Ihre Väter teerten Straßen und servierten Tee. Sie selbst führen Handelsketten, besitzen Immobilien und Großrestaurants. Wie in Wien eine neue türkische Mittelschicht entstand
Reportage: Joseph Gepp
Die Geschichte von Hüseyin K1l1c’ Aufstieg beginnt im Jahr 1990, mit 20 Tonnen Lammfleisch.
Sie sollten aus der Slowakei importiert werden, als Grundstock für den ersten eigenen Laden. Aber das Geld fehlte, und weil Lammfleisch nicht nach Innovation und neuer Technologie riecht, verweigerte auch die Bank einen Kredit. Also suchte K1l1c in der türkischen Gemeinschaft nach Hilfe. Zwei Tage später drückte ihm ein Freund ein Überbringersparbuch in die Hand, eine halbe Million Schilling, das dazugehörige Passwort stand auf einem Notizzettel. Ein Gastarbeiter hatte es in Jahrzehnten angespart, nun verborgte er es zinsenfrei, denn „Zinsen sind unislamisch“, sagt K1l1c.
Heute sitzt K1l1c in einem Schanigarten im Ottakring. Er trägt ein leger gestreiftes Hemd wie ein Banker am Casual Friday. Er trinkt Schwarztee aus einem tulpenförmigen Glas, und alle drei Minuten klingelt hinter einer schwarzen Lederhülle sein Handy.
Der hilfsbereite Gastarbeiter sollte sein Geld bald wiedersehen. Denn K1l1c, 46, aus der Schwarzmeerstadt Trabzon, gründete seinen Laden. Er arbeitete hart, erzählt er, zwölf Jahre lang, sechsmal pro Woche von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends. Aus seinem Geschäft sprossen bald 15 Filialen, aus fünf Angestellten wurden 80, der Umsatz verdoppelte sich jährlich. „Etsan“ ist heute eine veritable mittelständische Supermarktkette für die türkische Gemeinschaft.
Hüseyin K1l1c gehört zu einer Gruppe, von der man nicht viel hört in Österreich. Denn Ausländer rufen hier wahlweise Angstreflexe oder Schutzinstinkte hervor. „Integration“ heißt das Schlagwort, und diese muss gefördert, erzwungen, ermöglicht oder erleichtert werden. Dass zwischendurch auch selbstbestimmte Subjekte ihre individuellen Lebenswege gehen – und nicht selten dabei erfolgreich sind –, das findet in dieser Erzählung keinen Platz.
Vielschichtige Mittelschicht
So ist in Wien in den vergangenen 15 Jahren eine türkischstämmige Mittelschicht entstanden, die kaum jemandem aufgefallen ist. 25.000 bis 30.000 Personen, ein Viertel der hiesigen Türken, soll sie umfassen, sagt der Migrationsexperte August Gächter. Türkische Unternehmer beschäftigen österreichische Angestellte, in Ottakring werden Wohnungen, gar Häuser von wohlhabenden Migrantenfamilien gekauft. Es ist eine heterogene Schicht, kein Merkmal eint sie; weder binden sie sich an ihre alte Heimat noch leben sie völlig von ihr abgekapselt; weder sind sie gänzlich in der österreichischen Mehrheit aufgegangen noch lehnen sie sie ab. Gemeinsam ist ihnen nur, dass ihr Einkommen und ihre Lebensverhältnisse etwa dem österreichischen Durchschnitt entsprechen. Und dass Wiener Türken damit längst nicht mehr nur kleine Kebabbrater und Marktstandler sind.
In den 80er-Jahren war das anders. Da waren Einwanderer tatsächlich großteils das, was man ihnen nachsagt. Was seitdem passiert ist, ist schwer zu fassen. Denn Zahlen und belegte Fakten gibt es kaum. Die Quellenlage ist dünn, Zuwanderer scheinen kaum in Statistiken auf, sobald sie eingebürgert sind – was bei rund drei Vierteln der Wiener Türken der Fall ist.
Beispiele für die Mittelschicht Mehmet Kocak, 44. Sein Vater war Viehhändler in Yozgat,
Anatolien. 1999 übernahm er das kleine Lokal „Etap“ in
Ottakring, wo er vorher als Kellner gearbeitet hatte. Heute
betreibt Kocak zwei große Restaurants. „Selbst der schwierigste
Kunde muss zufrieden sein, dann funktioniert es“, sagt er
Foto: Heribert Corn
Eine Entwicklung, die zur Entstehung der neuen Mittelschicht geführt haben könnte, lässt sich trotzdem festmachen. Man könnte sie als Linie begreifen, unregelmäßig, mit wilden Schlenkern nach vorne und zurück, aber insgesamt doch in eine Richtung weisend.
Am Anfang dieser Linie steht der Kebabbrater der 80er-Jahre, Besitzer und einziger Angestellter seines Betriebs, der Sprache kaum mächtig, überfordert von seiner vielköpfigen Familie, von Ämtern und Auflagen. Die Linie führt weiter über Leute wie Hüseyin K1l1c, der vom Kleinladenbesitzer zum Unternehmer wurde, der Behörden wie Mitarbeiter zu managen weiß – aber trotzdem türkische Waren für türkische Kunden anbietet und sich dabei auf traditionelle islamische Werte beruft. Und die Linie endet zum Beispiel bei Adem Köse in der Gumpendorfer Straße.
Teure Designerwaschbecken
Köse, 32, betreibt ein großes Installationsgeschäft, ein mittleres Unternehmen, wie es im Buche steht, wie es immer wieder als Rückgrat der österreichischen Wirtschaft beschrieben wird. Sein Vater war Bauer in Zentralanatolien. Muslim sei er zwar, sagt der Sohn, aber sonst habe er mit Religion nicht viel am Hut. 95 Prozent seiner Kunden sind gebürtige Österreicher. Im Geschäftslokal mit den großen Schaufenstern steht sanitärer Luxus für die Oberschicht, eckige Designerwaschbecken neben chromblitzenden Armaturen, das dazugehörige Prospekt preist die „Raindance Duschbrause“ und die „Wohlfühloase im eigenen Zuhause“.
Köse beschäftigt 17 Personen, vor fünf Jahren begann er allein, nur mit seinem Bruders. Mit der türkischen Geschäftswelt habe er nicht viel zu tun, sagt er. „Ich stamme halt aus der Türkei. Und das war’s auch schon.“
In Deutschland, wo man sich intensiver als hier mit Minderheiten auseinandersetzt, haben Soziologen längst Begriffe entwickelt, die solche Phänomene erklären sollen: Unter „ethnische Ökonomie“ würde dort etwa Hüseyin K1l1c’ Supermarktkette fallen, weil er in der Sphäre türkischen Wirtschaftens bleibt. „Generation Eineinhalb“ heißen dort jene Menschen, die auf halbem Weg zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Werten – und Kontakten – ihres Herkunftslandes stehen.
Beispiele für die Mittelschicht Asker Günes, 51 An einem Julisamstag 1971 kam er von der
türkisch-armenischen Grenze nach Wien, wo sein Vater als
Bauarbeiteter lebte. „Ich habe untertags gearbeitet, am Abend
die Sprache gelernt“, erzählt Günes. Heute betreibt er ein
großes Teppichgeschäft in der Innenstadt
Foto: Heribert Corn
Es ist also der Markt, der die Grenze zieht, der die Position auf der imaginären Linie vom Kebabbrater zum Unternehmer bestimmt. „Je höher der Umsatz“, sagt der Migrationsforscher August Gächter, „desto unwichtiger wird die alte Bindung an Werte und Religion.“ Um Erfolg zu haben, muss man seine Kundenschicht verbreitern, auf die Mehrheit zugehen – und mit der ethnischen Ökonomie verlässt man auch seine alte Weltsicht.
In Österreich, wo Ausländer als Aufsteiger nicht ins politische Konzept und die gesellschaftliche Debatte passen, hat sich nur eine einzige Studie der wirtschaftlichen Tätigkeit von Zuwanderern gewidmet. Wirtschaftskammer und Rathaus stellten 2007 fest, dass rund ein Drittel der Wiener Einzelunternehmer Migrationshintergrund haben. Welche Nationalitäten darüber hinaus in welchen Branchen tätig sind und welche Community über wie viel Wohlstand verfügt, dafür reichten die Quellen nicht.
Ein kaum erforschtes Feld
So muss man sich auf Schätzungen verlassen. Nur eine Minderheit der Wiener Türken sei als Gastronomen und Kleinladenbesitzer tätig, sagt etwa der österreichisch-deutsch-türkische Integrationsexperte Kenan Güngör. „Vielleicht vermittelt der Augenschein einen anderen Eindruck. Aber es gibt eine tiefgreifende Professionalisierung und Diversifizierung in der türkischen Gemeinde.“ Mit dem Aufstieg in die Mittelschicht vergrößere sich die Anzahl der Branchen; Türken betreiben heute Putz- und Computerfirmen, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe. Sie lassen die „Generation Eineinhalb“ hinter sich, weil die Orientierung an der Mehrheit eben mehr Kaufkraft und Profit verspricht.
Spricht man mit Angehörigen der Mittelschicht selbst, dann fällt – bei allen diesen Schattierungen, bei allen möglichen Positionen auf der imaginären Linie – nur eine Gemeinsamkeit auf: Sie beziehen sich trotz Professionalisierung auf religiöse Werte, zumindest öfter, als das im Vergleich mit Österreichern der Fall wäre.
Türken in Wien sind generell religiöser als Österreicher, aber auch als Türken in der Türkei. In Ottakring etwa tragen mehr Frauen Kopftuch als selbst in osttürkischen Großstädten. Diese Religiosität ergibt sich aus der speziellen Geschichte der Türken in Österreich – jener der Gastarbeiter.
Im Sommer 1964 kamen sie erstmals am Südbahnhof an. Zwei Jahrzehnte lang hausten sie in übervollen Baracken und stickigen Wohnheimen. Viel zu lang meinte man, sie würden wieder gehen.
Österreich investierte nicht in die Fertigkeiten der Gastarbeiter. Genauso wenig interessierte sich jedoch ihr Herkunftsland, die Türkei, für sie. Dort waren sie zwar als Devisenbringer angesehen. Als Chance hingegen begriff man sie nie. Zu weit waren die anatolischen Bauern von den Zentren Istanbul und Ankara entfernt. Zu tief war die Kluft zwischen ihrer dörflichen Weltsicht und der aufgeklärten Staatsführung, die von der säkularen Gesellschaft träumte.
Auf diese Art wurde in Wien nicht die Nation, sondern die Religion zum Faktor des Zusammenhalts und der gegenseitigen Hilfe. „Der Islam“, sagt August Gächter, „dient als eine Art gesellschaftlicher Überbau. Religiöse Organisationen garantieren die Einhaltung der Spielregeln. Und der Verweis auf den Glauben ist ein Mittel, um Kundenbindung herzustellen und Kreditwürdigkeit zu erlangen.“ Religion als Kitt also, als Garant für Verlässlichkeit im privaten und geschäftlichen Umgang. Vertrau deinem Nächsten, denn er ist ein anständiger Moslem, so könnte das Dogma lauten, das den ungeliebten türkischen Gastarbeitern das Leben in der Fremde erleichtern sollte.
Konservative Verbände wollen für diese Werte einstehen. „Korrektheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit – das verlangen wir von unseren Mitgliedern“, sagt Mustafa Çatalbas¸, Vorsitzender des Unternehmervereins Müsiad in Wien. Er sitzt im Hinterzimmer seines Kleidergeschäfts in Ottakring, draußen falten junge Verkäuferinnen mit Kopftüchern bunte Kleider zusammen, die eindeutig auf türkische Kundinnen zugeschnitten sind.
Beispiele für die Mittelschicht Mustafa Çatalbas¸, 43 Er führt ein Textilgeschäft in Ottakring
und will für die Werte des Verbands „Müsiad“ einstehen
Foto: Heribert Corn
Müsiad vertritt in vielen europäischen Städten türkische Kleinunternehmer, der Verband gilt als religiös und konservativ. In Wien hat er 35 Mitglieder, sie trinken keinen Alkohol, essen kein Schweinefleisch, ihre Frauen tragen meist Kopftuch. Bordelle dürfen Müsiad-Mitglieder sowieso keine aufmachen, sagt Çatalbas¸, und ihre Restaurants sollten auch nicht unbedingt zu feucht-fröhlichen Spelunken verkommen. „Gebürtige Österreicher“, sagt er, „machen vielleicht fünf Prozent meiner Kundschaft aus.“
Religion statt Staat
Während die einstigen Gastarbeiter auf diese Art zur religiösen Selbsthilfe schritten, veränderte sich die Türkei radikal. Seit 2002 regiert die moderat islamistische AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, unter Premier Recep Tayyip ErdogØan. Sie hat das Land zu einem anderen gemacht. Und sie sollte auch für die Wiener Türken noch große Bedeutung erlangen.
Denn die AKP kommt aus demselben Milieu wie die Gastarbeiter und die anatolischen Bauern. So schließt sich die Kluft zwischen Führung und Volk. So sehen sich die liberalen Eliten in Istanbul in die Enge gedrängt und schwenken Fahnen für den Laizismus, während sich große Teile der türkischen Bevölkerung im eigenen Staat zuhause fühlen. So gelten die Auslandstürken nicht mehr als Menschen, die man ob ihrer religiösen Rückständigkeit am liebsten vergessen würde.
In der Türkei begann nach 2002 ein wirtschaftlicher Boom. In wenigen Jahren waren staubige anatolische Städte vor lauter Baustellen nicht mehr wiederzuerkennen. Westliche Studien schwärmten vom „islamischen Calvinismus“, der durch harte Arbeit blühende Gärten in die asiatische Wüste bringen sollte.
Auf die Gastarbeiter in Wien und Europa war die AKP plötzlich stolz. Plötzlich galten sie als Potenzial, als Chance, nicht mehr als Bauern, die den modernen säkularen Staat nie und nimmer kapieren würden.
Es ist Freitagabend, und wieder einmal kommt ein türkischer Minister nach Wien. Faruk Çelik, AKP-Minister für Auslandstürken, ist das dritte türkische Regierungsmitglied innerhalb weniger Wochen, das Österreich besucht.
Politiker, die ums Volk werben
Diese Politiker kommen in ein Land, auf dessen Türken sie nicht mehr mit großstädtischer Herablassung blicken können. Sie kommen in ein Land, dessen Türken vielleicht auch der Türkei wieder etwas bieten könnte.
„Wiener Wirtschaft lebt Vielfalt“ heißt die Veranstaltung, die der Minister beehrt. Die Wirtschaftskammer hat sie organisiert. Vor den Ansprachen zupft ein Musiker auf der Bühne an einer Saz, einer anatolischen Laute.
Im Publikum sitzt die türkische Mittelschicht, rund 300 Menschen, überwiegend Männer, die Krawatten passen zu den Einstecktüchern, man raucht Zigarillos und redet schulterklopfend über Geschäfte.
Çelik tritt auf die Bühne, sein dichter schwarzer Schnurrbart wogt unter der Nase, er redet von der „gemeinsamen Geschichte Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs“ und von der „fruchtbaren Zusammenarbeit, die noch vertieft gehört“.
Und dann sagt er zum Publikum: „Sie wissen, die Tür zur Türkei steht offen. Wir haben günstige Verhältnisse geschaffen. Wenn Sie investieren wollen, kommen Sie jederzeit. Sie sind herzlich willkommen.“
Erschienen im Falter 28/09