Weltweit protzen moderne Städte mit ihren Skylines. Wien hat gleich zwei davon. Über den urbanen Drang nach dem Größer und Höher
Bericht: Joseph Gepp
Wien ist eine Stadt, in der der Blick normalerweise an kleinen Dingen haften bleibt, an einem verspielten Dachgesims, einem ornamentenreichen Erker, einer altertümlichen Geschäftsaufschrift.
Am Donaukanal bei der Taborstraße aber strebt der Blick nach oben, in Richtung großer, vertikaler, spiegelglatter Flächen. Links steht Hans Holleins Media Tower aus dem Jahr 2000, 71 Meter hoch, gekrönt von einer blitzenden News-Werbung. Rechts, noch hinter Bauzäunen, steht der neue Turm des französischen Stararchitekten Jean Nouvel, 75 Meter. Dazwischen fühlt man sich wie eingekeilt zwischen zwei besoffenen Riesen, die einander abstützen – und sich von der dahinterliegenden Leopoldstädter Gründerzeitarchitektur ebenso unterscheiden wie von der uniformen Nachkriegstristesse des gegenüberliegenden Schwedenplatzes.
Der Ausblick sei einmalig, schwärmt Ernst Morgenbesser, 55, Facilitymanager bei der Versicherungsgruppe Uniqa, die den Nouvel-Tower errichtet. Vom Panoramafenster im 18. Stock aus hebt sich der Stephansdom mächtig aus dem Häusermeer. Jean Nouvel hat den Grundriss eigens etwas gedreht, damit sich sein Haus dem Dom zuwendet. Vielversprechend und vielfältig wirkt von hier oben das Gassengewirr. An Sonnentagen, sagt Morgenbesser, sehe man im Osten den Bratislavaer Fernsehturm und im Süden den Hochwechsel.
Hoch und Höher – Das Hochhaus im Wandel der Zeit:
Babylon: Die Bibel und der Niederländer Pieter Bruegel sahen im Hochhaus eine Mahnung zu mehr Demut. Hängt im Kunsthistorischen Museum
140 Millionen Euro kostet der Nouvel-Turm, am 30. Oktober ist Eröffnung. Ein Fünfsternehotel und ein edles deutsches Designeinkaufszentrum werden einziehen. Noch spritzen Schweißfunken, noch ragen Kabel aus Wänden, liegen Stahlträger auf nacktem Asphalt. „Aber wenn der Turm fertig ist“, sagt Morgenbesser, „dann wird er das Stadtbild wirklich bereichern.“ Feiner Sprühnebel wird die Fassade kühlen; das ausgefeilte Lichtkonzept der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist wird auch in den umliegenden Straßen zu sehen sein.
Prestige. Renommee. Zahlungskräftige Kunden. Hochhäuser sorgen dafür, dass in einer Stadt etwas weitergeht. Nicht nur der Nouvel-Tower.
Keine 100 Meter weiter, wo derzeit das ehemalige Opec-Quartier abgerissen wird, beginnt Raiffeisen noch dieses Jahr mit dem Bau ihrer neuen Zentrale. 78 Meter hoch, wird sie sich in eine Stadtlandschaft einfügen, die sich im vergangenen Jahrzehnt radikal veränderte, weil in ihr ein Hochhaus nach dem anderen gebaut wurde.
Drei U-Bahn-Stationen weiter nördlich, auf der Donauplatte, Wiens zweiter Skyline, soll ab Mai außerdem Österreichs höchstes Gebäude entstehen. 220 Meter hoch wird der DC-1-Tower von Dominique Perrault, ebenfalls französischer Stararchitekt. Und allen Wirtschaftskrisen zum Trotz soll DC 2 mit 160 Metern bald darauf folgen.
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In einer Stadt, deren Büroleerstandsrate 2010 gegen sechs Prozent tendiert, mag man über den Zweck solcher Bauten streiten. Aber eines steht fest: Sie machen etwas her. „Das Hochhaus“, sagt die Stadtforscherin Sabine Gruber, „steht für Urbanität. Für die schnelle, technisierte, dichte, hohe Großstadt. Dahinter steckt – ganz banal – dieselbe Faszination, die der Mensch auch beim Fliegen empfindet: die Überwindung der Schwerkraft.“ Wo Hochhausfenster Nachthimmel erhellen, dort findet Entwicklung statt, lautet die Botschaft. Dort spielt die Zukunft. Dort ist Amerika.
Sie transportieren Symbolik wie der mittelalterliche Dom und das barocke Schloss. Sie stehen für den Wettbewerb zwischen Metropolen, Konzernen, gar Kontinenten. Wer etwa den Niedergang der Vereinigten Staaten untersucht, kommt nicht an der Tatsache vorbei, dass der Weltrekord für das höchste Gebäudes seit 1998 nicht mehr an die USA geht, sondern von Malaysien, Taiwan und schließlich Dubai eingenommen wurde. Wer Architekturgeschichten liest, findet einen permanenten Kult um das Höchste und Größte: Keine sakrale Kuppel durfte mächtiger sein als der römischen Petersdoms, keine Moschee mehr Minarette haben als jene in Mekka. Im Wien der Ringstraßenzeit musste das bürgerliche Rathaus niedriger bleiben als die monarchistisch-klerikale Votivkirche. Und das Höchstmaß aller kakanischen Kirchtürme bildete sowieso der Südturm des Stephansdoms.
Was das alte Europa solcherart zur Machtdemonstration nutzte, wurde jenseits des Atlantiks kurz darauf wirtschaftliche Notwendigkeit: In Chicago hatten sich im späten 19. Jahrhundert in zehn Jahren die Einwohnerzahl verdoppelt und die Grundstückspreise versiebenfacht. Um den Platzmangel zu kompensieren, nutzte man Neuerungen wie Skelettbau und Liftanlage – und baute höher und höher.
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Heute bricht bei jedem neuen höchsten Turm internationaler Medienrummel aus. Die Höhe wird quantifiziert, verglichen, als Standortvorteil verkauft.
Von dieser Warte aus betrachtet, liegt Wien trotz Nouvel und Perrault im hinteren Mittelfeld: Laut dem Hochhausranking der Frankfurter Immobilienstatistikfirma Emporis belegt es Platz 113 der weltweit höchsten Metropolen – hinter Städten wie Foshan (China), Charlotte (USA) und Pasig (Philippinen). Europaweit hält Wien immerhin Platz acht, hinter Moskau, Frankfurt am Main, Madrid, London, Warschau und zwei Pariser Vorstädten.
Bleibt die Frage: Ist das überhaupt notwendig? Soll 2010 immer noch als Ideal gelten, was vor 100 Jahren avantgardistisch war? Oder müssen Charlotte und Pasig eingeholt werden, damit Wien im Städtewettbewerb nicht an Status einbüßt?
„Moderne Urbanität muss man nicht mehr über Hochhäuser definieren“, meint dazu Forscherin Sabine Gruber. „Man könnte sie etwa auch als lebendige, grüne, dichte und autofreie Stadt begreifen – mit erneuerbaren Energien, raffinierten Mobilitätsangeboten, kurzen Wegen und einem dichten Netz an sozialen Treffpunkten.“
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Experten zufolge ist ein Hochhaus bei Wiener Grundpreisen und Verhältnissen ab ungefähr 40 Metern unrentabel. Das heißt, dass ab dieser Höhe die Aufwände für Bau, statische Sicherheit, Pump-, Klima-, Heiz- und Liftanlagen höher sind als die Ersparnis, die aus dem geringen Flächenverbrauch resultiert. „Bei allen Dämmtechniken, bei allen immer ausgefeilteren Öko-Innovationen“, sagt die Architektin Judith Eiblmayr, die sich in einem aktuellen Buch mit Wiens ältestem Hochhaus in der Herrengasse auseinandersetzt: „Das Hochhaus wird immer ineffizient bleiben.“
Es sind vor allem die breiten Glasfronten, die Energie – und damit Geld – kosten. Glas lässt Sonnenwärme fast ungehindert passieren; deshalb wuchern Paradeiser bevorzugt hinter Treibhausscheiben. Das heißt: Generell ist das Raumklima in Gebäuden desto ausgewogener und umweltschonender, je sparsamer Fensterflächen eingesetzt werden. Das zeigen Beispiele von der anatolischen Wohnhöhle bis zum Liesinger Passivhaus.
„Aus diesem Grund kippen Hochhäuser rasch in geldverschlingende Prestigeprojekte“, sagt Sabine Gruber. „Sehr hohes Bauen ist eigentlich nur in Städten wie New York sinnvoll, weil sie sich aufgrund ihrer Geografie kaum ausdehnen können und Grundstücke überproportional teuer sind.“ In Wien, wo Raum nicht allzu knapp und teuer ist, liegt der Sinn von Hochhäusern also hauptsächlich im Prestige, das von ihnen ausgeht. Denn, so Gruber, „Repräsentativität spielt eben eine wichtige Rolle für internationale Firmen.“
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Ein Beispiel ist der 2004 fertiggestellte Uniqa-Turm gegenüber der Urania: Nachts formen LED-Leuchten blinkende Muster, die über seine Fassade gleiten. Im Grundriss entspricht der 75-Meter-Turm der Uniqa-Schleife, dem Logo des Konzerns. Stromfressende Lichter und maßgearbeitet geschwungenen Fenster – all das kostet immens viel Geld. Dafür hat die Firma dann ein hübsches Hauptquartier.
Es handelt sich jedoch auch um eine Repräsentativität, die potenziell schädlich ist. Wohin sie führen kann, zeigen etwa mittelgroße US-Städte wie Houston, Texas, oder Denver, Colorado.
Dort reihen sich zwar glitzernde Wolkenkratzer wie Spielzeugklötze aneinander. Aber aus ihren Schatten ist das Leben verschwunden. Wo Geschäfte sein sollten, liegen Garageneinfahrten. Und in einigem Respektabstand zu den prunkenden Firmenportalen campieren die Obdachlosen.
Diese Orte sind, wie Stadtforscher das nennen, „beziehungslos“ geworden.
Es ist ein Phänomen, das nicht unbedingt mit Hochhäusern zu tun haben muss. In anderer Ausformung findet es sich auch in altorientalischen Städten. Dort sprechen Wissenschaftler von einem „Sackgassengrundriss“: Mannsbreite Gässchen führen zu Hofeingängen, wo sie einfach enden – ohne Bezug zur sie umgebenden Stadt.
Eine „Folge einer Zersplitterung urbaner Beziehungen“ nennt das etwa der deutsch-israelische Historiker Dan Diner in einem Buch zu islamischen Gesellschaften. Durchgangsstraßen würden diesen Städten ebenso fehlen wie öffentliche Plätze. „Es lässt auf das Fehlen einer planerischen urbanen Öffentlichkeit schließen. Die am Hauseingang endende Sackgasse wird zum Symbol des isolierten, sich von allen anderen abwendenden Einzelinteresses.“
Diners Resümee. „Findet sich öffentlicher Raum nicht durch gemeinsamen Willen zum gemeinsamen Ort der Städter verbürgt, wird er den Vereinnahmungen des Einzelinteresses erliegen, indem er sukzessive verbaut wird.“ Will er also Privatinteressen entzogen bleiben, „bedarf es einer grundsätzlichen rechtlichen Verankerung des Unterschieds zwischen staatlichem und privatem Eigentum“.
In anderen Worten: Eine starke übergeordnete Instanz – der Staat – muss sicherstellen, dass Stadtraum geteilt und nicht in zu hohem Maß privaten Interessen geopfert wird. Sonst ist die Stadt nicht Stadt, sondern nur eine Ansammlung von Häusern.
Wien liege bei der öffentlichen Regulierung des Hochhausbaus „international im guten Schnitt“, sagt Klaus Vatter, Chef der städtischen Magistratsabteilung 21 für Stadtteilplanung und Flächennutzung.
Ein ausgefeiltes „Hochhauskonzept“ von 2001 soll die Wünsche von Bürgern und Bauherren sorgsam austarieren. „Wir haben Verbotszonen, Einzugsbereichvorschriften für öffentliche Verkehrsmittel, eine vorskizzierte Verteilung der Hochhäuser über Wien“, zählt Wiens oberster Stadtplaner auf. „Es gibt einen Sichtbeziehungsatlas, damit kein Hochhaus wichtige Sichtachsen unterbricht. Es gibt strömungstechnische Gutachten, um Windwirkungen von Projekten zu prüfen.“
Das Rathaus will das gebändigte Einzelinteresse für seine Zwecke nutzen. „Nicht die Höhe ist entscheidend, sondern der stadtstrukturelle Zusammenhang“, sagt Klaus Vatter. Beispiele dafür seien die „gezielten Zentrumsbildungen“ der Donauplatte oder „attraktive Konzentrationen“ am Donaukanal. „Hochhäuser signalisieren ja etwas: Wien ist eine Stadt mit stolzem historischem Erbe, die auch Zukunft hat. Nichts spricht also dagegen, diese Bauform ins Repertoire der Stadt aufzunehmen.“
Nicht alle teilen freilich die Meinung des Stadtplaners, wonach der Ausgleich zwischen öffentlichen und privaten Interessen in Wien derart gut funktioniere.
„Am Donaukanalufer“, sagt Architektin Judith Eiblmayr, „stellt sich zum Beispiel die Frage, wie lange die überlastete Infrastruktur des Schwedenplatzes die Menge der Büroangestellten noch tragen wird können, wenn sich dortige Firmen immer größere Zentralen errichten. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die nun mit dem Auto ins Stadtzentrum kommen.“
Und auf der Donauplatte? Natürlich habe es dort sehr strikte Reglements durch einen Bebauungsplan aus Architektenhand gegeben, meint die Architektin. „Aber der war Makulatur, sobald der erste Investor kam und seine Sonderwünsche deponierte.“
Auch der Raumplaner Reinhard Seiss schreibt in einem Buch zur Wiener Stadtentwicklung, dass im Fall Donauplatte „die Stadtregierung davor zurückscheute, Investoren konkrete Vorgaben zu machen. Die Stadt vergab die Chance, Wiens erstes Hochhausviertel als Gesamtkunstwerk zu gestalten.“ Als Folge grenze sich etwa das Strabag-Hauptquartier „wie durch einen Burggraben vom öffentlichen Bereich ab“ – damit Angestellte mit dem Auto zufahren können. Die Ansiedlung von Universitäten und Kulturinstitutionen habe sich im Gegensatz zu jener von Firmenstandorten nicht durchsetzen lassen. Und die neugebauten Wohnungen auf der Platte, schreibt Seiss, seien aus Kostengründen extrem dicht errichtet worden: „Es gibt an diesem exklusiven Standort sogar Souterrainwohnungen – was seit Ende der Gründerzeit der Vergangenheit angehören sollte.“
Zurück am Donaukanal betritt unterdessen Uniqa-Manager Ernst Morgenbesser eines der künftigen Hotelzimmer im Nouvel-Tower. Der Tag ist trüb, den Blick auf die Stadt verhängen Nebelwolken – und trotzdem beeindruckt er. Er schweift über das barocke Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, die Flak-Türme im Augarten, den Mexikoplatz mit seiner neuromanischen Kirche, die Reichsbrücke.
Dann bleibt er an den großen Türmen der Donauplatte hängen.
Erschienen im Falter 11/2010
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