Erschienen im Reiseblog Tripwolf, August 2009
Man findet sie auf den Geröllhalden ums Dorf. Zwischen den parkenden Autos. Am Ufer der Barentsee. Sie schnüffeln an den Fensterbrettern und an den Stiegen der Hauseingänge. Sie stapfen in Rudeln durch die kalten Lacken von Gamvik.
ein rentier, ganz nah
Rentiere sind hier – am nördlichsten Zipfel von Norwegen – allgegenwärtig. Man kann aus einem beliebigen Fenster des Ortes blicken, im Normalfall wird man sie irgendwo herumstaksen sehen. Und am Ende des Sommer, wenn sie ihre Kälber geworfen haben, werden es noch mehr von ihnen sein. Sie vermehren sich wie die Karnickel.
Die Rentiere leben nicht hundertprozentig in freier Wildbahn, erfahre ich von Ellinor Utsi, einer Samin. Die Samen, früher Lappen genannt, sind die nordischen Ureinwohner. Rentierzucht ist seit Jahrhunderten ihre Domäne.
Die Samen teilen sich in verschiedene große Familien, in Clans, erklärt Frau Utsi. Die Rentiere der Halbinsel Nordkinn etwa, wo Gamvik liegt, gehören zehn dieser Familien. Insgesamt sind es rund 2000 Tiere auf der ganzen Halbinsel (es scheint deutlich mehr). Den Winter verbringen die Rentiere im Landesinneren, weiter im Süden, weg von der Küste. Im Sommer treiben sie Samen dann hinauf in den Norden.
Warum? Rentierzucht in Norwegen ist ein faszinierendes Zusammenspiel aus tierischem Instinkt, menschlichem Wirtschaftstreiben und dem (norwegischen) Staat als ordnende Instanz – und als Subventionsgeber.
Zunächst zum tierischem Instinkt: Ein alte samische Legende besagt, dass die Rentiere auf den Sonnenstrahlen auf die Erde hinabgestiegen sind und auf diese Art an der nördlichen Küste eintrafen. Seitdem zieht es sie immer zu ihrem Geburtsort, der Sonne, zurück. Diese Legende hat einen wahren Kern: Die Rentiere wollen zur Sonne. Den Sommer verbringen sie an der nördlichen Küste, wo sie polartagsbedingt 24 Stunden scheint. Den Winter verbringen sie im südlicheren Landesinneren, wo die Polarnacht nicht ganz so finster ist. Dazwischen werden sie instinktiv nervös und fangen von alleine an zu wandern – und die Samen, ihre halbnomadischen Hirten, mit ihnen.
Jetzt zum menschlichen Wirtschaftstreiben: Die Samen gewinnen aus den Rentieren Fleisch, Fell und Leder. Rentiere waren schon immer ihre Lebensgrundlage. Alle anderen Waren wurden früher gegen Rentierprodukte getauscht.
ellonor utsi samt ehemann in traditioneller sami-tracht
Woher weiß man, welches Rentier zu welchem Clan gehört? Die Tiere laufen ja frei herum, es gibt keine Gehege.
Wenn die Tiere von allein in den Norden oder Süden wandern, werden sie an einem Gatter abgefangen und gezählt. Dieses Gatter liegt genau auf jener schmalen Landzunge, die die Halbinsel Nordkinn mit dem Festland verbindet. Die Samen schneiden ihnen dann kleine Kerben ins Ohr. So wissen sie, welches Rentier welcher Familie gehört.
Die Rentierkühe gebären nur im Sommer – also an der nördlichen Küste. Das Jungtier bleibt dann ständig bei seiner Mutter. Wenn Kuh und Kalb im Herbst gen Süden wandert, gelangen sie beide ans Gatter, wo das Kalb markiert und seinen menschlichen Besitzern zugeordnet wird.
Bleibt der Aspekt des Staates als ordnende Instanz: Ich frage Ellinor Utsi, wieviele Rentiere ihre Familie besitzt. Sie erklärt mit, dass man so etwas nicht frage – das wäre ungefähr so, als würde sie meinen Kontostand wissen wollen.
Die Clans müssen jährlich beim norwegischen Staat eine Erklärung einreichen, wieviele Rentiere sie besitzen. Wie eine Steuererklärung. Wenn die Rentiere dann am Gatter zwischen Nord und Süd abgefangen, gezählt und markiert werden, kommen hin und wieder staatliche Beamte vorbei und achten darauf, ob die Zahl der tatsächlichen Tiere mit jener auf dem Formular übereinstimmt. Wie eine Steuerprüfung.
Der norwegische Staat zahlt nämlich dem Samen je Rentier eine bestimmte Summe an Subventionen. Er konvertiert sozusagen die Währung Rentier in die Währung norwegische Krone. Und sorgt auf diese Art dafür, dass das althergebrachte System der skandinavischen Rentierzucht aufrecht erhalten bleibt. Auch wenn man heutzutage nicht mehr einfach Rentierfell gegen Fisch oder Kartoffeln tauschen kann.