In zwölf Jahren Detailarbeit haben zwei Architekten die Synagogen Wiens wiedererrichtet. Zumindest virtuell
Bericht: Joseph Gepp
Zweihundert bis vierhundert Arbeitsstunden dauere es, sagt Herbert Peter, dann stehe eine Synagoge wieder.
Er klappt seinen Laptop auf und öffnet ein Bild, Brigittenau, Kluckygasse 11. Seit der „Reichskristallnacht“ vom 10. November 1938 existiert der dreischiffige Tempel mit den Zwiebeltürmen nicht mehr. Peter, 44, Architekturdozent an der Akademie der bildenden Künste, hält die Maustaste gedrückt und steuert durch ein Fassadenfenster ins Innere.
Ein Davidstern thront über dem Thoraschrein. Die gusseisernen Kurven des Stiegengeländers erinnern an Kleeblätter. Sogar Sonnenlicht, das ein kreuzförmiger Fensterrahmen viertelt, fällt von draußen über die Frauenempore. „Bis vor kurzem“, sagt Peter, „gab es von diesem Gebäude nicht mehr als einen Grundriss und ein paar vergilbte Fotos. Aber jetzt können wir, wenn wir die Quellen zusammenfassen, den alten Raumeindruck nachbilden.“
„Computergestütztes Modellieren“ oder neudeutsch „Rendern“ nennt man die Methode, die sonst vorwiegend bei Neubauvierteln zum Einsatz kommt, damit man sich vorab deren Anmutung vor Augen führen kann. Aber heute rendert Herbert Peter, der nun das Innere der Synagoge in zwei Hälften schneidet, die Vergangenheit. Er will sich vorstellen können, wie die Stadt war, bevor das jüdische Leben aus ihr getilgt wurde.
21 große Synagogen und 40 kleine Bethäuser standen am Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien. Es gab sie in fast allen Bezirken. Manche erinnerten in ihrem orientalisierenden Stil an das Simmeringer Arsenal. Andere sahen katholischen Kirchen zum Verwechseln ähnlich. Weitere hatten prachtvolle Kuppen und minarettartige Türmchen. Bei vielen lag die Fassade nicht direkt an der Straße, sondern man musste erst ein Vorhaus durchqueren, in dem oft Schulen und Klubs untergebracht waren.
Wo sie standen, liegen heute Parkplätze oder Hinterhöfe oder – wie in der Kluckygasse 11 – unterbricht ein grauer Nachkriegsgemeindebau eine Hausweite lang die gründerzeitliche Straßenfront.
Die Leopoldstädter Pazmanitengasse einst und jetzt
(alle Fotos und Grafiken aus „Die zerstörten Synagogen Wiens“)
Herbert Peter hat gemeinsam mit Bob Martens, 49, Professor für Raumgestaltung an der TU Wien, die Rekonstruktionen aller 21 Synagogen in einem aktuellen Buch veröffentlicht. Zwölf Jahre lang dauerte die Arbeit. Die Anregung kam von einem Bewohner der Josefstädter Neudeggergasse, der 1998 vom Expertenduo wissen wollte, wie eigentlich der verschwundene Tempel in seiner Straße ausgesehen habe. Danach arbeiteten sich Martens und Peter – assistiert von TU-Studentengruppen – von Synagoge zu Synagoge weiter.
Die Resultate sind derzeit auch in einer Ausstellung im Büro der Gebietsbetreuung Brigittenau zu sehen.Das Besondere an Martens’ und Peters Arbeit ist der unkonventionelle Zugang: Wer sich sonst mit Vertriebenen auseinandersetzt, greift klassischerweise auf Quellen wie Zeitzeugenberichte, Tagebuchnotizen oder Bevölkerungsstatistiken zurück. Martens und Peter aber verfolgen keinen historischen oder religionswissenschaftlichen, sondern einen strikt architektonisch-technischen Zugang. Es geht ihnen nur darum zu zeigen, wie die Stadt aussah, als noch Synagogen in ihr standen.
Demnach soll das einstige Straßenbild mit dem heutigen verglichen werden können. Dazu findet sich zu jedem Tempel im Buch ein Grätzelplan. Außerdem handelt es sich um keinen Bildband, wie er sonst zur Darstellung von Grafiken dient. „Wir haben stattdessen“, sagt Bob Martens, „die Form des handlichen Stadtführers gewählt. Wir wollen, dass ihn die Leute in die Hand nehmen und losmarschieren.“
Sie gehen auf die Suche nach Parkplätzen und Hinterhöfen, die sie vielleicht schon hundertmal übersehen haben. Und deren grauer, unauffälliger Lückencharakter nun davon erzählt, was dieser Stadt einmal verlorengegangen ist.
Der sephardische Tempel in der Zirkusgasse: als historische Aufnahme, als Computermodell mit Lichteinfall, als dieselbe Stelle heute
Um die Lücken anschaulich zu machen, suchten Martens und Peter nach alten Beschreibungen der Synagogen, Fotos, Aquarellen, Postkarten. Sie vertieften sich in jüdische Ornamentik und gründerzeitliche Farbgebung. Sie berechneten anhand der typischen Ostausrichtung der Synagogen den Lichteinfall in Innenräumen. Sie durchforsteten Laufkilometer an den baubehördlichen Akten, um jene Pläne aufzutreiben, die Architekten einst im Zug des Bewilligungsverfahrens ans Magistrat einreichten. Teils gehen diese Dokumente bis ins Jahr 1790 zurück.
„Historiker aus Serbien und Ungarn recherchieren in Wien, weil hier so viele alte Pläne liegen. Es hat was sehr Wienerisches, dass die echten Bauten vernichtet, niemals aber die Archive angetastet wurden“, sagt Herbert Peter.
Der einstige Ottakringer Tempel in der Hubergasse
Bei den Recherchen erschlossen sich Martens und ihm Erkenntnisse, die weit über das bloße Aussehen von Synagogen hinausreichen.
Wiens ältester neuzeitlicher Tempel liegt in der Seitenstettengasse und besteht bis heute. Als er 1825 errichtet wurde, hielt man sich noch streng an das Toleranzpatent Josephs II., wonach nichtkatholische Gotteshäuser von außen nicht als solche erkennbar sein durften.
Als Jahrzehnte später, 1858, Wiens zweite Synagoge entstand, war die Gemeinde durch Ostzuwanderer schon auf das rund Dreißigfache angewachsen. Die große Synagoge in der Leopoldstädter Tempelgasse fasste nun rund 3000 Menschen. Das Toleranzpatent war aufgeweicht; die Tempel begannen etwas herzumachen.
Zwar blieb etwa jener in der Tempelgasse kleiner als viele katholische Kirchen. Aber der maurische Stil, den der Ringstraßenarchitekt Ludwig von Förster dem Gebäude verpasste, machte Eindruck. Und weil die davor verlaufende schmale Gasse keine pompösen Sichtachsen erlaubte, legte Förster einen neuen Platz an: In einigen Metern Entfernung beiderseits des Hauptschiffes ließ er Nebentrakte bauen, sodass ein Raumeindruck entstand. Einer der Trakte steht bis heute, daneben die brache Stelle, wo bis 1938 das Hauptschiff war.
Die Tempelgasse, einst und jetzt
Eine schmale Gasse, ein kleines Grundstück – und doch der Wille zur Repräsentation: „Die Tempelgasse zeigt, wie die jüdische Gemeinde ständig zwischen dem Willen zur Exponiertheit und der Angst davor lavierte“, sagt Martens und zeigt als Beleg das Rendering eines weiteren Tempels. „Die Synagoge in der Alsergrunder Müllnergasse war zwar einigermaßen auffällig. Aber dafür sah sie auch aus wie eine katholische Kirche. Und doch war sie von der Straßenfront aus ein paar Meter nach hinten versetzt, als würde sie sich nicht ganz hervorzutreten trauen. Es war ein ständiges Taxieren und Verhandeln.“
Wie als Bestätigung dieses Misstrauens überstanden – wenn auch ihrer Funktion beraubt – gerade jene Synagogen das Jahr 1938, die von außen nicht als solche kenntlich waren. Schon 1903 ließen wütende Anrainer den Bau einer Großsynagoge am Rudolfsplatz scheitern. Im Gegensatz zu allen bisherigen hätte diese freistehend, also in keine Straßenfront integriert, sein sollen.
Außerdem gab es damals in der kakanischen Provinz mehr Freiheit als in Wien. Am Land standen Synagogen öfter frei und waren generell prominenter platziert als in der Reichshaupt- und Residenzstadt. Das ging so weit, dass sich manchmal das gleiche Modell desselben Architekten baugleich zweimal fand – halb versteckt in Wien und etwas exponierter am Land.
So existiert der einstige Alsergrunder Tempel ein zweites Mal im tschechischen Budweis – dort hat er im Gegensatz zu Wien die Nazizeit überlebt und steht außerdem frei. Und im Fall der Synagoge im nordungarischen Miskolc finden sich sogar Weltreligionen ineinander verzahnt: Das gleiche Gebäude steht als evangelische Gustav-Adolf-Kirche in der Gumpendorfer Straße.
So gesehen hat sogar Ludwig von Försters einst gerühmter Leopoldstädter Tempel die Zeit auch abseits von Bob Martens’ und Herbert Peters Computermodellen überstanden: Er steht als „Choralsynagoge“ in der rumänischen Hauptstadt Bukarest.
Bob Martens, Herbert Peter: Die zerstörten Synagogen Wiens. Virtuelle Stadtspaziergänge. Mandelbaum, 256 S., € 19,90
Wiens verschwundene Synagogen, Ausstellung Gebietsbetreuung Stadterneuerung. 20., Allerheiligenplatz 11. Mo-Mi 9-12 und 13-17 Uhr, Do 13-19 Uhr, Fr 9-12 Uhr
Kasten zu diesem Text: Der „Broadway in der Reindorgasse“: Wie eine Bürogemeinschaft im fünfzehnten Bezirk Grätzelgeschichte(n) erlebbar machen möchte
Erschienen im Falter 17/2010