jahre-Stahlbetonbau und kleiner als jene in Neulerchenfeld.

oesis

polen


Sonntag, 9.30 Uhr, Kirche Neulerchenfeld: Tadeusz Cichon liest
die Messe auf Deutsch für einige wenige Österreicher …
und eineinhalb Stunden später liest er sie für Polen in
polnischer Sprache. Vor vollem Haus

Fotos: Heribert Corn

150.000 Serben in Wien würden sich bisher drei kleine Kirchen teilen, rechtfertigt Erich Leitenberger, Sprecher der Diözese, die Entscheidung. „Unter diesen Umständen ist es klar, dass die katholische Kirche die serbisch-orthodoxe unterstützt.“ Gerade in Ottakring leben besonders viele Serben. Und gerade Cichons Gläubige würden sich als „Personalgemeinde“ eher auf die Person des populären Pfarrers konzentrieren als auf das Kirchengebäude.

Die Polen laufen trotzdem gegen den Beschluss Sturm. Die biografischen Höhepunkte der religiösen Leute würden in der Neulerchenfelder Kirche stattfinden, sagt der Messbesucher Mariusz Wilk, 41. Hochzeitsfotos werden hier geknipst, Babys weinen nach der Taufe – es sind Ereignisse, die sich tief ins kollektive und individuelle Gedächtnis eingraben. „Die Gläubigen in Neulerchenfeld sind wie die Bäume hier im Hof“, sagt Wilk und zeigt aus dem Pfarrhoffenster. „Sie schlagen Wurzeln. Man kann sie nicht einfach wegschieben.“

Im November protestierte Wilk mit 150 anderen Polen am Stephansplatz gegen Schönborns Entscheidung und schwenkte ein Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, Symbolfigur des wehrhaften polnischen Katholizismus. „Die Leute engagieren sich in Neulerchenfeld“, sagt der Mann mit der sorgfältig gebundenen Krawatte. „Ich selbst habe mitgeholfen, die Fußlatten vor den Kirchenbänken zu lackieren.“ Der Messbesuch gebe ihm Kraft für die ganze Woche, sagt Wilk. „Andere tanken am Wochenende beim Skifahren Energie. Ich gehe in die Messe.“

Der Kirchenstreit in Ottakring könnte der erste von vielen sein. Denn die katholische Kirche will oder kann sich den Betrieb der „unter anderen Verhältnissen“ errichteten Bauwerke allmählich nicht mehr leisten. Gleichzeitig haben christlich-orthodoxe Einwanderergemeinden, hauptsächlich Serben und Orientalen, Bedarf an Gotteshäusern. Einst war der Katholizismus Identitätsstifter mit Alleinstellungsmerkmal, mussten andere Konfessionen per staatlichem Toleranzpatent vor ihm geschützt werden. Heute betont Sprecher Leitenberger, dass Katholiken und Orthodoxe „nahezu alle Glaubensüberzeugungen teilen“.

Schon 1974 überantwortete man erstmals eine Kirche an eine andere Konfession – die christlich-orthodoxen Syrer übernahmen die alte Lainzer Pfarrkirche. Was damals noch großzügige Gabe war, ist heute Teil eines strategischen Rückzugs. Neben Neulerchenfeld könnten vier bis fünf weitere Kirchen an orthodoxe Gemeinden übergeben werden, kündigte Dompfarrer Anton Faber im Kurier an. Konkret spekuliert wird über ein Gebäude in Favoriten, ebenfalls für die Serben.

Serbisch geprägt ist auch der Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus. Wer vom Westbahnhof den Gürtel hinunter geht, passiert hintereinander das Büro einer serbischen Zeitung und das Café Novi Beograd. Dahinter taucht unvermittelt Maria vom Siege auf, eine der imposantesten Kirchen Wiens.

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Maria vom Siege
Foto: Corn

1875 von Friedrich von Schmidt, Architekt des Rathauses, vollendet, steht der zweithöchste Kuppelbau der Stadt heute verloren neben den vielbefahrenen Gürtelspuren. Auch er hätte im Vorjahr – noch vor Neulerchenfeld- den Serben übergeben werden sollen. Doch der Plan scheiterte. Anders als Tadeusz Cichon kam jedoch Pfarrer Bruno Meusburger dabei keine vielköpfige Gemeinde zur Hilfe. Es war der Denkmalschutz, der sein Veto einlegte.

Meusburger, 41, sitzt im Pfarrbüro neben der Kirche. So beflissen er von „kältebedingter Sprengwirkung“ und „faulem Stein“ redet, könnte man auch einen Bautechniker vor sich haben, wären nicht Soutane und schwarze Kappe. Meusburgers prachtvolle Kirche mit ihren Erkern und Ziertürmen fällt allmählich auseinander. Seit einem Jahr schützt ein Gerüst um Maria vom Siege Passanten vor herabstürzenden Trümmern. Weder Pfarre noch Diözese würden die zehn Millionen Euro für die Renovierung aufbringen können, sagt der Geistliche. Da kam es recht, dass orthodoxe Kirchen immer wieder um Gebäude anfragten. „Die Serben hätten die Kirche renoviert und dafür als Geschenk erhalten.“

Wie die Neulerchenfelder Polen habe auch seine Gemeinde „traurig und gelähmt“ reagiert, erzählt Meusburger. Einige Gläubige baten sogar in einer Gebetsgruppe um göttlichen Beistand. Nach einem halben Jahr kam er in Form eines Bescheids durch das Bundesdenkmalamt.

Die Altäre seien ebenso schützenswert wie die gründerzeitlichen Sitzbänke, erklärte die Behörde. Die Orthodoxen, die ihre Messen stehend zwischen Ikonen feiern, hätten das Interieur aber abgerissen. Also wurde die Übergabe abgesagt.

Was Meusburger persönlich freut, ändert freilich nichts am Grundproblem. Hinter dem Gerüst zerbröselt Maria vom Siege weiter. Vor allem Ziegelsteinkirchen aus dem 19. Jahrhundert seien gefährdet, sagt der architektonisch versierte Pfarrer – neben seiner gibt es davon 24 weitere in Wien. Immer öfter müssten Bauteile entfernt werden, um Einstürze zu vermeiden.

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Pfarrer Meusburger in seiner Kirche
Foto: Corn

Exakt acht Jahrhunderte liegen zwischen der ältesten und der jüngsten Kirche Wiens – der 1200 erwähnten Ruprechtskirche am Schwedenplatz und der im Jahr 2000 geweihten Kirche in der Donau City. Dazwischen stellt sich bei immer mehr Gotteshäusern die Frage nach der Zukunft.

Eine Umwandlung in nichtsakrale Orte, in Restaurants oder Discos, lehnt die Erzdiözese ab. Ebenso wenig will man Gebäude an nichtchristliche Religionen verschenken, etwa Hindus oder Moslems, sagt Sprecher Leitenberger. Dafür liegt zumindest ein Grund auf der Hand: Während Übergaben an Christen relativ unbemerkt über die Bühne gehen, mag man sich den Proteststurm bei der Verwandlung einer Kirche in eine Moschee kaum ausmalen – offenbar gilt dem durchschnittlichen Österreicher etwa ein islamischer Ägypter als größere Gefahr als ein christlicher.

Dabei würde so mancher in der Markuskirche im 22. Bezirk auf den ersten Blick wenig Unterschied bemerken. Arabischer Gesang mit deutschen Passagen klingt durch das Gebäude. Weihrauchschwaden stehen so dick in der Luft, dass man meint, sie müssten sich wie Vorhänge heben, wenn man durch den Innenraum geht.

Von außen sieht die Markuskirche wie eine Dorfkirche aus, würde sich nicht gleich dahinter die Uno-City erheben. Schon seit den 70ern feiern die Kopten, christlich-orthodoxe Ägypter, hier Messen. 2004 übernahmen sie das Haus endgültig. Drinnen sitzen links die Männer, rechts die Frauen. Einen Altar wie in katholischen Gotteshäusern sieht man keinen, dafür teilt eine Ikonostase, die Ikonenwand, den Innenraum. Aus ihr tritt ein Priester mit Vollbart und golddurchwirktem Ornat und schwenkt ein Weihrauchfass.

Nein, es habe bei der Übernahme durch die Kopten keinerlei Widerstand gegeben, sagt Kirchensprecher Leitenberger. Und Anba Gabriel, koptischer Bischof für Wien, fügt hinzu, dass man ein paar Adaptionen vornehmen hatte müssen, um die Kirche für orthodoxe Zwecke umzurüsten. Neben der Ikonostase wurde ein Taufbecken installiert, Statuen durch Ikonen ersetzt und die Position der Kirchenbänke verändert.

Tadeusz Cichons Gemeinde in Ottakring zeigt Verständnis, wenn man sie etwa auf die Kopten anspricht – prinzipiell. Man sehe das Problem der leeren Kirchen, sagt Janusz Urbaniec, Messbesucher und Theologe. Trotzdem werde man hier „alle Mittel bis zum Hungerstreik“ ausschöpfen, um die Diözese zur Revision der Entscheidung zu bewegen. Und überhaupt: Warum biete man den Serben nicht Maria Namen in der Hasnerstraße an, jene Kirche, in die die widerwillige Polengemeinde 2011 ersatzweise übersiedeln muss?

Ja, warum eigentlich nicht?

Maria Namen den Serben zu übergeben wäre keine optimale Lösung, antwortet Diözesensprecher Erich Leitenberger. Gegenüber der Kirche hat sich nämlich der alte Kriegsfeind einquartiert. Dort liegt ein bosnisch-islamisches Zentrum.

Große Austrittswelle
„Seit der Nazizeit“ seien nicht mehr so viele ausgetreten, sagte Kardinal Schönborn vergangene Woche. Für 2010 rechnet er mit 80.000 Menschen, die die Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen ziehen. 2009 waren es rund 50.000

Kleine Kirchenkunde
Religionsverteilung der im Text vorkommenden Staaten und Nationalitäten:

Österreich 1951
89 % Katholiken 6,2 % Evangelische

Österreich 2009
66 % Katholiken 3,9 % Evangelische
4,2 % Muslime

Polen
95 % Katholiken (davon 54 % praktizierend)
1,3 % Polnisch-Orthodoxe

Serbien
85 % Serbisch-Orthodoxe 6 % Katholiken
3 % Muslime

Kroatien
88 % Katholiken
4 % Serbisch-Orthodoxe

Ägypten
90 % Muslime
circa 10 % Koptisch-Orthodoxe

Bosnien
44 % Muslime,
31 % Serbisch-Orthodoxe
17 % Katholiken

Syrien
75 % Muslime
15 % Syrisch-Orthodoxe

Erschienen im Falter 51/2010

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Müssen Sie nun zu den serbischen Mördern zurück, Herr Mirilo?

Jovan Mirilo schickte das Srebrenica-Video nach Den Haag – und musste aus seinem Heimatland Serbien nach Österreich fliehen. Von hier sollte er, obwohl mit Preisen bedacht, samt Familie abgeschoben werden. Eine Entscheidungsgrundlage für den negativen Bescheid war ein anonymes und diffamierendes Gutachten des Innenministeriums. Nach Protesten sagte das Innenministerium zu, doch nicht abzuschieben und den Asylfall neu aufzurollen (Falter 5/10).

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Beinahe in die Lebensgefahr abgeschoben: Jovan Mirilo
Foto: Katharina Gossow

„Meine Anwältin hat eine Beschwerde gegen das Gutachten eingebracht, die jetzt am Asylgerichtshof geprüft wird. Wir sind optimistisch, weil wir wissen, dass diese Prüfung nicht so voreingenommen ist, wie es davor das Gutachten war. Wir hoffen, dass die Prüfung noch im Jänner 2011 abgeschlossen sein wird. Und wenn wirklich alles gutgeht, bekommen wir danach noch im selben Monat den positiven Asylbescheid. Dann können wir uns endlich ein normales Leben aufbauen. Momentan ist es nämlich nicht einfach. Vor kurzem haben wir unsere Mietwohnung verloren. Im letzten Moment, bevor wir auf der Straße standen, fanden wir dann eine neue. Sie liegt in Meidling. Das ist gut, weil unsere kleine Tochter in der Nähe in die Schule geht.“

Nachfrage: Joseph Gepp

Die ganze Geschichte:
Der verratene Held vom Februar 2010

Erschienen im Falter 51/2010

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Lehrersprechtag

Österreichs Pisa-Ergebnisse sind ein Desaster. Nun soll eine Reform der Lehrerausbildung die Zukunft unserer Kinder retten: Bloß, was macht einen guten Lehrer eigentlich aus? Wir haben bei unseren Lieblingslehrern nachgefragt

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Irene Trost, 63, unterrichtete 42 Jahre lang Deutsch für die erste Leistungsgruppe der Hauptschule in Wolkersdorf, Niederösterreich. Sie ging 2002 in Pension
Foto von Heribert Corn

Von sich selbst Leistung verlangen, bevor man sie von Schülern erwartet

Zum letzten Mal sah ich meine Deutschlehrerin Irene Trost bei meinem Hauptschulabschluss 1996. Ich erlebte sie damals als jemanden, der gleichzeitig streng und wohlmeinend war – ein Grat, den nicht viele Lehrer meistern. Sie vermittelte Begeisterung und gebot zugleich jenen Respekt, der nötig ist, damit der Schüler auch lernt, was er nicht unbedingt lernen will. Daraus folgte, dass ich bei Trost ziemlich viel gelernt habe.

„Was einen guten Lehrer ausmacht? An erster Stelle Humor, eine Eselsgeduld, eine hohe Reizschwelle. Letztere braucht man, damit man sich nicht schnell provoziert fühlt. Und mit Humor soll man auf die vielen komischen Situationen in einem Klassenraum reagieren. Mit den Kindern zu lachen, manchmal auch über sich selbst, ist wichtig. Dafür muss man auch im Privatleben ausgeglichen sein. Man benötigt psychische Freiheit, darf nichts in die Schule mitnehmen. Ein guter Lehrer verlangt von sich selbst Leistung, bevor er sie von Schülern erwartet. Er setzt sich nicht blind durch, sondern zeigt: Ich arbeite für euch, ich helfe euch. Begeisterung stellt sich dann von alleine ein.

Ein guter Lehrer muss auch bereit sein, von jungen Kollegen zu lernen. Einmal zum Beispiel organisierte eine Hilfslehrerin an meiner Seite ein Spiel, bei dem Kinder an Stationen Aufgaben lösten – wir standen nur beratend zur Seite. Es hat toll funktioniert. Mir fällt als ältere Kollegin kein Zacken aus der Krone, wenn ich Jüngere Ideen verwirklichen lasse.

Freilich entscheiden auch äußere Umstände über den Erfolg. Zum Beispiel ist mir im Lauf der Jahre immer stärker die Veränderung von Familienverhältnissen aufgefallen. Eltern kommen abends nach Hause, sind nach der Arbeit fertig, ohne Nerv, sich bei ihren Kindern durchzusetzen. Als Lehrer steht man allein da. Zum Beispiel, wenn zum x-ten Mal die Hausübung fehlt, weil es den Eltern egal ist. Die Sorgen führen dazu, dass sich Kinder schlechter konzentrieren als früher. Dass sie nicht bereit sind, zum Unterricht beizutragen. In den 70ern gab es meinem Eindruck nach in einer 30-Personen-Klasse circa drei Problemfälle. Heute sind es sicher zehn.

Wenn ich vom Pisa-Test höre, frage ich mich, warum wir überhaupt daran teilnehmen. Wir lehnen Reformen ja doch ab. Ein Schulsystem wie in Finnland ist bei uns unerwünscht. Damit meine ich etwa die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Mit zehn soll man noch nicht selektieren; in dieser Zeit hängt das Wesen des Kindes noch ganz am Volksschullehrer. Der Abnabelungsprozess beginnt später, mit elf oder zwölf.

Freilich müsste man die gemeinsame Schule mit Investitionen aufwerten. Derzeit wird derselbe Lehrinhalt in immer weniger Stunden durchgedrückt. Zeit für Wiederholung und spielerische Aneignung fehlt. Diese Phasen müsste man in den Nachmittag verlegen. Dazu soll statt dem derzeitigen Durchfallen ein Kurssystem eingeführt werden – Schüler könnten dann fächerweise weiterkommen oder müssten Einheiten wiederholen. Didaktik und Methodik in der Lehrerausbildung müssten gestärkt werden. Wie zum Beispiel erklärt man Kindern den pythagoräischen Lehrsatz? Manche Lehrer wissen das, andere nicht. In der Klasse meiner Nichte zum Beispiel bekam kürzlich die Hälfte einen Fünfer auf die Physikschularbeit. Darauf wurde sie wiederholt – und noch mehr Leute flogen durch. Dann nahm die Nichte Nachhilfe. Und sagte nach zwei Stunden: ‚Jetzt hab ich’s verstanden.‘

Wenn ich Unterrichtsministerin wäre, würde ich ein Konklave einberufen. Politiker und Experten müssten beraten, bis alle Blockaden und parteipolitischen Gegensätze überwunden sind. Warum werden außerdem die Betroffenen nicht stärker einbezogen? Es gibt so viele blitzgescheite Schüler, die viel zu sagen hätten. Und warum spricht man nicht mit den Studenten über Bildung? Sie werden nur als Gfraster und arbeitsscheue Besetzer abgetan. In mancher Hinsicht ist diese eingefahrene Situation schon erschütternd.“

Aufgezeichnet von Joseph Gepp

Erschienen im Falter 49/2010

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Eingeordnet unter Allgemein, Arbeitswelten

Unsicherheitsfaktor: Ins friedliche Macondo kommt ein Gefängnis

Genauso schaffe man „Angst und Verunsicherung“, sagt Philippa Wotke. Die studierte Ökonomin, 40, leitete bis zur Schließung 2009 das Kardinal-König-Haus, ein Asylheim im Flüchtlingsdorf Macondo. In Macondo leben insgesamt 3000 Menschen aus 22 Ländern beieinander – bisher völlig friedlich und problemlos. Das Innenministerium verwandelt jetzt das König-Haus in ein Gefängnis für abzuschiebende Familien. „Mitten in einer Siedlung teils traumatisierter Flüchtlinge wird es stehen. Da kommen auch eigene Fluchtgeschichten wieder hoch“, sagt Exchefin Wotke. Wie sie warnen andere Organisationen, etwa die Caritas, vor der Zerstörung der funktionierenden Sozialstruktur in Macondo. „Aber im Gegensatz zu Wienern kann man über Flüchtlinge ja drüberfahren“, sagt Wotke. „Als Maria Fekter nach dem Fall der Komani-Zwillinge über humane Abschiebemöglichkeiten für Familien sprach – da schwante mir schon Böses, was Macondo betrifft.“

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Bis es 2009 zugesperrt wurde, leitete Philippa Wotke das
Kardinal-König-Haus in der Flüchtlingssiedlung Macondo. Jetzt
hat das Innenministerium eine äußerst umstrittene Entscheidung
gefällt: Das Gebäude wird zum Schubgefängnis

Foto von Heribert Corn

Erschienen im Falter 49/2010

Mehr zu Macondo?
Kommentar vom Herbst 2009
Reportage aus Macondo von Florian Niederndorfer und Theresia Wolf vom April 2009

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Eingeordnet unter Behörden, Migranten

STADTRAND – Moral, ganz wienerisch: warten um jeden Preis

Kennen Sie die „Stufen der moralischen Entwicklung“? Dieses psychologische Konzept erklärt, wie Menschen moralische Entscheidungen fällen. Schulbeispiel: die rote Fußgängerampel. Dort gibt es Leute, die warten, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen ist – die Norm gibt ihnen Sicherheit. Und es gibt die, die gehen, weil weit und breit kein Auto zu sehen ist – sie trauen sich selbst zu werten. Und es gibt den Wiener. Der Wiener als eigenständige moralische Kategorie begegnet uns beispielsweise im Advent auf der temporär zur Fußgängerzone erklärten Mariahilfer Straße. Hier zeigt sich: Der Wiener steht auch bei absoluter Abwesenheit von Autos menschentraubenweise an abgeschaltenen Ampeln und wartet, bis er die Fußgängerzone überqueren kann. Nur kommt dieser Zeitpunkt nie, weil die Straße ohnehin autofrei ist. Deshalb ist der Gehsteig so lang übervoll, bis ein verwegener first mover den ersten Schritt tut. Was ist das? Blinder Obrigkeitsglaube? Oder blinde Gewohnheit? Egal. Bei der nächsten psychologischen Theorie möge man bitte auch den Wiener bedenken.

Erschienen im Falter 49/2010

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Eingeordnet unter Stadtleben, Stadtrand, Verkehr

Würstel fürs Volk, Lachs für die anderen

Ressentiments und ernste Fragen: Im EU-Haus treffen Europa-Parlamentarier und Krone-Leserbriefschreiber aufeinander

Reportage: Joseph Gepp

Kaum hat Waltraud Kolross das neue EU-Haus in der Wipplingerstraße betreten, bestätigt sich für sie all das, was sie schon immer über die Europäische Union zu wissen glaubte.

„Lachs“, sagt die Oberösterreicherin, „und beste italienische Vorspeisen. Da greifst dir aufs Hirn. Da bin ich gleich hingegangen und hab mir was geholt. Weil ich hab mir gedacht, das ist ja auch mein Geld.“

Vergangener Montag, 13 Uhr. Im Erdgeschoß werden für eine andere Veranstaltung Lachs und Vorspeisen gereicht. Hier im zweiten Stock gibt’s Bier und Würstel. Und Leute, die diese Räumlichkeiten sonst nicht betreten.

Die Idee zu der Aktion sei einigen sozialdemokratischen EU-Parlamentariern im informellen Gespräch gekommen, sagt eine zwischen den Anwesenden umherhuschende Pressedame. Die Parlamentarier wollten einmal mit den heftigsten Kritikern der Europäischen Union ins Gespräch kommen. Und wo findet man diese Leute? Natürlich auf den Leserbriefseiten „EU-Theater“ der Kronen Zeitung, der meistgelesenen Europa-Berichterstattung in Österreich.

„Es ist es erfreulich“, beginnt der Abgeordnete Jörg Leichtfried seine Einführung optimistisch, „wenn sich Leute mit Politik beschäftigen. Auch wenn sie unter Umständen einen anderen Zugang verfolgen als wir.“ Ihm gegenüber sitzen 25 passionierte und durchwegs pensionierte Briefschreiber.

Manch einer legt gleich in der Vorstellungsrunde mit einem Co-Referat los. Eine südsteirische FPÖ-Funktionärin ärgert sich über Bundespräsident Heinz Fischer, „Europa soll wissen, dass ihn nicht alle Österreicher hinnehmen“ – was das mit der EU zu tun haben soll, erschließt sich einem nicht. Eine junge Mutter sieht in Sachen Kinderbetreuung den „Euro-Kommunismus“ heraufziehen. Einem alten Herrn neben ihr ist „das Lachen längst vergangen“. Der nächste zitiert Bertolt Brecht: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ – „aber glauben Sie nur nicht, dass ich Kommunist bin“.

Danach formieren sich die Briefschreiber an Stehtischen rund um die Abgeordneten und fangen an zu fragen und sich zu beschweren. Die Globalisierung und diese verrückten Lkw-Transporte durch ganz Europa würden sie aufregen, sagt Waltraud Kolross. Jörg Leichtfried antwortet, dass höhere Lkw-Autobahnmauten bislang am Widerstand konservativer Parteien und des EU-Rates gescheitert seien. Er beginnt über die Wegekostenrichtlinie zu sprechen. Kolross will das nicht hören, sie schneidet ihm das Wort ab. „Österreich lässt sich vom Lobby-Sauhaufen breitschlagen“, schimpft sie.

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Sprechen über Gott, die Welt und Europa: Hannes Swoboda
Foto: Heribert Corn

Am Nebentisch doziert Hannes Swoboda derweil über Griechenland, die Türkei und die Finanzkrise. Warum das kleine Irland Europa fast aushebeln kann, möchte ein Zuhörer wissen. Swoboda redet wacker über das weltumspannende Netz der Börsen und Banken und erklärt die Herdenpsychologie der Anleger. Warum hochriskante Finanzkonstrukte nun weiterexistieren würden, „als hätte es nie eine Krise gegeben“, fragt ein anderer. Swoboda sagt, er trete für eine Finanztransaktionssteuer ein. Warum gibt es keine eigene Ratingagentur für Europa? Das sei ein „schwerer Fehler“, räumt Swoboda ein.

Es sind teils gute Fragen, die die Besucher an die Abgeordneten richten. Und es sind teils vor Ressentiment triefende Fragen. Manchmal notieren sich die Briefschreiber die Antworten in penibel vollgeschriebene Blöcke, um zu Hause nachzuprüfen, was Abgeordnete hier sagen. Andere hören gar nicht richtig hin, wenn die Politiker über Entscheidungsfindungen und Interessenlagen zu sprechen beginnen. Wenn sie Verhandlungsprozesse zu erklären versuchen, die kleinen Fortschritte, die Schwierigkeiten, Maßnahmen durchzusetzen. Bei dieser Gruppe hat man das Gefühl, sie wollen vor allem eins hören: Alles wird gut.

Am Ende übergibt Waltraud Kolross eine Liste an Jörg Leichtfried mit dem Hinweis, er möge ihr bitte die dort angeführten Fragen noch per E-Mail beantworten. Es ist eine ganze Seite, auf der Dinge stehen wie: „EU-Budget“ und „Die EU-Landwirtschaftspolitik und ihre Förderungen“. Leichtfried lässt den Blick über die Liste schweifen und sagt mit einigermaßen souveränem Gesichtsausdruck: „Mach ma.“

Die Würstel garen derweil in einem Warmhaltekessel vor sich hin, während die Besucher angeregt diskutieren. Bis zum Schluss der Veranstaltung wird sie kaum jemand angerührt haben.

Erschienen im Falter 48/2010

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Eingeordnet unter Bürgerbeteiligung, Europa, Kurioses, Medien, Reportagen

STADTRAND – Der Schnee deckt zu, der Schnee rutscht ab

Früher, als die Welt noch einfach war, war die Stadt weiß, nachdem es geschneit hatte. Da blickte man aus dem Fenster und sah ringsum schneebedeckte Dachlandschaften, durchbrochen höchstens von Rauch aus diversen Rauchfängen, aber auch der gehörte irgendwie dazu. Heute dagegen ist die Welt nicht mehr einfach, und die Dächer sind nicht mehr weiß. Denn heute ist ein Gutteil der Wiener Dachgeschoße ausgebaut. Das sieht man vor allem im Winter, wenn sich überall sonst kältebedingt ein Meter Schneedecke über Häusern wölbt. Auf dem Dachausbau aber hat er wärmebedingt keine Chance. Dort herrscht ganzjährig frühlingshaftes Tauwetter. Dort schmilzt er sofort weg und rutscht in Form schwerer nasser Fladen die Dachschräge hinunter, um sogleich im Nacken dachgeschoßloser Städter zu landen. Im tiefen Winter ist das einst schneeweiße Wien also zum Fleckerlteppich geworden. Zur Wechselfolge ausgebauter und nicht ausgebauter Dachgeschoße. Zum Schachbrettmuster sozialer Schieflagen. Und dazwischen flüchten Städter vor Fladen.

Erschienen im Falter 48/2010

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Eingeordnet unter Stadtplanung, Stadtrand