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Wenige Fahrräder. Gute Öffis. Aber viele Autos. Ein verkehrspolitischer Rundblick zur bevorstehenden Wienwahl

Bilanz: Joseph Gepp

Wer wissen will, wo Wiens Autoverkehr wirklich nervt, der könnte zum Beispiel auf die Ringstraße gehen und versuchen, ein Foto vom Parlamentsgebäude zu machen.

Das wird schwierig ohne Hubschrauber. Denn auf der stadtauswärtigen Straßenseite bekommt man den historistischen Prunkbau nicht aufs Bild. Und von der Innenstadt aus trennen täglich rund 30.000 Fahrzeuge den Betrachter vom Objekt. Parlament, Burgtheater, Staatsoper – Mitteleuropas prächtigster Boulevard brummt wie eine provinzstadträndische Ausfallstraße.

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(Foto: Joseph Gepp)

Außer am Mittwoch, 22. September. Dann laden Radlobbys und Umweltschützer einige Stunden zum „Rasen am Ring“. Anlässlich der europaweiten Mobilitätswoche entrollen sie eine Wiese, picknicken auf Klappstühlen und demonstrieren gegen das, was ihnen zufolge urbane Lebensqualität so massiv beschneidet: das Auto.

Die regierende Wiener SPÖ steht solch aktionistischen Statements kritisch gegenüber – per ORF versicherte Verkehrsstadtrat Rudolf Schicker, dass die von Klimabündnis und EU-Kommission unterstützte Aktion jedenfalls nichts mit der Gemeinde Wien zu tun habe. Aber ist sie denn gerechtfertigt? Ist Wien reaktionär, was zukunftsfähige Mobilität betrifft? Oder nur durchschnittlich? Oder gar Avantgarde? Ist die Ringstraße ein verzerrendes Einzelbild, der letzte Rest eines untergehenden Zeitalters? Oder braucht Wien den Druck der autofreien Straße, damit unmotorisierte Verkehrsteilnehmer endlich Gehör finden?

Stadtmobilität ist ein Feld widerstrebender Konzepte und Interessen. Jede Lobby präsentiert ihr Fortbewegungsmittel als Lösung für alle Probleme der Welt. Darüber steht die Kommune und versucht, Interessenausgleich zu betreiben und auf die ausgewogene Entwicklung eines stimmigen Ganzen zu achten. Für Wien stehen die Ziele dieses Ganzen im „Masterplan Verkehr“, 54 Seiten dick, verfasst von den Stadtplanern des Rathauses im Jahr 2003 – ein guter erster Ansatzpunkt, um zu erfahren, wie die Stadt mobilitätsmäßig dasteht.

Unter dem Schlagwort „sanfte Mobilität“ propagiert der Masterplan, was in Europa seit einem Vierteljahrhundert Allgemeingut ist: die schrittweise Abkehr vom Auto. Früher hatte der motorisierte Individualverkehr über allem gestanden. In Wien wollte man noch 1958 den Naschmarkt schleifen, um eine Autobahn bis an die Innenstadt heranzuführen. Erst in den 70ern war Urbanität nicht mehr gleich Automobilisierung. Abgase, Lärm, städtische Platznöte und die frühe Umweltbewegung läuteten das Ende des Autoglaubens ein.

30 Jahre später spiegeln sich die einst radikalen Ideen in offiziellen Statistiken wider: 2007 zum Beispiel hat sich die absolute Zahl angemeldeter Pkw in Wien zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen leicht verringert. Im Jahr zuvor hatte der Anteil der Öffis am städtischen Verkehrsaufkommen erstmals jenen der Autos überholt – zwar ist der Abstand mit 35 Prozent Öffis zu 33 Prozent Autos hauchdünn, doch die Tendenz ist unverkennbar. Von 2008 auf 2009 nahm der Autoverkehr in Wien – ohne Autobahnen – um 0,7 Prozent ab.

Man kann die Zahlen verschieden deuten. „Einen großen Erfolg städtischer Verkehrsplanung“ nennt sie etwa Thomas Madreiter, Chef der MA 18 für Stadtentwicklung und einer der wichtigsten Planer Wiens. Für Martin Blum, Experte vom Verkehrsclub Österreich, stellen sie eher eine Handlungsaufforderung dar: „Viele Indikatoren weisen in die richtige Richtung. Aber gerade deshalb müssten wir jetzt massiv steuern. Denn im Verkehr gibt es auch Tendenzen, die sich zu großen Problemen auswachsen können, wenn wir nichts tun.“

Die Gefahren, die Blum meint, liegen nicht etwa im zentrumsnahen Wien innerhalb des Gürtels, wo der Autoanteil am stärksten sinkt und das vielgelobte Öffi-Netz zur Weltspitze gehört. Sie liegen vielmehr in den Randbezirken und an der Stadtgrenze. Dort hält die Verkehrsentwicklung mit der Bautätigkeit und dem rasanten Bevölkerungswachstum nicht Schritt. Rund 210.000 Pendler überqueren täglich die Stadtgrenze – zwei Drittel von ihnen im Auto. Wer die Statistik genau liest, stellt sogar fest, dass an der Peripherie exakt das Gegenteil wie im Zentrum geschieht: Der „grenzüberschreitende Verkehr“ zwischen Niederösterreich und Wien ist nicht wie der Gesamtwert leicht gesunken – er stieg laut MA 18 zwischen 2000 und 2005 um ein Zehntel. Gleichzeitig wuchs der Fahranteil der Nichtwiener in Wien, also vor allem Pendler, um stolze 17 Prozent.

Die Folgen spüren vor allem die ärmeren Wiener nahe der großen Ausfallstraßen – beispielsweise zeigt die Feinstaubmessung Belgradplatz bei der Triester Straße in Favoriten jeden sechsten Tag im Jahr eine Höchstwertüberschreitung an. Der Zuwachs am Rand setzt sich aber auch auf vollen Durchzugsstraßen bis in die Stadtmitte fort. Er zieht sich die verstopften Donaukanalländen entlang, die Südosttangente, die Wienzeilen oder den Gürtel.

Den Grund dafür verorten Studien im Verkehrsverhalten der Pendler: Steigen die einmal ins Auto, bleiben sie auch drinnen bis zum zentral gelegenen Arbeitsplatz – zumal sie in Wien im Vergleich zu anderen Großstädten leicht einen Parkplatz finden. Das bestätigen auch die grünen Lämpchen an den großen Sammelgaragen bei den U-Bahn-Endstationen, die zum Umsteigen ins Öffi verleiten sollen: Sie zeigen meist erhebliche Leerstände an.

„Hier müsste man sanften Druck ansetzen“, sagt VCÖ-Experte Blum. „Es ist zu attraktiv, mit dem Auto in die Stadt zu fahren.“ Dem Experten zufolge könnte man das Problem auf zwei Arten lösen. „Die erste wäre der Ausbau leistungsfähiger Pendler-Öffis zwischen Wien und dem Umland. Aber die werden wenig benutzt, weil das Autofahren so bequem ist.“ Sinnvoller sei es daher, in der Stadt selbst anzusetzen, so Martin Blum. „Zum Beispiel mit einem teurere Parkpickerl oder indem man aufhört, in der Stadtmitte Parkgaragen zu errichten.“ Ein weiterer Ansatz wäre eine City-Maut – aber die ist vom Tisch, seit sie im Februar 2010 Gegenstand einer suggestiven Volksbefragung war.

Dass die Parkplatzpolitik eine große Schwachstelle der Wiener Mobilitätsplanung ist, bestätigt auch der renommierte Verkehrsfachmann Herrmann Knoflacher von der TU Wien. „Sie ist es nicht nur deshalb, weil man es den Pendlern derart leicht macht, ins Stadtzentrum zu fahren“, sagt der Professor. „Sie ist es auch wegen der gesetzlichen Stellplatzverpflichtung.“

Die Stellplatzverpflichtung aus dem Wiener Garagengesetz besagt, dass zu jeder neuen Wohnung ein Parkplatz errichtet werden muss. Kritiker wie Knoflacher sehen das als unzeitgemäße Autofixiertheit. In Zürich etwa – Wiens Dauerkonkurrenten in Sachen Lebensqualität – wurde die Verpflichtung kürzlich abgeschafft. Dafür müssen Bauherren nun in Mobilitätskonzepten erklären, wie ihre künftigen Bewohner von A nach B kommen sollen.

Wien aber ist längst noch nicht so weit. Ein plakatives Beispiel: Hier wird sogar der neue Stadtteil Bahnhof-City am Südbahnhofgelände, der ja ohnedies um den Hauptbahnhof herum entsteht, zu einem Parkplatz je Wohnung verdonnert. „Die Stellplatzverpflichtung“, sagt Knoflacher, „gehört schlicht weg.“

Eine von wenigen Ausnahmen von der Parkplatzregel ist die autofreie Siedlung in der Floridsdorfer Fultonstraße. Vom grünen Gemeinderat Christoph Chorherr initiiert und 1999 eröffnet, wurde hier das für Parkplätze vorgesehene Geld in Fahrradräume und Dachgärten gesteckt. Zahlreiche Kinder spielen heute zwischen den efeubewachsenen Wohnblocks. Das unerwartete Ergebnis des Wohnexperiments füllt nach elf Jahren seitenweise internationale Studien wie Zeitungsartikel: Nicht nur die Geburtenrate in der Siedlung hat den Bevölkerungsschnitt weit hinter sich gelassen – auch vor Einzugswilligen können sich die Autofreien kaum retten.

Zur Fortbewegung benutzen diese übrigens vor allem Verkehrsmittel, die trotz enormer Wachstumsraten in Wien noch immer ein Nischendasein führen: Fahrräder.

Knapp sechs Prozent beträgt in Wien der Radfahranteil am Gesamtverkehrsaufkommen. Das kommt einer Verdreifachung in kurzer Zeit gleich – allerdings von niedrigem Niveau: In München, das Wien in vieler Hinsicht ähnelt, ist der Anteil dreimal höher; in Kopenhagen gar sechsmal. Selbst durch Graz und Salzburg kurven, relativ gesehen, viel mehr Radler als durch Wien.

Woran liegt das? Wohl nicht an Wiens Radwegenetz, das – wenn auch mancherorts immer noch Stückwerk – im guten europäischen Schnitt liegt und stetig größer wird. Zudem konnte die Stadt sogar international reüssieren, als sie 2003 die City Bikes einführte – und seitdem ausbaut. Jeder siebte Wiener, insgesamt 230.000 Menschen, nutzt das Leihsystem, das mittlerweile von anderen Städten kopiert wird.

Woran liegt also der niedrige Anteil? Neben einigen Schwachstellen wie Einbahnregeln für Radler spricht VCÖ-Experte Blum auch von Bewusstseinsbildung: „In München zum Beispiel fährt sogar Bürgermeister Christian Ude mit dem Rad.“

In Wien darf man nun immerhin wieder, nachdem dies eine Zeitlang verboten war, mit dem Rad durch die Höfe des Rathauses flitzen. Dieses Gebäude lässt sich übrigens ganz ausgezeichnet fotografieren. Es steht vom Ring aus nach hinten versetzt, an einem großen, autofreien Platz.

Zahlreiche Lobbyorganisationen prägen die heimische Verkehrspolitik. In Wien sind dies vor allem ÖAMTC und Arbö (Auto), IG Fahrrad und Argus (Fahrrad) sowie Walk Space (Fußgänger). Der VCÖ will sämtliche Verkehrsteilnehmer koordinieren

Große Verkehrsprojekte seit der letzten Wienwahl 2005 waren unter anderem die Verlängerungen von U1 (bis Leopoldau 2006) und U2 (Stadion 2008, Aspernstraße 2010), der (geplante) Neubau von Praterstern, West- und Südbahnhof, Radwege unter anderem im Wiental, der Bau der Wiener Außenring-Schnellstraße S1 im Norden und der Nordautobahn ins Weinviertel sowie der Twin City Liner nach Bratislava 2006. Nicht alle dieser Projekte fallen in die Verantwortung der Gemeinde Wien

Modal Split (Anteile am Gesamtverkehrsaufkommen) in Wien 2009:

Öffis: 35 %
Pkw: 32 %
(davon Fahrer: 24 %; Beifahrer: 8 %)
Fugßgänger: 27 %
Radfahrer: 6 %

Erschienen im Falter 38/2010

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtplanung, Verkehr, Wien

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