Sie sind mit Avocado umhüllt und mit Hüttenkäse gefüllt, und auf ihnen prangt noch eine dicke Schicht rotleuchtender Kaviar, ganz schön barock, diese Moskauer Sushi.
Ein Samstagabend im Altweibersommer, Moskau protzt. Die junge neue Mittel- und Oberschicht hat sich maximal herausgeputzt und promeniert die Twerskaja- und Arpad-Straße hinunter. Sie isst barocke Sushi, trinkt irisches Bier in Pubs, besucht teure Clubs oder spaßeshalber auch mal eine „Stolochwaja“ – ein kantinenartiges Retro-Lokal, in dem Warteschlangen, Automaten-Brause und altbackene Tischtuchmuster altes Sowjet-Flair verbreiten wollen.
Sergej Kolosowskij, 28, Architekt, Teil der neuen Moskauer Mittelschicht
Moskau, größte Stadt Europas, 10 Millionen Einwohner, ist ein achtspurig befahrbarer Moloch zwischen stalinistischen Zuckerbäckerbauten; ein eiliges, extremes, immer übernachtiges, niemals ausgeruhtes Ungetüm. Eine Stadt, deren Bürgermeister Flugzeuge mit Chemikalien in den Himmel schickt, um für sonnige Feiertage zu sorgen. Eine Stadt, in der vor einigen Jahren der größte Swimmingpool der Welt zugeschüttet wurde, um an seiner Stelle die größte orthodoxe Kathedrale der Welt hochzuziehen.
In einer russischen Zeitung liest man an diesem Samstag ein Interview mit einem Lebensberater, der reichen Moskowitern schwierige Entscheidungen abnimmt. Er erzählt von einer seiner Klientinnen, die von ihrem Liebhaber 12.000 Dollar Taschengeld im Monat erhält. Aber sie sei unglücklich, denn sie liebe den Mann nicht. Der Berater empfiehlt ihr darauf die Trennung, die Frau befolgt den Rat. Jetzt habe die Klientin einen neuen Freund, erzählt der Berater. Der stecke ihr zwar nur 10.000 Dollar monatlich zu. Aber sie sei verliebt und glücklich.
Größenwahn mit Schönheitsfehler: Stalin-Bau mit zwei ungleichen Flügeln…
Die rasende Veränderung, die täglich neu eröffneten Lokale und Geschäfte, die schnell abgerissenen Alt- und eilig hochgezogenen Neubauten, der vierundzwanzigstündig dröhnende Verkehr, die vielen, vielen Chancen und Risiken für den Einzelnen – das alles nehme den Leuten hier die Orientierung, sagt Sergej Kolosowskij, ein knapp 30-jähriger Architekt. Das alles mache die Leute hier langsam wahnsinnig.
Sergej studierte Architektur im sibirischen Irkutsk, Tausende Kilometer entfernt. Als er fertig war, häuften sich schon die Job-Angebote verschiedener Moskauer Architekturbüros. Sergej übersiedelte, und schnell war er Teil jener neuen Mittelschicht geworden, die die realsozialistische Lebenswelt ihrer Elterngeneration weit hinter sich gelassen hatte. Heute wohnt er im Stadtzentrum. Zwei Stunden täglich betreibt er Joga. Denn anders, sagt er, lasse sich das schnelle Leben dieser Stadt nicht bewältigen.
Wir spazieren durch die Altstadt, Sergej hat einige Arbeitskollegen mitgebracht. Die Häuser erzählen Geschichten, die die Architekten kennen und zu deuten wissen. Ein altes Kloster beispielsweise, das samt Möbel und Bewohnern zehn Meter von der Straße weggerückt wurde, weil Stalin eine einheitlich monolithische Straßenfront bevorzugte. Ein großer Zuckerbäckerbau mit zwei verschieden gestalteten Flügeln, denn derselbe Diktator hatte versehentlich zwei Entwürfe des Gebäudes abgesegnet – und niemand wagte nachzufragen. Ein neugebauter Wolkenkratzer, der neuerdings gerüchteweise um sechs Stockwerke verkürzt werden soll, Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow wünsche das so.
Wolkenkratzer in der Krise: Was gebaut wird, wird noch fertig gestellt. Und was nur geplant wurde, wird vertagt.
Ob im letzten Fall allerdings allein der bürgermeisterliche Geschmack der einzige Grund für den zu verkürzenden Wolkenkratzer ist, darüber sind sich die Architekten nicht einig. Denn die Wirtschaftskrise zwingt die Stadt derzeit zur Bescheidenheit. Wie eine dunkle Wolke schwebt sie über den Büchern der Architekten und über Moskaus rasendem Aufstieg. Sie hat Russland härter getroffen als viele andere Staaten. Und sie trifft insbesondere die Hauptstadt, wo achtzig Prozent des jährlichen nationalen Wirtschaftsaufkommens stattfinden (12 Prozent sind es in Sankt-Petersburg, 8 Prozent im Rest Russlands). Nun werden noch jene Bauten fertig gestellt, die bereits begonnen wurden. Und was bislang nur geplant war, wird vertagt.
Sergej wird jetzt kündigen, erzählt er, und mit dem ersparten Geld drei Monate durch Indien reisen. In seinem Büro, wo man bis vor kurzem noch unter Klienten wählen konnte, bleiben nun die Aufträge aus. Diesen Monatsbeginn fand Sergej erstmals kein Gehalt auf seinem Konto. Jetzt will er durchtauchen. Er sagt, die Krise werde hoffentlich vorbei sein, wenn er Anfang nächsten Jahres wiederkomme.
Und überhaupt, sie habe aber auch ihr Gutes, diese Krise, sagt Sergej. Denn nun sei die Zeit zur Einkehr gekommen. Die Zeit der unaufgeregten 40-Stunden-Wochen. Nun könne man verschnaufen, das Erreichte betrachten, über die Zukunft nachdenken.
Am Abend sitzt er am Balkon seines Plattenbaus und betreibt seine Joga-Übungen. Er habe jetzt mehr Zeit dafür als früher, meint er. Und unter ihm donnert achtspurig der Verkehr die Twerskaja-Straße entlang.