Monatsarchiv: Dezember 2009

Stalins Perle

Von Häftlingen errichtet und Privilegien erhalten, erzählt die russische Stadt Workuta wie keine zweite die Geschichte des Sowjetkommunismus. Von maßloser Unfreiheit und ihrem Scheitern

Reportage: Joseph Gepp/Workuta

„Jene, die sich an den heutigen Schwierigkeiten der Sowjetunion erfreuen und die dem Zusammenbruch des Reiches erwartungsvoll entgegensehen, sollten sich daran erinnern, dass solche Veränderungen normalerweise einen sehr hohen Preis haben und nicht immer in vorhersehbarer Weise vonstatten gehen“
US-Historiker Paul Kennedy, 1987, „Aufstieg und Fall der großen Mächte“

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Workuta in den Siebzigerjahren (Foto: Georgi Mamulaschwili)

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Dieselbe Straße, heute (Foto: Joseph Gepp)

Wenn du durch die Stadt gehst, sagt Alexander Kalmykow, achte auf die kleinen Holzpflöcke im Boden, du findest sie hier überall.

Sie sind tatsächlich überall, aber nur, wenn man es weiß. Sie lugen aus den Lacken der Hinterhöfe, aus den Rissen in den Gehsteigen, aus den Büschen vor den kommunistischen Denkmälern. Sie sehen aus wie kleine Baumstümpfe. Schmal, meist schlammverschmiert, ragen sie kaum sichtbar aus der Erde.

Die Pflöcke sind die letzten Überreste des Archipels Gulag, sagt Kalmykow, 60, von der Organisation Memorial, die sich der Historie russischer Straflager widmet. Die Stadt Workuta sei der wichtigste Stützpunkt des Archipels im europäischen Russland gewesen. Jetzt heben sich die Pflöcke jedes Jahr etwas mehr über die Erdoberfläche. Der Permafrost treibe sie heraus, erklärt Kalmykow. Wo einer von ihnen auftaucht, sind auch andere nicht weit. Gemeinsam ergeben ihre Anordnungen Grundrisse: Linien, Palisadenzäune. Quadrate, Wachtürme. Rechtecke, Holzbaracken. Jahr für Jahr steigt, einige Zentimeter weiter, das alte Workuta aus dem neuen.

Die Geschichte der nordrussischen Stadt Workuta, 80.000 Einwohner, am polaren Ostende von Europa gelegen, kann man als großes Experiment betrachten. Als Versuch eines totalitären Staates, ein Projekt zu verwirklichen, ohne im Geringsten auf menschliche Ressourcen und natürliche Voraussetzungen zu achten. Es ist ein Experiment, das – im umfassenderen Sinn – bis vor die Tore Wiens reichte, bis Budapest und Bratislava. In diesem Jahr feierte man pompös sein Scheitern vor 20 Jahren, mit Ansprachen, Feuerwerken und dem zweiten Fall der Berliner Mauer.

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Einer von Alexander Kalmykows Holzpflöcken (Gepp)

Aber in Budapest, Bratislava, Ostberlin ist das Experiment unscharf. Von Vorgeschichten verwaschen. Von Widerständen, Nationalismen, Religiositäten zersetzt.

In Workuta hingegen hat der Kommunismus in Reinform stattgefunden. Vor ihm war leere Fläche, nach seinem endgültigen Scheitern wird leere Fläche sein. Denn die arktische Stadt liegt weitab vom Rest der Welt: Von den nördlichsten bewohnten Landstrichen in südlicher Richtung trennt sie hunderte Kilometer Birkenwald. Und im Norden ist nur noch Eiswüste.

Vielleicht lässt sich daher in keinem zweiten Ort der Welt der Verlauf des Experiments so aufschlussreich betrachten wie hier. Vielleicht zeigen sich die Folgen der völligen Missachtung menschlicher Ressourcen und natürlicher Voraussetzungen nirgends so wie in diesem Geschöpf des Totalitarismus, der Stadt am Ende der Welt.

Sie liegt 70 Zugstunden von Wien entfernt, Schlafwagen, nur einmal umsteigen, in Moskau. Ihre Geschichte beginnt 1928, als Sowjetforscher in der Region Kohlevorkommen entdeckten. Für ihre Ausbeutung, lautet die Vorgabe aus dem Kreml, müsse in kurzer Zeit eine Großstadt samt Industrieanlagen entstehen. Das scheint völlig irreal. Woher sollen die Menschen für die Stadt kommen? Was sollen sie essen, womit Häuser bauen? Hier, mitten in der Tundra, auf zehntausenden Quadratkilometern Leere in jede Richtung. Wo nur braune Büsche und Flechten im immerkalten Wind wogen. Wo keine Bäume wachsen und nichts Genießbares gedeiht. Wo die Natur keine sesshafte Besiedlung vorgesehen zu haben scheint.

Der damalige sowjetische Diktator Josef Stalin entkräftet die Einwände mit schlichten Argumenten: Den Arbeitskräftemangel sollen Häftlinge ausgleichen. Und um dem natürlichen Mangel an Lebensmitteln und Baumaterial beizukommen, müsse man die geplante Stadt eben ans Bahnnetz anschließen. So könnten Holz und Nahrung aus dem fruchtbareren Süden nach Workuta gebracht werden.

Der Zug existiert bis heute, er fährt 40 Stunden von Moskau. Es gebe ein Sprichwort über diese Strecke, sagt Alexander Kalmykow: „Unter jeder Schwelle ein Toter.“ Die Schienen waren 1936, acht Jahre nach dem Kohlefund, fertig. Mit vielen toten Zwangsarbeitern hat Stalin sein erstes Ziel, den Bahnanschluss, rasch erreicht.

Die Bewältigung des zweiten, des Baus einer tatsächlichen Stadt, sollte aber dauern. Workuta war ein Dorf, mehr schien bei allem Einsatz so weit im Norden nicht möglich. In den 30er-Jahren bestand es aus einigen Baracken, Kohlegruben hinter Holzverschalungen, einem hölzernen Klubhaus für Wachmannschaften. Diese ersten Gebäude lagen gegenüber der heutigen Stadt, am anderen Ufer eines Flusses. Der Stadtteil heißt heute Rodnik, „Ursprung“. Wie bei den kleinen Holzpflöcken des Alexander Kalmykow muss man auch in Rodnik zweimal hinsehen, um die Geschichte des Ortes gegenwärtig zu finden: In einen Hang hat man balkenverstärkte Stollen getrieben. Sie liegen heute eingebrochen an einer Uferböschung, die Balken sind von der Nässe biegsam und fasrig geworden.

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Rodnik, Stalins Pompeji (Gepp)

In diesen Stollen lebten die ersten Zwangsarbeiter von Workuta. Später errichteten sie hölzerne Baracken als Behausungen. Laut der Organisation Memorial begann auf diese Art die Verschleppung von insgesamt einer Million Menschen in rund 15 Jahren. Rund ein Viertel von ihnen starb an Unterernährung und Kälte bis zu minus 50 Grad. Die Häftlinge waren Polen, Balten, Ukrainer, Ostdeutsche. Es waren aus dem Weltkrieg zurückgekehrte Rotarmisten, die aus dem Westen verwerfliche Ideen mitgebracht hätten haben können. Es waren, zum geringeren Teil, nazideutsche Kriegsgefangene. Es waren Osteuropäer, denen man Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern zur Last gelegt hatte.

Es war zum Beispiel Frau Galina Dall, 87 Jahre alt. Bis heute lebt sie in Workuta, in einem baufälligen Holzhaus aus den 50er-Jahren, das man später notdürftig mit Ziegeln ummantelt hat. Galina Dall ist Russlanddeutsche aus der Wolga-Region und wuchs in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, auf.

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Galina Dall (Gepp)

„Eines Tages im Jahr 1944“, erzählt sie über ihren Haftgrund, „riss mein Stiefel. Ich sagte verärgert zu meiner Freundin: ‚Was soll ich jetzt tun? Etwas essen oder den Stiefel richten lassen? Mein Gott, ist das ein gottverfluchtes Land!‘“ Die Freundin zeigte sie an. Dall wurde 1944 wegen Landesverrats zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie kam im Viehwaggon nach Workuta und lebte in einem der Stollen.

„Wir waren sechs Frauen in der Brigade. Unser Stollen hatte drei kleine Bettnischen an jeder Seite. Er sah aus wie ein Schweinestall.“ Die Sechserbrigade bestand neben Dall aus einer Estin, einer Litauerin, zwei Wienerinnen, einer russischen Jüdin. Die Frauen mussten Gleise verlegen. Nach Ende ihrer Haftzeit heiratete Dall einen inzwischen verstorbenen Mithäftling, einen Weißrusslanddeutschen. Heute sei ein trauriger Tag, sagt sie unerwartet. Warum? „Heute vor 91 Jahren sind unser geliebter Zar Nikolai II. und seine Familie von den Bolschewiken ermordet worden.“

Als man Galina Dall nach zehn Jahren Haft entließ, im Jahr 1955, war aus Workuta eine Stadt geworden. Stalin, 1953 gestorben, hatte posthum auch sein zweites Ziel erreicht. 27 Jahre hatte es gedauert, dann schien das Projekt zum Bau einer arktischen Großstadt, bei aller ihm innewohnenden Grausamkeit, vollendet.

Kohlenzüge aus Workuta versorgten Leningrad, heute Sankt Petersburg. Die Zwangsarbeiter bauten zum Amüsement der Wachmannschaften ein Stadion mit schönem Portal, einen Kulturpalast, ein Theater. Die monolithische Form der Gebäude, ihre Balustraden und Torbögen entsprachen dem Geschmack des toten Stalin. Im Theater traten inhaftierte Ensemblemitglieder des berühmten Moskauer Bolschoi-Theaters vor ihren Wachen auf, nachdem die Schauspieler das Haus vorher selbst errichten hatten müssen.

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Stalinistischer Prunk. Vor dem Kulturpalast der Bergarbeiter (Gepp)

Die Stadt expandierte. Bald zog man eine 60 Kilometer lange Ringstraße um Workuta, um Platz zu schaffen für mehr Kohlegruben, mehr Gulag-Lager, mehr Wohnraum für Zuzügler, unter denen nun immer mehr freie Bergbauexperten waren. Die neuen Kleinstädte trugen Namen wie „Oktober“, „Komsomolzen-Stadt“ oder „Sowjet-Stadt“.

Doch die Ära der Zwangsarbeiter endete, als sich Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow von der Politik seines Vorgängers distanzierte. Das „Tauwetter“ begann. Um 1960 waren die Gulags von Workuta verschwunden. Chruschtschow zog eine andere Möglichkeit vor, das Experiment fortzuführen. Von nun an sollte das Versprechen von Wohlstand die Sowjetbürger in die Stadt locken.

Workuta sei damals in der Sowjetunion hoch angesehen gewesen, erzählt Olga Gaun, Bildungsbeauftragte des Rathauses. Als eine Stadt, in der man schnell gutes Geld machen könne. Ein Grubenarbeiter verdiente 800 Rubel im Monat, eine Lehrerin, zum Vergleich, knapp 60. Zwar ließen sich diese Unterschiede wegen der Warenknappheit kaum in tatsächlichen Wohlstand umsetzen. Aber die Grubenarbeiter galten als Helden des Volkes. Sie wurden vom Regime hofiert. Nikita Chruschtschow und sein Nachfolger Leonid Breschnew ließen sich die „Perle des Nordens“, wie Workuta bis heute genannt werden will, viel kosten. Bei Anträgen auf Autos und Wohnungen hatten Schachtkumpel Priorität. Ihre Lebensabende durften sie im klimatisch milden Zentralrussland verbringen. Und ein Hotelzimmer an der sonnigen Schwarzmeerküste für sie und ihre Familien stand allzeit bereit.

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Workuta ist der Vorposten der Entwicklung im Polargebiet, steht hier (G. Mamulaschwili)

Insgesamt schien nun, wo die Ära der Zwangsarbeiter vorbei war, Workuta besser zu funktionieren als je zuvor. 320.000 Menschen lebten in den 70ern in der Stadt, mehr als in Graz. Der absurde Plan, eine Großstadt in die Tundra zu stellen, war ohne Abstriche, ohne Konzessionen an die Wirklichkeit wahr geworden: Eine prosperierende monogorod – eine „Mono-Stadt“, die nur eines einzigen Wirtschaftszwecks wegen existiert – war entstanden.

Die Straßen seien damals voller Passanten gewesen, sagt Olga Gaun. Die frischen Farben der Gebäude hätten geglänzt. Den Leuten sei es gutgegangen im gesamtsowjetischen Vergleich. Und wen störte es da schon, dass viele Kohlegruben allmählich ihren Zenit überschritten, langsam unrentabel wurden? Das waren die wirtschaftlichen Kriterien einer ganz anderen Welt.

In den frühen 80ern, nachträglich das „Zeitalter der Stagnation“ genannt, expandierte Workuta noch eifrig. Anstelle der prunkvollen alten Stalin-Häuser errichtete man nun große Plattenbauviertel, wie in vielen anderen Städten des Ostens. In Workuta zieren die alten Phrasen des Regimes immer noch die heute heruntergekommenen Bauten: „CCCP“, „Friede der Welt“, „Kohle für das Mutterland“.

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Miru mir, steht hier: Friede der Welt (Gepp)

Die Wende kam Mitte der 80er, und vorerst äußerte sie sich in kaum wahrnehmbaren wirtschaftlichen Veränderungen. Manche sowjetischen Geschäfte mit dem Westen, vor allem Getreideimporte und Rohstoffexporte, ließen Luft ins planwirtschaftliche Vakuum dringen. Und im hohen Norden, wo natürliche Bedingungen und menschliche Ressourcen noch weniger galten als im Rest des Landes, spürte man diesen Zug schon, als er noch ein laues Lüftchen war.

1989 schloss die erste Grube nahe Workuta. Drei Jahre zuvor hatte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow aufgrund „ernsthafter Rückstände“ zur „Beschleunigung der sozioökonomischen Entwicklung“ geraten. Doch statt sie loszutreten, brachte er das ganze System zum Einsturz. Im Dezember 1991, fünf Jahre nach Gorbatschows Rede, waren auf dem vormals sowjetischen Gebiet 14 Nachfolgerepubliken konstituiert. Plus ein neues Russland, das die folgenden zehn Jahre mit der Anarchie ringen sollte.

In Workuta begann ein rasender Abstieg, der – wie sein Aufstieg – fast nach einem tragischen Märchen klingt:

16 von 20 Gruben wurden geschlossen. Plötzlich galt der Kohleabbau nicht mehr als nationaler Stolz, sondern als gestrig, als Hort der Innovationsresistenz. Anfang der 90er blieben die Löhne bis zu einem Jahr lang aus. Die Kumpel streikten, aber sie waren über Nacht machtlos und entbehrlich geworden. Die Arbeiterfamilien, bisher privilegiert, stellten erschrocken fest, dass sie nicht einmal abwandern konnten. Denn der Wert ihrer hochnördlichen Besitztümer war ins Bodenlose gesunken. Das Geld reichte nicht, um sich anderswo eine Existenz aufzubauen. In Workuta, erklärt eine Redakteurin der Lokalzeitung Sapolarje („Hinter dem Polarkreis“), werden heute Eigentumswohnungen um umgerechnet knapp 200 Euro angeboten. In Moskau kosten vergleichbare Wohnungsgrößen bis zu einer Million Euro. Auf diese Art wurden Workutas Bewohner zu Gefangenen ihrer eigenen Stadt.

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Das Ende eines totalitären Projekts (Gepp)

Die Mehrheit der Bevölkerung reagierte aber rechtzeitig und wanderte ab. Die Einwohnerzahl sank zwischen 1991 und 2007 um rund zwei Drittel, auf 110.000 Einwohner. Später kaufte der Stahloligarch Alexej Mordaschow die verbliebenen Kohlegruben. Er unterzog sie schmerzhaften Strukturreformen. Vor zwei Jahren schien es schließlich, als hätte sich Workuta auf niedrigem Niveau konsolidiert.

Dann aber, im Herbst 2008, brach die Wirtschaftskrise aus und traf besonders Russland mit seiner Fixierung auf Großindustrien und Rohstoffhandel. In Workuta hat Mordaschow seitdem rund eine dreiviertel Milliarde Euro Verlust gemacht. Er strich darauf hunderte Arbeitsplätze. Nach inoffiziellen Gemeindeangaben sind deshalb weitere 30.000 Menschen abgewandert. Es bleiben etwa 80.000 Einwohner.

Das Experiment Workuta, das 60 Jahre lang gelaufen ist, scheint nun auf grotesk schnelle Weise zu scheitern.

Als Erstes, in den 90er-Jahren, verschwanden die Städte entlang der Ringstraße. Von „Oktober“ stehen heute nur noch Plattenbaurippen in der Tundra. In „Komsomolzen-Stadt“ harren einige hundert Alte in drei bewohnten Gebäuden zwischen Ruinen aus. Der Vorortebus, der früher im Zwanzigminutentakt die Ringstraße abfuhr, geht heute zweimal täglich. „Wen soll ich denn da noch hinführen?“, sagt der Chauffeur und grinst.

Als Nächstes traf es Workuta selbst. In den späten 90ern gab die Stadt ihre Viertel jenseits des Flusses auf. Rodnik ist heute eine überwucherte Geisterstadt wie aus einem Roman von Rudyard Kipling, nur liegt es in der Arktis. Das Unterholz lässt Stalins Balustraden zerbersten, hinter einer bröckelnden Säulenkolonnade liegt das eingestürzte Dach des einstigen Kulturpalastes.

Am Ende begann die Innenstadt von Workuta selbst zu schrumpfen. Das Stadtzentrum flankieren heute Ruinen, Wohnhäuser wie Industrieareale, Stalins Torten wie Chruschtschows Platten.

Rechnet man den Bevölkerungsschwund hoch, dann wäre Workuta – selbst wenn man eine abflauende Krise und Konsolidierung der Kohleindustrie mitbedenkt – in spätestens 20 Jahren verschwunden. Seine Ruinen könnten dann als Mahnmal dienen, zum Gedenken an die Achtung natürlicher Bedingungen und menschlicher Ressourcen. Aber mit der Stadt verschwände auch die Bahnlinie, die hunderte Kilometer durch die Tundra nach Workuta führt. Die nahesten menschlichen Besiedelungen lägen dann, wie vor Beginn der Sowjetzeit, hunderte Kilometer weiter südlich.

Die Ruinen von Workuta würden demnach praktisch unerreichbar sein. Sie würden langsam in der Tundra verfallen. Und durch ihre Trümmer würden sich, vom Frost getrieben, die kleinen Holzpflöcke schieben, die zeigen, wie alles begann.

Buchtipp
Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums. C.H. Beck, 447 S., € 26,90

Zum Thema
Zahlreiche „Mono-Städte“ im einstigen Osten existierten alleine eines Wirtschaftszweigs wegen: Das Spektrum reicht von der ostdeutschen Eisenhüttenstadt über das südpolnische Katowice zum ost-ukrainischen Donbass und sibirischen Städten wie Norilsk (Nickel) und Nowy Urengoi (Erdgas). Workuta (Kohle) unterscheidet sich von vielen dieser Städte durch die klimatisch und geografisch extreme Lage
Drei Wochen nach dem Besuch in Workuta erschien in der russischen Wirtschaftszeitung Wedomosti ein Artikel, wonach russische Behörden die „Auflassung“ einiger Monogorody planen. Unter den genannten Städten war auch Workuta.

Erschienen im Falter 51/09

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Ein Kommentar

Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Osteuropa, Reportagen

Neuer alter Gürtel

Einst war er Wiens verrufene Rotlichtmeile. Dann wurde er zum exemplarischen Szeneviertel. Droht das Erfolgsprojekt Gürtel jetzt wieder zu verkommen?

Bericht: Joseph Gepp

Es ist erst viertel neun Uhr abends, als ein unbekannter Mann nahe der U6-Station Thaliastraße in den Weg von Walter Riedl*) tritt.

„Hast du Tschick?“, fragt er. Riedl verneint, und ehe er sichs versieht, hat er die Faust des Fremden im Gesicht. Dann treten vier weitere Männer aus dem Gebüsch. Es sind Jugendliche, 16 bis 19 Jahre alt, serbischer Abstammung. Einer umfasst von hinten seinen Hals, entreißt ihm die Geldbörse. „Du Lügner, du Lügner“, schreien die Angreifer, als sie Zigaretten in Riedls Jackentasche entdecken. Sie drücken ihn zu Boden. „Ich sah schon vor mir, wie sie auf mich eintreten“, erzählt Riedl heute. Doch sie lassen von ihm ab und fliehen mit 40 Euro Beute und einer angebrochenen Packung Zigaretten.

Walter Riedl, 34, arbeitet im Gürtellokal Chelsea, wo er Konzerte organisiert. Drei Wochen nach dem Überfall sitzt er im Josefstädter Café Hummel, blaue Sportjacke, Stirnfransen, und erzählt von der schönen Unmittelbarkeit kleiner Auftritte und von den guten Momenten seines Jobs: „Gossip zum Beispiel. Die füllten erst kürzlich das Gasometer. Und waren vor gar nicht langer Zeit noch im Chelsea. Da kannte sie niemand. Ich hab die Platte gehört und mir gedacht: Aus denen wird noch was.“

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Zielgerichtete Nutzung? Vom Bäcker …

Was ihm aber passiert ist, sieht Riedl nicht als unglücklichen Einzelfall. Denn als er später herumzufragen beginnt, stellt er fest, dass andere Leute aus dem Chelsea-Kreis ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Innerhalb von nur vier Wochen ist auch der Sohn einer Mitarbeiterin überfallen worden, ebenfalls nahe der U6 Thaliastraße. Ein Bekannter ist vor dem Lokal Weberknecht am Lerchenfelder Gürtel angestänkert und bedroht worden. Einen Stammgast hat es beim Kunstglaskubus von Valie Export nahe der U6 Josefstädter Straße erwischt – es ist derselbe Ablauf wie bei Walter Riedl, mit den Zigaretten und der plötzlich auftretenden Verstärkung.

„Vielleicht ist das ja nur selektive Wahrnehmung“, sagt er. „Aber ich habe das Gefühl, dass hier etwas in die falsche Richtung rennt. Dass der Gürtel langsam versandelt.“

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… zum Szenelokal …

Der Gürtel ist eine der größten Erfolgsgeschichten im Wien der vergangenen 20 Jahre. Anfang der 90er war er noch eine verrufene Rotlichtmeile zwischen heruntergekommenen Zinshäusern mit Substandardwohnungen, aufgefädelt entlang einer Straße, deren Verkehrsaufkommen nur noch von der Südosttangente überboten wird. Dazu kamen die vermauerten Stadtbahnbögen, die den einstigen Boulevard – früher „Ringstraße des Proletariats“ genannt – wie ein Sperrwall zerteilten. Den verkehrsumtosten Bögen fehlten weitgehend Strom- und Wasseranschlüsse, sodass sie als praktisch unbenutzbar galten. Zusammen mit der Straße waren sie eine gestalterische Herausforderung, an der sich Architekten und Politiker jahrzehntelang die Zähne ausgebissen hatten.

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… zum Fast-Food-Restaurant …

Heute wälzen sich in lauen Sommernächten tausende Menschen über den Westteil der 13,5 Kilometer langen Straße. Mancher Student aus Deutschland besucht an seinem ersten Abend in Wien den Gürtel, weil er das „Wiener Chelsea“ schon aus Erzählungen kennt. Das rhiz gilt unter Elektronikfans als europäische Adresse, ebenso das B72, von dessen Indiepop-Gigs man weit über Wien hinaus hört. Dazwischen liegen verglaste Bierhäuser, Würstelstände, Büroaufbauten, Fahrrad- und Gehwege, die nachts hell erleuchtet sind.

Der Gürtel hat im Bewusstsein der Wiener eine neue Funktion erhalten. Seine Termine fehlen in keinem Veranstaltungsplan. Er ist das Signum einer Stadt, die mehr als nur Schönbrunn und Mozart bietet. Ein erfolgreiches Exempel dafür, wie man Mankos in Trümpfe ummünzt: die ziegelsteinerne Industrieanmutung, der Verkehr, die ratternde U-Bahn über den Köpfen der Gäste – all diese Eigenschaften kann man bloß als Probleme betrachten. Oder man betont ihr großstädtisch-raues Flair und verwandelt sie solcherart in Vorzüge, deren Charme Nachtschwärmer anzieht.

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… zum Lager.
Alle Fotos von: Heribert Corn

„Vor zwölf Jahren war der Gürtel ein großes Prestigeprojekt“, sagt Herbie Molin, 52, Gründer und Geschäftsführer des rhiz nahe der Josefstädter Straße. Zwar werde die Zahl der Gäste seitdem nicht weniger, denn am Gürtel sei eine „etablierte Fortgehsituation“ entstanden. „Aber die Luft ist aus dem Projekt draußen. Wir fühlen uns hier etwas alleingelassen.“

Das Gefühl speist sich aus mehreren Faktoren, von denen die aktuellen Überfälle nur einer sind. Früher entschied eine hochrangig bestückte Kommission über die Nutzung der Gürtelbögen; heute zeigt sich der Eigentümer – die Wiener Linien – allein dafür verantwortlich. Früher verteilten sich Wiener Obdachlose über viele Teile der Stadt; heute ballen sie sich an einem völlig überlaufenen Tageszentrum in der U6-Station Josefstädter Straße zusammen, das neuerdings bis neun Uhr abends geöffnet hat.

„Wir hatten nie ein Problem mit Obdachlosen“, sagt Herbie Molin. „Aber jetzt hat sich ihre Zahl verfünffacht. Die Sozialarbeiter vom Tageszentrum nebenan werden damit offensichtlich nicht fertig. Im Sommer übernachten neben dem rhiz manchmal bis zu 20 Leute. Betreuung haben sie keine, die sanitäre Lage ist katastrophal.“

Doch es sind nicht die Obdachlosen, deretwegen es innerhalb der Lokale zu Problemen kommt. „Vor drei oder vier Jahren kamen organisierte Diebesbanden auf, die alles gestohlen haben, was nicht niet- und nagelfest war“, sagt Molin. „Handys, Handtaschen, kürzlich sogar das DJ-Pult.“

Am Ende, vor acht Wochen, sah sich der Chef zur Einstellung eines Sicherheitsmanns gezwungen. Das setzte den Diebstählen zwar ein Ende. „Aber schade ist es trotzdem. Denn in Lokalen wie der Nachtschicht schützen die Securities ja vor den Ausläufern des eigenen Publikums. Bei uns aber ist das Publikum völlig problemlos. Wir müssen uns vor dem schützen, was von draußen kommt.“

Er nennt daher eine Forderung, die sonst eher aus anderen Ecken des politischen Spektrums tönt: mehr Polizeipräsenz auf der Straße. „Momentan fährt hin und wieder ein Wagen durch. Dabei sind an Wochenenden tausende Menschen im Grätzel zwischen den Lokalen unterwegs. Auf diese Art bekommen manche das Gefühl, sie könnten hier tun, was sie wollen.“

Als 1995 die Gürtelrevitalisierung begann, wollte man die Sicherheitsfrage vor allem auf gestalterische Art lösen: durch die Steigerung des „subjektiven Sicherheitsgefühls“, wie Experten das nennen. Deshalb ließ Silja Tillner als verantwortliche Architektin die zugemauerten Bögen mit transparenten Glasfassaden versehen und verringerte so die barrierenhafte Anmutung. Gehwege wurden großzügig beleuchtet. Ausufernde Sträucher, in denen Müll lag und Ratten raschelten, wurden zurechtgestutzt.

Ihren Ausgang nahmen diese Mühen aber nicht in Wien, sondern in Brüssel. Mit dem EU-Beitritt Österreichs eröffnete sich die Möglichkeit zur Förderung strukturschwacher Stadtteile. 11,3 Millionen Euro stellte die EU in Aussicht, sofern Bund und Gemeinde die Summe um das Dreifache erhöhen und eine Revitalisierung durchziehen. Die Gelegenheit ließ man sich in Wien nicht entgehen. Zumal der dafür Verantwortliche, der damalige SPÖ-Planungsstadtrat Hannes Swoboda, als ausgesprochener Befürworter des Gürtelprojekts galt.

Eine „Gürtelbogenvergabekommission“ wurde gegründet, aus Rathausbeamten, Architekten und Vertretern der Wiener Linien. Sie existierte bis 2000 und sollte dem verwaisten Grätzel kulturelles Leben einhauchen.

„Wir haben viele lange und gute Gespräche geführt“, sagt rhiz-Chef Molin. „Es war damals nicht leicht, einen Gürtelbogen zu bekommen. Und dementsprechend gut hat die Sache funktioniert.“

Glaubt man Lokalbetreibern und langgedienten Mitarbeitern, dann ist damals durch das Brüsseler Engagement und die richtige Mischung an heimischen Verantwortlichen eine Dynamik entstanden, die andere Projekte in Wien so schnell nicht aufweisen. „In dieser Kommission sind Leute zusammengekommen, denen der Gürtel ein wirkliches Anliegen war“, sagt Ernst Weingartner, Gründer des B72. „Die Architektin Tillner zum Beispiel, der Stadtrat Swoboda, der damalige Wiener-Linien-Verantwortliche Martin Oedendorfer – diese Leute halfen dabei, Probleme durchzuboxen und das Projekt ins Rollen zu bringen.“

Und es rollte. Im Sommer 1997 lockte der „Night Walk“ erstmals die Nachtmenschen an den Gürtel, später sollte er zu einem Höhepunkt im Wiener Veranstaltungsjahr werden. Drei Jahre später waren 22 von 30 EU-geförderten Stadtbahnbögen renoviert und verglast. Zwei weitere Jahre später wurde am Urban-Loritz-Platz die große Hauptbibliothek samt vorgelagertem Membrandach eingeweiht.

Zu diesem Zeitpunkt war das EU-Projekt allerdings schon ausgelaufen. Die Zuständigkeit für die Vergabe der Bögen war von der Kommission zurück an die Wiener Linien gegangen. „Es hat einen Generationswechsel gegeben“, sagt Architektin Tillner. „Das heißt auch, dass jene Leute, die sich damals engagiert haben, heute nicht mehr zur Verfügung stehen.“ Sie selbst hat sich anderen Projekten zugewandt. Ex-Planungsstadtrat Swoboda sitzt heute als EU-Parlamentsabgeordneter in Brüssel. Und Martin Oedendorfer von der Rechtsabteilung der Wiener Linien ist inzwischen in der internen Hierarchie aufgestiegen und für die Bögen nicht mehr direkt verantwortlich.

„Natürlich ist uns der Gürtel und sein kulturelles Angebot nach wie vor wichtig“, erklärt Oedendorfer. „Es liegt ja auch in unserem Sinn als Eigentümer, dass dort eine Aufwertung stattfindet. Allerdings sind wir als Vermieter ans Mietrecht gebunden und können auf Preispolitik oder musikalische Programmierung der Lokale nur wenig Einfluss nehmen.“

Oedendorfer spielt damit auf eine häufig geäußerte Kritik an: dass Bögen, die noch frei wären, oft an Betreiber gingen, die später Billigschnaps à la Ballermann anbieten oder mit Gratiscocktails für Besucherinnen männliche Gäste zum forcierten Aufriss fordern. Diese Lokale liegen um die Nußdorfer Straße, nördlich des ehemaligen EU-Projektschwerpunkts zwischen Josefstädter und Thaliastraße. „Wenn ich am Sonntagvormittag vor die Haustür trete“, sagt ein Anrainer, „dann brauche ich nur den Spuren des Erbrochenen zu den Lokalen zu folgen.“

„Es wäre schön“, sagt B72-Chef Ernst Weingartner, „wenn es wie früher wieder Vertrauenspersonen gäbe. Wenn wieder ein oder zwei Leute dezidiert für den Gürtel zuständig wären.“

*) Weil die polizeilichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, bat Walter Riedl, seinen echten Namen nicht zu nennen

Erschienen im Falter 51/09

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Eingeordnet unter Wien

STADTRAND – Die Gefahr klingelt leise und nennt sich WHAM

Jahrzehnte haben aufrechte Musikfans gestritten, ab wann man eine Band nicht mehr gut finden darf, weil sie sich an den Kommerz verkauft hat. Wenn sie da oder dort konzertiert? Mit diesem oder jenem Gaststar? Wenn ihr neues Album auf CD statt im Netz erscheint? Der Falter hat nach langen kulturwissenschaftlichen Studien eine Antwort auf die Frage gefunden: Die Band sei unten durch, wenn sie einen Weihnachtshit produziert. Weihnachtshits sind schlechte Lieder, die von schlechten Radiosendern gespielt werden. Unaufhörlich. Immer, immer wieder. Dass Weihnachtshits mindestens so schädlich sind wie Computerkriegsspiele oder permanenter Marihuanakonsum, hat nun dankenswerterweise die Gewerkschaft der Privatangestellten erhoben und auf Burn-outs und Ohrenschäden bei Verkaufsangestellten hingewiesen. Also, Entscheidungsträger, worauf wartet Ihr noch! Muss immer erst etwas passieren? Schafft Schutzzonen. Sperrbezirke. Ruheinseln. Sperrt den Weihnachtshit weg! Beschallt damit Terroristen in Guantanamo. Aber nicht den aufrechten Musikfan.

Erschienen im Falter 51/09

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Eingeordnet unter Konsum, Stadtrand

Meidling ist der neue Süden – die große Welt am kleinen Bahnhof

Zwischen 13. Dezember 2009 und dem fernen Jahr 2013 – während also der Südbahnhof neu errichtet wird – heißt der größte Bahnhof Österreichs „Wien-Meidling“. Den leicht anachronistischen Charme des Zugreisens wird dort zwar so schnell keiner zu spüren bekommen, dazu fehlt schon einmal die großzügige Halle. Aber in praktischer Hinsicht scheinen Wiener Linien und ÖBB gut auf die täglich etwa 55.000 Reisenden vorbereitet, die nunmehr ihre Ankünfte und Abfahrten im etwas peripher gelegenen Arbeitergrätzel zu bewältigen haben:

So wurde etwa die U6, die nach Meidling führt, aufgerüstet. Zwei zusätzliche Züge auf der Strecke reduzieren die Intervalle von drei auf zweieinhalb Minuten. Dazu wurde die Linie rechtzeitig vor der Südbahnhof-Sperre gänzlich auf Niederflurwagen umgestellt. Das erhöht die Fahrgastkapazität laut Wiener Linien auf ein Viertel. Aufgestockt wurde auch die Straßenbahnlinie 62, die von Meidling ins Zentrum fährt. Trotzdem warnen die Wiener Linien vor einer hohen Auslastung, man möge auch die „Nutzung von Schnellbahnen und Regionalzügen vorübergehend in Betracht ziehen“.

Das betrifft nicht nur Reisende der Südbahn (etwa Klagenfurt, Graz oder Ljubljana). Auch wer in die Tschechische Republik oder nach Polen fährt, wird nunmehr in Meidling seine Reise beginnen – wobei der täglich jeweils erste und letzte Zug am Praterstern abfährt und ankommt. Wer sonst wohin in den Osten will, beispielsweise nach Budapest, Belgrad oder Rumänien, startet nach wie vor – kurioserweise – am Westbahnhof. Von dort fahren auch unverändert jene Züge, die tatsächlich gen Westen gehen, nach Deutschland oder in die Schweiz.

Was vom alten Südbahnhof in Betrieb bleibt, sind ein paar Bahnsteige und der komplette unterirdische Teil – die Ostbahn-Regionalzüge und die Haltestelle für Schnellbahnen. Wer also zum Beispiel vom Südbahnhof die S-Bahn nach Wien-Mitte oder Praterstern nehmen will, kann das nach wie vor tun. Der improvisierte Eingang zur Station liegt nunmehr an der Arsenalstraße beim Schweizergarten. Unmittelbar davor halten der Bus 69A und die Straßenbahnlinien O und 18.

Und in Meidling selbst? Hier informieren ÖBB-Mitarbeiter mit Flugblättern über Veränderungen, zusätzlich wurden 70 Info-Bildschirme installiert. Parkplätze könnten knapp werden, es empfiehlt sich daher die Anreise per öffentliche Verkehrsmittel. Da die Bahnhofsgröße und Bahnsteiganzahl trotz aller Umstellungen und Umbauarbeiten nicht auf den Fernverkehr ausgelegt sind, stehen die Züge nicht mehr wie gewohnt eine halbe Stunde vor Abfahrt am Gleis, sondern nur wenige Minuten. Gemächliches Koffereinladen wird also ebenso baustellenbedingt eingeschränkt wie der letzte Liebesschwur zwischen Zugfenster und Bahnsteig. Wer das tun will, sollte in den kommenden Jahren möglichst nicht in den Süden reisen – oder erst 2013 wieder schwören.

Erschienen im Falter 50/09

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Eingeordnet unter Stadtplanung, Verkehr, Wien

Gelesen: Für immer Pulverfass im Hinterhof

Ohne Metaphern à la „Hinterhof“ oder „Pulverfass“ geht es leider nicht. Davon abgesehen ist Olaf Ihlaus und Walter Mayrs „Minenfeld Balkan“ ein lohnendes Werk: differenziert und frei jeder Parteinahme. Historisch gehen die beiden Spiegel-Autoren sehr weit zurück, bis zur Amselfeldschlacht 1389, ein balkanologisches Muss, da derlei Uraltereignisse heutigen Konflikten als Vorwand dienen. „Minenfeld Balkan“ erspart dem Leser den Zweckoptimismus des offiziellen Europa. Stattdessen werden die Probleme der 90er-Jahre fortgeschrieben und gipfeln in düsteren Bestandsaufnahmen, etwa über das Nichtfunktionieren Bosniens und des Kosovo oder die schleichende Islamisierung Sarajevos.


Olaf Ihlau, Walter Mayr: Minenfeld Balkan.Der unruhige Hinterhof Europas. Siedler, 304 S., € 23,60

Erschienen im Falter 50/09

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Eingeordnet unter Balkan, Bücher

STADTRAND – Eine Weltstadt putzt. Einige Anregungen

Bösartig derjenige, der an die bevorstehende Wien-Wahl denkt, nur weil U-Bahn-Züge momentan dermaßen nach Reinigungsmitteln riechen, dass man fast high wird davon. Nur weil eine Putzfrau ein Fenster so sorgfältig poliert, als wäre es der Glassturz über der Kaiserkrone in der Hofburg. Nur weil ein Mann mit Müllsack fragt, ob man die Zeitung auf dem Nebensitz noch zu lesen gedenke oder sie schon zur Entsorgung freigegeben sei. Nein, das ist nicht der Wahlkampf. Wir sollten endlich aufhören, über irgendwelche verborgenen Ursachen zu spekulieren. Das Raunzen stoppen. Das städtische Leben positiv sehen. Als Chance. Warum zum Beispiel überlegen wir nicht, welche Möglichkeiten uns die Wohlfühl-U-Bahn außer Sauberkeit sonst noch bieten könnte? Zigarrenabteile mit Ledercouches vielleicht. Eine Schnapsbar in jedem dritten Waggon. Zeitungsständer mit der Frankfurter Allgemeinen statt Heute. Befrackte Kellner, die mit verspiegelten Tabletts durch Abteile schreiten und Gratisespressi anbieten. Dann endlich wäre Wien so schön, wie es nie war.

Erschienen im Falter 49/09

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtrand

Buch der Stunde

Man könnte es als „Umbruchsliteratur“ bezeichnen: In immer mehr Büchern (und Filmen) hetzen junge Existenzen durch improvisierte Lebensläufe, meist vor einem sich rasant wandelnden, urbanen Hintergrund – gerne in Moskau, Neu-Delhi, Peking oder Berlin. Diese Literatur versucht das vage, kaum definierbare Grundgefühl einer Zeit in Worte zu fassen. Das gelingt ihr mal mehr und mal weniger gut: Manchmal beschränkt sie sich darauf, den Charme des Sich-irgendwie-durchs-Leben-Schlagens oberflächlich zu verherrlichen, in anderen Fällen erreicht sie dafür fast Balzac’sche Dimensionen.

Einer der Meister des neuen Genres heißt Serhij Zhadan, ist 35 Jahre alt und stammt aus der ostukrainischen Industriestadt Charkiw. Sein neues Buch, „Hymne der demokratischen Jugend“, ist ein wahres Schmuckstück der Umbruchsliteratur, das auf anekdotische Weise ganz ernsthaft eine Epoche anschaulich machen will. Was der Autor seinen Protagonisten in den Mund legt, beschreibt den Postkommunismus der späten 90er-Jahre: Das Alte gilt nicht mehr und das Neue noch nicht. Zhadans Epoche ist chaotisch, sie erfordert Improvisationsgeschick und Rücksichtslosigkeit, sie ermöglicht schnelle Auf- und Abstiege und lässt absolut keine individuelle Stabilität zu.

Erzählt wird zum Beispiel vom Scheitern des ersten in Charkiw eröffneten Schwulenklubs oder von einem privaten Bestattungsinstitut, das in aller Eile hochgezogen wird, nachdem der Staat sich plötzlich nicht mehr um diese Dinge kümmert. Ständig suchen die Protagonisten nach kleinen (und völlig austauschbaren) Markt- und Existenznischen und kommen sich dabei dauernd in die Quere, weil alles so ungeregelt, so dilettantisch, so überhastet, so kaltschnäuzig abläuft. Dem unbedingten Willen, ein Projekt zu beginnen, steht die tiefe Ahnungslosigkeit gegenüber, wie man es wohl über die Anfangsphase retten und langfristig erhalten könnte.

Es sind tatsächlich die ganz großen Themen, die in Serhij Zhadans Geschichten aufleuchten und das Buch so lesenswert machen. Und wenn man es schließlich weglegt, meint man, eine ganze Epoche verstanden zu haben.

Serhij Zhadan: Hymne der demokratischen Jugend. Roman. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, 185 S., € 20,40

Erschienen im Falter 49/07

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Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Osteuropa