Monatsarchiv: September 2010

STADTRAND – Wir wollen Pinocchio statt Poppy Pomfrey!

In unserer losen 90er-Jahre-Reihe befassen wir uns diesmal mit der Kinderspeisekarte. Früher, als die Welt noch überblickbar war, hießen nämlich alle Kindergerichte im Restaurant gleich. „Mickey Maus“ war beispielsweise der ewige Name des Schnitzels, wenn wir uns richtig entsinnen. „Moby Dick“ hieß ganz sicher der Fisch und „Pinocchio“ die kleine Pizza. Wir erklären uns das folgendermaßen: In einem Tresor der Sektion Gastronomie der Wiener Wirtschaftskammer lag eine Liste. Darauf standen die Namen. Wer sich nicht an sie hielt, dem drohten Strafen. Später jedoch – wahrscheinlich unter Schwarz-Blau – ist die Liste der wirtschaftlichen Deregulierung zum Opfer gefallen. Seitdem steht, wenn überhaupt, ein herzloses „klein“ neben dem Gericht. Oder aber der Name der Speise ist derart fantasievoll durchdacht – Poppy Pomfrey, fürsorgliche Krankenschwester aus Harry Potter, dass ihn ausschließlich belesene Elite-Sprösslingeverstehen. Und schon sind wir bei der sozialen Selektion im Kindesalter. Es war nicht alles schlecht, als die Welt noch überblickbar war.

Erschienen im Falter 39/2010

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Wiener (Wahl-)Typen: Der Speckgürtelbewohner

Die gute Nachricht: Wien wächst. Seit 1989 wieder in Europas Mitte gelegen, hat der Ballungsraum derzeit 2,4 Millionen Einwohner (plus 8 % seit 2001). Das Schlechte daran: Wien wächst draußen. Flächenbezirke wie Donaustadt und Favoriten (beide plus 8 % seit 2005) wären noch nicht das Problem. Aber noch weiter draußen wird das Wachstum unkontrollierbar im Geflecht überlappender und kleinräumiger Kompetenzen. Gänserndorf und Gerasdorf etwa sind seit den 80ern um mehr als die Hälfte gewachsen. Folge: 200.000 Autopendler täglich – und eine städtische Raumplanung, die an einer Stadtgrenze endet, die der Realität nicht mehr entspricht.

Erschienen im Falter 39/2010

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Wiener (Wahl-)Typen: Der Radfahrer

„Erbärmlich“ nennt manch kritischer Radler seinen Anteil am Wiener Gesamtverkehrsaufkommen – der ist, wenn auch steigend, mit 5,5 Prozent im Vergleich dürftig (München etwa: 15 %). Immerhin gibt es inzwischen 1090 Kilometer (teils suboptimale) Radwege; zudem ist das City-Bike ein Erfolg. Ein überzeugtes Bekenntnis der Stadt zu Muskeln statt Motoren fehlt trotzdem – sonst würde sie etwa Autospuren für Radler freiräumen.

Erschienen im Falter 39/2010

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U2 Aspernstraße: Wien liegt am Meer

Testfahrt: Joseph Gepp

Ach wie schön. Wien hat jetzt eine U-Bahn-Station, die Donaumarina heißt.

Namensgeber ist ein kleines Jachthäfelchen, das in einer postindustriell-asphaltkargen Ufergegend nicht weiter auffällt. Insofern ist der Name Donaumarina eigentlich nicht gerechtfertigt. Die Station müsste vielmehr nach den umliegenden Gassen Wehlistraße oder Grünlandgasse benannt sein. Aber Donaumarina klingt so hübsch. Als würde den Wienern dieser gottverlassene Jachthafen schon irgendwann aufgefallen sein. Als wüssten sie irgendetwas mit ihren Gewässern anzufangen. Als gäbe es hier Leben, Treiben, eine Promenade. Zwar verirren sich in Wahrheit nur ein paar Jogger mit Hauptalleekoller und Radfahrer mit Donaueschingen-Delta-Ambition an diesen Flecken – aber was soll’s: Ab kommenden Samstag kann man hier die Augen schließen und sich vorstellen, Wien wäre am Meer.

Dann eröffnet die zweite Ausbaustufe der U2 innerhalb von zwei Jahren. Nachdem 2008 schon EM-bedingt vom Schottenring zum Praterstadion gebaut wurde, überquert die violette Linie nun auch die Donau und führt dann 5,2 Kilometer weit in die Tiefen des 22. Bezirks.

Die Stationen heißen neben Donaumarina Donaustadtbrücke, Stadlau, Hardeggasse, Donauspital und Aspernstraße. Mit 490 Millionen Euro Baukosten schlug die Verlängerung vergleichsweise günstig zu Buche – weil die Teilstrecke zur Gänze auf einer oberirdischen Trasse verläuft. 2013 soll das letzte Stück zum Flugfeld Aspern führen, wo mit der „Seestadt“ derzeit eins der größten Neubauviertel Europas entsteht.

Damit ist es endgültig vorbei mit der einst beschaulich-studentischen Tuk-Tuk-Strecke zwischen Karlsplatz und Schottenring, wo man mit freiem Auge von einer künstlerisch ausgestalteten Station zur nächsten schauen konnte. 30 Jahre nach der Eröffnung ihres ersten Teils beginnt die U2 tatsächlich eine Art stadtinfrastrukturellen Zweck zu erfüllen. Sie ist zur Vorstadterschließungsmaschine geworden: Die Donaustadt ist mit derzeit 150.000 Einwohnern der am schnellsten wachsende Bezirk Wiens. Kräne und Neubauten stehen hier allerorten – nur hält die Erschließung durch öffentliche Verkehrsmittel bisher nicht Schritt mit dem Trend.

Neben der neuen U2 strecken noch zwei weitere U-Bahn-Linien ihre Fühler nach Transdanubien aus, U6 und U1. Wenn auch auf diese Weise die Anbindung ans zentrale Südufer gegeben ist, so fehlt es doch an binnentransdanubischen Strecken. Neben diversen Bussen gibt es in der Donaustadt nur eine einzige Straßenbahnlinie: den chronisch überlasteten 26er zwischen Strebersdorf und Aspern.

Hier könnte die U2 immerhin eine Verbesserung bringen, weil zahlreiche Busstrecken von den U-Bahn-Stationen aus den flächenmäßig größten Bezirk der Stadt durchkreuzen werden. Damit soll die Gegend laut Wiener Linien „optimal erschlossen“ werden.

Dem Cisdanubier vom anderen Flussufer hingegen nützt die neue U2 wohl vor allem wegen des Sozialmedizinischen Zentrums Ost, dass nun vom ersten Bezirk in nur einer Viertelstunde zu erreichen ist. Die dazugehörige Station heißt übrigens nicht SMZ-Ost, sondern Donauspital.

Erschienen im Falter 39/2010

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Eugen Freund: Blick für den Strom der Geschichte

Laufmeterweise geben TV-Journalisten fortgeschrittener Dienstjahre in dicken Büchern ihre Berufsschmonzetten zum Besten – mit meist dürftigem bis mittelmäßigem Ergebnis. Das neue Buch des ORF-Auslandsreporters und „Weltjournal“-Moderators Eugen Freund bildet eine erfreuliche Ausnahme. Vielseitig, flott und belesen durchleuchtet er aktuelle Konflikte von Washington, D.C., über Peking nach Ramallah, von afghanischen Interna über die Vorgeschichte der Finanzkrise bis zu Obamas Kairo-Rede. Er schafft es dabei, kaum Wissen vorauszusetzen und trotzdem viel mehr zu erzählen, als der normale Außenpolitikinteressierte ohnehin weiß. Ein profunder Blick für politische Zusammenhänge und offenbar ein riesiges Zeitungsarchiv aus etlichen Jahrzehnten helfen Freund dabei, gängigem Wissen und gängiger Einordnung jene Note hinzuzufügen, die journalistischen Lesestoff interessant macht, zum Weiterlesen animiert und letztlich das Gefühl gibt, Blickpunkte dazugewonnen zu haben. Was gute Fernsehbeiträge ausmacht, liefert Eugen Freund auch in Buchform: ein feines Gespür für große Linien.

Eugen Freund: Brennpunkte der Weltpolitik. Wie alles mit allem zusammenhängt. Kremayr & Scheriau, 192 S., € 21,90

Erschienen im Falter 38/2010

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Nächste Station: Zukunft

Wenige Fahrräder. Gute Öffis. Aber viele Autos. Ein verkehrspolitischer Rundblick zur bevorstehenden Wienwahl

Bilanz: Joseph Gepp

Wer wissen will, wo Wiens Autoverkehr wirklich nervt, der könnte zum Beispiel auf die Ringstraße gehen und versuchen, ein Foto vom Parlamentsgebäude zu machen.

Das wird schwierig ohne Hubschrauber. Denn auf der stadtauswärtigen Straßenseite bekommt man den historistischen Prunkbau nicht aufs Bild. Und von der Innenstadt aus trennen täglich rund 30.000 Fahrzeuge den Betrachter vom Objekt. Parlament, Burgtheater, Staatsoper – Mitteleuropas prächtigster Boulevard brummt wie eine provinzstadträndische Ausfallstraße.

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(Foto: Joseph Gepp)

Außer am Mittwoch, 22. September. Dann laden Radlobbys und Umweltschützer einige Stunden zum „Rasen am Ring“. Anlässlich der europaweiten Mobilitätswoche entrollen sie eine Wiese, picknicken auf Klappstühlen und demonstrieren gegen das, was ihnen zufolge urbane Lebensqualität so massiv beschneidet: das Auto.

Die regierende Wiener SPÖ steht solch aktionistischen Statements kritisch gegenüber – per ORF versicherte Verkehrsstadtrat Rudolf Schicker, dass die von Klimabündnis und EU-Kommission unterstützte Aktion jedenfalls nichts mit der Gemeinde Wien zu tun habe. Aber ist sie denn gerechtfertigt? Ist Wien reaktionär, was zukunftsfähige Mobilität betrifft? Oder nur durchschnittlich? Oder gar Avantgarde? Ist die Ringstraße ein verzerrendes Einzelbild, der letzte Rest eines untergehenden Zeitalters? Oder braucht Wien den Druck der autofreien Straße, damit unmotorisierte Verkehrsteilnehmer endlich Gehör finden?

Stadtmobilität ist ein Feld widerstrebender Konzepte und Interessen. Jede Lobby präsentiert ihr Fortbewegungsmittel als Lösung für alle Probleme der Welt. Darüber steht die Kommune und versucht, Interessenausgleich zu betreiben und auf die ausgewogene Entwicklung eines stimmigen Ganzen zu achten. Für Wien stehen die Ziele dieses Ganzen im „Masterplan Verkehr“, 54 Seiten dick, verfasst von den Stadtplanern des Rathauses im Jahr 2003 – ein guter erster Ansatzpunkt, um zu erfahren, wie die Stadt mobilitätsmäßig dasteht.

Unter dem Schlagwort „sanfte Mobilität“ propagiert der Masterplan, was in Europa seit einem Vierteljahrhundert Allgemeingut ist: die schrittweise Abkehr vom Auto. Früher hatte der motorisierte Individualverkehr über allem gestanden. In Wien wollte man noch 1958 den Naschmarkt schleifen, um eine Autobahn bis an die Innenstadt heranzuführen. Erst in den 70ern war Urbanität nicht mehr gleich Automobilisierung. Abgase, Lärm, städtische Platznöte und die frühe Umweltbewegung läuteten das Ende des Autoglaubens ein.

30 Jahre später spiegeln sich die einst radikalen Ideen in offiziellen Statistiken wider: 2007 zum Beispiel hat sich die absolute Zahl angemeldeter Pkw in Wien zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen leicht verringert. Im Jahr zuvor hatte der Anteil der Öffis am städtischen Verkehrsaufkommen erstmals jenen der Autos überholt – zwar ist der Abstand mit 35 Prozent Öffis zu 33 Prozent Autos hauchdünn, doch die Tendenz ist unverkennbar. Von 2008 auf 2009 nahm der Autoverkehr in Wien – ohne Autobahnen – um 0,7 Prozent ab.

Man kann die Zahlen verschieden deuten. „Einen großen Erfolg städtischer Verkehrsplanung“ nennt sie etwa Thomas Madreiter, Chef der MA 18 für Stadtentwicklung und einer der wichtigsten Planer Wiens. Für Martin Blum, Experte vom Verkehrsclub Österreich, stellen sie eher eine Handlungsaufforderung dar: „Viele Indikatoren weisen in die richtige Richtung. Aber gerade deshalb müssten wir jetzt massiv steuern. Denn im Verkehr gibt es auch Tendenzen, die sich zu großen Problemen auswachsen können, wenn wir nichts tun.“

Die Gefahren, die Blum meint, liegen nicht etwa im zentrumsnahen Wien innerhalb des Gürtels, wo der Autoanteil am stärksten sinkt und das vielgelobte Öffi-Netz zur Weltspitze gehört. Sie liegen vielmehr in den Randbezirken und an der Stadtgrenze. Dort hält die Verkehrsentwicklung mit der Bautätigkeit und dem rasanten Bevölkerungswachstum nicht Schritt. Rund 210.000 Pendler überqueren täglich die Stadtgrenze – zwei Drittel von ihnen im Auto. Wer die Statistik genau liest, stellt sogar fest, dass an der Peripherie exakt das Gegenteil wie im Zentrum geschieht: Der „grenzüberschreitende Verkehr“ zwischen Niederösterreich und Wien ist nicht wie der Gesamtwert leicht gesunken – er stieg laut MA 18 zwischen 2000 und 2005 um ein Zehntel. Gleichzeitig wuchs der Fahranteil der Nichtwiener in Wien, also vor allem Pendler, um stolze 17 Prozent.

Die Folgen spüren vor allem die ärmeren Wiener nahe der großen Ausfallstraßen – beispielsweise zeigt die Feinstaubmessung Belgradplatz bei der Triester Straße in Favoriten jeden sechsten Tag im Jahr eine Höchstwertüberschreitung an. Der Zuwachs am Rand setzt sich aber auch auf vollen Durchzugsstraßen bis in die Stadtmitte fort. Er zieht sich die verstopften Donaukanalländen entlang, die Südosttangente, die Wienzeilen oder den Gürtel.

Den Grund dafür verorten Studien im Verkehrsverhalten der Pendler: Steigen die einmal ins Auto, bleiben sie auch drinnen bis zum zentral gelegenen Arbeitsplatz – zumal sie in Wien im Vergleich zu anderen Großstädten leicht einen Parkplatz finden. Das bestätigen auch die grünen Lämpchen an den großen Sammelgaragen bei den U-Bahn-Endstationen, die zum Umsteigen ins Öffi verleiten sollen: Sie zeigen meist erhebliche Leerstände an.

„Hier müsste man sanften Druck ansetzen“, sagt VCÖ-Experte Blum. „Es ist zu attraktiv, mit dem Auto in die Stadt zu fahren.“ Dem Experten zufolge könnte man das Problem auf zwei Arten lösen. „Die erste wäre der Ausbau leistungsfähiger Pendler-Öffis zwischen Wien und dem Umland. Aber die werden wenig benutzt, weil das Autofahren so bequem ist.“ Sinnvoller sei es daher, in der Stadt selbst anzusetzen, so Martin Blum. „Zum Beispiel mit einem teurere Parkpickerl oder indem man aufhört, in der Stadtmitte Parkgaragen zu errichten.“ Ein weiterer Ansatz wäre eine City-Maut – aber die ist vom Tisch, seit sie im Februar 2010 Gegenstand einer suggestiven Volksbefragung war.

Dass die Parkplatzpolitik eine große Schwachstelle der Wiener Mobilitätsplanung ist, bestätigt auch der renommierte Verkehrsfachmann Herrmann Knoflacher von der TU Wien. „Sie ist es nicht nur deshalb, weil man es den Pendlern derart leicht macht, ins Stadtzentrum zu fahren“, sagt der Professor. „Sie ist es auch wegen der gesetzlichen Stellplatzverpflichtung.“

Die Stellplatzverpflichtung aus dem Wiener Garagengesetz besagt, dass zu jeder neuen Wohnung ein Parkplatz errichtet werden muss. Kritiker wie Knoflacher sehen das als unzeitgemäße Autofixiertheit. In Zürich etwa – Wiens Dauerkonkurrenten in Sachen Lebensqualität – wurde die Verpflichtung kürzlich abgeschafft. Dafür müssen Bauherren nun in Mobilitätskonzepten erklären, wie ihre künftigen Bewohner von A nach B kommen sollen.

Wien aber ist längst noch nicht so weit. Ein plakatives Beispiel: Hier wird sogar der neue Stadtteil Bahnhof-City am Südbahnhofgelände, der ja ohnedies um den Hauptbahnhof herum entsteht, zu einem Parkplatz je Wohnung verdonnert. „Die Stellplatzverpflichtung“, sagt Knoflacher, „gehört schlicht weg.“

Eine von wenigen Ausnahmen von der Parkplatzregel ist die autofreie Siedlung in der Floridsdorfer Fultonstraße. Vom grünen Gemeinderat Christoph Chorherr initiiert und 1999 eröffnet, wurde hier das für Parkplätze vorgesehene Geld in Fahrradräume und Dachgärten gesteckt. Zahlreiche Kinder spielen heute zwischen den efeubewachsenen Wohnblocks. Das unerwartete Ergebnis des Wohnexperiments füllt nach elf Jahren seitenweise internationale Studien wie Zeitungsartikel: Nicht nur die Geburtenrate in der Siedlung hat den Bevölkerungsschnitt weit hinter sich gelassen – auch vor Einzugswilligen können sich die Autofreien kaum retten.

Zur Fortbewegung benutzen diese übrigens vor allem Verkehrsmittel, die trotz enormer Wachstumsraten in Wien noch immer ein Nischendasein führen: Fahrräder.

Knapp sechs Prozent beträgt in Wien der Radfahranteil am Gesamtverkehrsaufkommen. Das kommt einer Verdreifachung in kurzer Zeit gleich – allerdings von niedrigem Niveau: In München, das Wien in vieler Hinsicht ähnelt, ist der Anteil dreimal höher; in Kopenhagen gar sechsmal. Selbst durch Graz und Salzburg kurven, relativ gesehen, viel mehr Radler als durch Wien.

Woran liegt das? Wohl nicht an Wiens Radwegenetz, das – wenn auch mancherorts immer noch Stückwerk – im guten europäischen Schnitt liegt und stetig größer wird. Zudem konnte die Stadt sogar international reüssieren, als sie 2003 die City Bikes einführte – und seitdem ausbaut. Jeder siebte Wiener, insgesamt 230.000 Menschen, nutzt das Leihsystem, das mittlerweile von anderen Städten kopiert wird.

Woran liegt also der niedrige Anteil? Neben einigen Schwachstellen wie Einbahnregeln für Radler spricht VCÖ-Experte Blum auch von Bewusstseinsbildung: „In München zum Beispiel fährt sogar Bürgermeister Christian Ude mit dem Rad.“

In Wien darf man nun immerhin wieder, nachdem dies eine Zeitlang verboten war, mit dem Rad durch die Höfe des Rathauses flitzen. Dieses Gebäude lässt sich übrigens ganz ausgezeichnet fotografieren. Es steht vom Ring aus nach hinten versetzt, an einem großen, autofreien Platz.

Zahlreiche Lobbyorganisationen prägen die heimische Verkehrspolitik. In Wien sind dies vor allem ÖAMTC und Arbö (Auto), IG Fahrrad und Argus (Fahrrad) sowie Walk Space (Fußgänger). Der VCÖ will sämtliche Verkehrsteilnehmer koordinieren

Große Verkehrsprojekte seit der letzten Wienwahl 2005 waren unter anderem die Verlängerungen von U1 (bis Leopoldau 2006) und U2 (Stadion 2008, Aspernstraße 2010), der (geplante) Neubau von Praterstern, West- und Südbahnhof, Radwege unter anderem im Wiental, der Bau der Wiener Außenring-Schnellstraße S1 im Norden und der Nordautobahn ins Weinviertel sowie der Twin City Liner nach Bratislava 2006. Nicht alle dieser Projekte fallen in die Verantwortung der Gemeinde Wien

Modal Split (Anteile am Gesamtverkehrsaufkommen) in Wien 2009:

Öffis: 35 %
Pkw: 32 %
(davon Fahrer: 24 %; Beifahrer: 8 %)
Fugßgänger: 27 %
Radfahrer: 6 %

Erschienen im Falter 38/2010

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Wohnst du noch oder teilst du schon?

Baugemeinschaft heißt ein neuer Wohntrend, der gerade in Wien zu sprießen beginnt. Das Konzept könnte manches Problem moderner Städte lösen

Bericht: Joseph Gepp

Wer in Wien die Zukunft städtischen Wohnens sehen will, der muss schon fast aufs Land hinaus. Zwei ehemalige Mönchszellen in den alten Wirtschaftsgebäuden des Jesuitenklosters Kalksburg am hintersten Zipfel von Liesing bilden die Wohnung von Heinz Feldmann, 47 Jahre, Selbstständiger. Es sind 48 Quadratmeter, schlicht und modern gestaltet, die einst sakrale Nutzung sieht man ihnen nicht an. Ein Essraum samt Homeoffice und Küchenzeile, ein Wohnzimmer mit Hochbett. „Mehr brauche ich nicht“, sagt Feldmann. „Oder besser gesagt: Mehr brauche ich nicht für mich allein.“

Baugemeinschaften heißt ein neuer Trend im Wohnen, der derzeit von deutschen Städten nach Wien schwappt. Er bedeutet, dass Städter gemeinsam ein Wohnhaus errichten oder ein altes renovieren. Heinz Feldmann beispielsweise bewohnt die baumbestandenen Kalksburger Wirtschaftsgebäude zusammen mit rund 100 anderen Leuten. Vor vier Jahren vermietete die Erzdiözese Wien die zwecklos gewordenen Barockhäuser an einen Verein. Dieser baute um und aus, fügte einige moderne Niedrigenergiehäuser hinzu – und zog als Baugemeinschaft ein.

Die Idee klingt zunächst ein bisschen nach Hippiekommune, offenbart sich aber bald als zutiefst ökonomisch: Hinter den Gemeinschaften steckt der Gedanke, dass letztlich alle profitieren, wenn geteilt wird, was nicht jeder für sich selbst haben muss.

Feldmann beispielsweise zahlt für seine 48 Quadratmeter 480 Euro Monatsmiete; den zusätzlichen Eigenmittelbeitrag von 11.000 Euro bekommt er wie bei einer Genossenschaftswohnung zurück. Er genießt aber Luxus, den ein solcher Zins unter normalen Umständen nicht zulassen würde: Beispielsweise brachte er seine Eltern aus Vorarlberg kürzlich in den separaten Gästeappartements unter, wofür er sich nur rechtzeitig auf einer Liste eintragen musste. Die Kinder der Bewohner spielen in einem gemeinsamen Spielraum; für Heimwerkerarbeiten teilt sich das Kollektiv eine Werkstatt im Hof. Im Parterre der alten Klosterwirtschaft liegen ein Veranstaltungssaal und eine Großküche mit allen denkbaren Geräten. „Die verwende ich, wenn ich für Freunde aufkoche“, sagt Feldmann. „Für mich selbst reicht die kleine Küchenzeile in meiner Wohnung.“

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Baugemeinschaft Kalksburg mit alter Klosterkapelle (Gepp)

Man kann das Konzept Baugemeinschaft freilich auch über persönliche Annehmlichkeiten hinaus denken. „Eine Wohnform der Multioptionsgesellschaft“, nennt es der Stadtforscher Udo Häberlin. Der Experte sieht in der Baugemeinschaft die mögliche Lösung vieler Probleme, mit denen Stadtgesellschaften heute zu kämpfen haben.

Beispielsweise bietet das kollektive Leben in der Baugemeinschaft soziologisch gesehen einen Mittelweg zwischen Kleinfamilie und Vereinsamung, nachdem klassische Familienstrukturen durch eine Vielzahl anderer Konstellationen ersetzt worden sind. Sozialstaatlich gesehen übernehmen die Gemeinschaften Aufgaben von überlasteten und kostenintensiven Institutionen, weil sich etwa Kinderbetreuung und Altenpflege kollektiv organisiert besser bewältigen lassen. Und was Ressourcen betrifft, geht die Baugemeinschaft äußerst schonend mit zwei zunehmend knappen Gütern um: mit Energie und Raum.

Wer sich Autos teilt, spart Sprit und Garagenplätze, zumal man Fahrzeuge in der Stadt ohnehin nicht täglich braucht. Wer eine – geteilte – Großküche benutzt statt 50 – nicht geteilte – mittelgroße, handelt wirtschaftlicher, zumal der große Brotbackofen sowieso nicht täglich angeworfen wird. „Der individuelle Komfort“, sagt Udo Häberlin, „wird durch das Teilen in der Baugemeinschaft nicht etwa kleiner, sondern größer als beim klassischen Wohnen.“

Trotz dieser Vorteile stehen Baugemeinschaften in Wien noch ganz am Anfang: Nur ungefähr 600 Bewohner leben in rund einem Dutzend Projekten stadtweit, etwa in Kalksburg, Kagran oder der Penzinger Sargfabrik. Fünf weitere Anlagen sind geplant, was für hiesige Verhältnisse einen kleinen Boom darstellt.

Für die Gemeinde Wien gewinnt das Thema nun langsam an Bedeutung. Eine Studie, die das Rathaus beim Wohnbauforscher Robert Temel in Auftrag gab, befasst sich mit den Potenzialen der Projekte in der Wiener Wohnlandschaft. Dazu beginnt man, Baugemeinschaften als Instrument der Stadtplanung zu begreifen. Denn neben allen sozialen und ökologischen Faktoren zeigten sie in deutschen Vorreiterstädten wie Berlin oder Freiburg auch einen weiteren Effekt: Sie fungierten als „Urbanisierungskerne“, wie Planer das nennen.

„Sie verhelfen Orten zu Vitalität und originellen Nutzungen“, sagt Peter Hinterkörner, städtischer Architekt am Donaustädter Flugfeld Aspern, dem größten Neubauviertel Europas, wo man sich gezielt um die Ansiedlung von Baugemeinschaften bemüht. „Wer sein Haus selbst mitplant und mitbaut“, sagt Hinterkörner, „entwickelt einen starken Bezug zum Ort und identifiziert sich mit ihm.“

„Baugemeinschaften bündeln engagierte Leute“, meint auch die Architektin Petra Hendrich, die für die Web-Plattform parq.at Interessenten in ganz Wien koordiniert. „Das macht sie zu Trägern urbaner Lebensentwürfe, was natürlich für Stadtviertel und ganze Städte wichtig ist.“

Das ist gerade im Fall Aspern bedeutend, wo in einigen Jahren 20.000 Menschen leben sollen. Denn auf diese Art könnte dem Viertel das Schicksal vieler anderer Neubauviertel erspart bleiben: dass es zu einer toten Schlafstadt ohne Straßenleben verkommt. „Wir haben drei Bauplätze für Baugemeinschaften reserviert“, sagt Aspern-Planer Hinterkörner. „Und wir räumen für diese Orte auch extralange Fristen ein, damit die Baugemeinschaften genug Zeit zum Planen haben.“

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„Vitalität“ sollen die Baugemeinschaften etwa dem Flugfeld
Aspern bringen
(Aspern 3420/Schreinerkastler)

Am anderen Ende der Stadt plant Heinz Feldmann derweil einen Umzug. Er hat Gefallen am Leben in der Gemeinschaft gefunden – und will nun bis 2013 ein eigenes Projekt hochziehen, am Nordbahnhofgelände in der Leopoldstadt, ein mehrstöckiges Wohnhaus. Ein befreundeter Architekt, der ebenfalls einziehen wird, habe das Projekt geplant, sagt Feldmann. Die Kerngruppe bestehe aus einer Handvoll Menschen. Er zeigt am Computer ein Rendering. „Aufs Dach kommen Saunen und Gästeappartements. Und im Keller werden wir Gemeinschaftsräume einrichten.“ Sogar ein Kaffeehaus „für Stadtnomaden“ sei geplant, sagt Heinz Feldmann. „Es soll ja schließlich auch was los sein bei uns.“

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Heinz Feldmann zeigt das Nordbahnhofprojekt (Gepp)

Am 28.9. findet in den Räumen der IG Architektur, 6., Gumpendorfer Str. 63B, eine Diskussion zum Thema Baugemeinschaften statt. Weitere Infos und Termine: parq.at, gemeinsam-bauen-wohnen.org

Erschienen im Falter 37/2010

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Eingeordnet unter Soziales, Stadtleben, Stadtplanung, Wien

Ein Handymast ist ein Handymast ist ein Schornstein

In der Josefstadt werden Handymasten hinter Ziegelimitat versteckt. Was Anrainern in der Schönborngasse als „Schornsteinreparatur“ verkauft wurde, war in Wirklichkeit die Aufstellung eines Masts und dessen sofortiges Verbergen hinter Platten mit Ziegelimitat. Für die Aufstellerfirma ist es laut Kurier normal, dass sich Masten ihrem Umfeld anpassen. Die Anrainer jedoch sprechen von Vertuschung und laufen Sturm: Eine Klage, wonach der Mast die erlaubte Bauhöhe überschreitet, wird gerade geprüft.

Erschienen im Falter 37/2010

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Nein, das ist keine Schornsteinreparatur

(Fotos von Michaela Kruck)

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Eingeordnet unter Bürgerbeteiligung, Behörden, Das Rote Wien

STADTRAND – U-Ertüchtigung und Rolltreppenzierzeilen

Früher sorgte der Staat im Großen und Ganzen dafür, dass wir irgendwann unsere Pension kriegen und bis dahin nicht abgemurkst werden. Heute steht Ersteres in den Sternen, weshalb uns der Staat in seiner Weisheit sagt, wir sollen bitte nicht rauchen, gesund essen und Sport machen. Weil wir sture Egoisten dies aber verweigern, hilft der Staat samt seinem Vollstrecker Wiener Linien ein bisschen nach. Zum Beispiel in der U1 Karlsplatz. Dort gibt es in Richtung Oper eine Rolltreppe, die verlässlich nicht funktioniert. Wie eine gebaute Zierzeile schläft sie einen ewigen Schlaf. Wir drängen also mit einer hundertköpfigen Menschenmasse auf die zweite Rolltreppe, turnen über Pensionisten, zertreten beinahe kleine Hunde, betäuben uns im immer empörteren Rechts-stehen-links-gehen-Singsang. Dann grinst uns am Rand des Fiaskos höhnisch eine Werbung der Gemeinde Wien entgegen: „Das beste Fitnessstudio ist eine Treppe.“ Warte nur, Staat! Du hältst dich wohl für witzig. Wirst schon sehen: Wenn wir oben sind, hauen wir uns auf der Stelle eine Käsekrainer rein.

Erschienen im Falter 37/10

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Eingeordnet unter Medien, Stadtrand, Verkehr

Warum echte Olympier zu Burger King gehen (und andere FPÖ-Interna)

Stefan Apfl und Joseph Gepp

Es sind oft die kleinen Zwischentöne, die das Ganze erst verständlich und einschätzbar machen. So vergangenen Donnerstagabend am Viktor-Adler-Markt in Favoriten. Zwei Stunden lang redet sich HC Strache auf der Bühne müde und heiser. Hinten, beim Türken, sitzen derweil Barbara Rosenkranz, Martin Graf und einige Kompagnons. Und am Nebentisch zwei Falter-Redakteure.

Was reden hohe FPÖ‘ler eigentlich so, wenn sie sich unbeobachtet wähnen? Sie reden über Gegendemonstranten und fordern einander auf zuzusehen, wie selbige ihren „Frust ablassen“ (Graf in die Runde). Sie reden darüber, dass sie ihr Referat für die Vertriebenenorganisation noch fertig machen müssen (Graf zu Kompagnon). Sie überlegen, welchem Fast-Food-Lokal sie nachher einen Besuch abstatten. Kriterium: „Ein echter Olympier geht ned zum McDonald‘s, er geht zum Burger.“ (Der rechtsextreme und deutschnationale Politiker Norbert Burger war ein Alter Herr der Olympia, Anm.)

Nach soviel nonchalantem Wortwitz und nachdem die Rede von HC Strache schlicht kein Ende nimmt, entschließt sich Rosenkranz zu gehen. „Meine Herren“, sagt sie, „ich danke für die reschpektvolle Begleitung“.

Erschienen im Falter 37/10

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Eingeordnet unter Kurioses, Worte