Monatsarchiv: Juli 2009

Sommerlöchrige Modifaktionen

In eigener Sache:

Reiseberichte aus Norwegen, Russland, Spanien und Portugal (in unregelmäßigen Abständen bis Frühjahr 2010) gibt’s ab sofort auf dem Weblog der Reisewebseite „Tripwolf“:

http://www.tripwolf.com/de/blog/

Sämtliche Falter-Artikel gibt’s weiterhin hier.

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STADTRAND – Mistkübel in der Stadt der Bewusstseinsbildner

Wien ist nicht nur die sicherste, sauberste, öffentlich besterschlossene und überhaupt allerbeste Stadt dieses Planeten, sie ist auch – und das wissen nur wenige – die Welthauptstadt des Politmarketings. Da können andere Städte nur vor Neid erblassen. Denn der Wiener schätzt nicht nur seine pünktliche U-Bahn, er weiß auch, wem er all das zu verdanken hat. Es wird ihm ja recht oft gesagt. Zum Beispiel seit kurzem auf sämtlichen Mistkübeln. Dort picken jetzt flotte Sprüche wie „Bitte füttern!“ oder „Bin für jeden Dreck zu haben“. Das soll wohl das Bewusstsein für richtige Abfallentsorgung steigern. Aber dass der vom 1-Euro-Tequila umnachtete Schwedenplatz-Flaneur seine Bierdose eines solchen Spruches wegen ordnungsgemäß entsorgt, darf bezweifelt werden. Also steigert es in zweiter Linie den Bekanntheitsgrad von Umweltstadträtin Ulli Sima, die die Aktion initiiert hat. Und wie das genau funktioniert, erleben Sie, liebe Leser, gerade jetzt, in diesem Moment. Werbemenschen dieser Welt, schaut nach Wien! Hier könnt ihr noch einiges lernen.

Erschienen im Falter 31/09

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Zeit am Schirm – TV-Schau II

Sie gehören zu den Menschen, die glauben, dass Religion keinen Einfluss mehr auf unser Leben hat? Dass wir so was längst überwunden haben? Dann vergleichen Sie doch die „Zeit im Bild“ mit der „Tagesschau“. Erstere, letzten Donnerstag: Es zischt, es kracht, die Vidi-Wall flimmert, auf 38,5 Grad Hitze folgen golfballgroße Hagelkörner in Vorarlberg, Minister Pröll kehrt vorschnell von der „grandiosen und imposanten“ Bregenzer Aida-Aufführung zurück, um sich in Wien mit Steuerlappalien zu quälen. Dann, 15 Minuten später, meldet sich das Erste Deutsche Fernsehen mit der „Tagesschau“: Ein älterer Herr rückt seine Brille zurecht, blättert ruhig in den Notizen, schreitet gemächlich zu langen und langsam gesprochenen Beiträgen. Zufall? Verschiedene Arten, Werbeumfelder zu stimulieren? Oder hält man Österreicher mit 38,5 Grad Hitze bei der Stange, während man Deutschen komplizierte Eigentümerstrukturen bei VW näherbringt? Wir vermuten, es ist der Protestantismus. Die Deutschen sind halt einfach textlastiger. Leben wir damit.

Erschienen im Falter 31/09

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Zeit am Schirm – TV-Schau

Donnerstagnacht rappelt sich der ORF oft zu dem auf, was er in besten Momenten sein könnte, wenn er es nur sein wollte. Da wird er plötzlich intelligent, frech und witzig, wie es ihm kaum jemand im deutschen Sprachraum gleichtun kann. Außer im Sommer. Denn dann machen Humoristen offenbar Urlaub, und eine Collage an lieblos zusammengestelltem Archivmatsch ersetzt das frisch produzierte Fernsehkabarett. In solchen lauwarmen Sommernächten greifen routinierte Fernsehkonsumenten (dem heimischen Staatsfernsehen selbstverständlich treu bleibend) auf Fremdproduziertes zurück. Zum Beispiel auf „Little Britain“, gleich im Anschluss. Das ist genialer Humor. Das straft alle Lügen, die den Verfall von Fernsehkultur beklagen. Denn vor 30 Jahren war wahrscheinlich auch nur weniges im Programm richtig gut. Und jetzt nimmt sich „Little Britain“ gesellschaftliche Typen so subtil und brachial zugleich vor, dass es eine Wohltat ist. Humor als Befreiung. Und das in Originalsprache. Und das im Staatsfernsehen. Hierfür: Danke, ORF.

Erschienen im Falter 30/09

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Sein letzter Weg

Was kann ein ausrangierter Porsche 924 über die Weltwirtschaft und ihre Krise erzählen? Fast alles

Reportage: Joseph Gepp

Diese Geschichte beginnt mit Richard Rallinger, der am 10. April 2009 etwas zögerlich ein Autohaus in Favoriten betritt, um einen neuen BMW zu kaufen. Sie endet mit Stahlwerkdirektor Markus Ritter, der hinter einem großen Schreibtisch in Graz über schwierige Zeiten redet und dabei ein Anschauungsexemplar selbstproduzierten Baustahls in der Hand dreht. Und sie geht über ein Dutzend Arbeiter am Schrottplatz im Industriegebiet von Laxenburg, 22 Kilometer südlich von Wien. Für sie ist heute ein besonderer Tag.

Denn ein Porsche, Modell 924, Baujahr 1978, soll verschrottet werden. Das kommt selbst in Zeiten der Schrottprämie nicht oft vor. Die Arbeiter grinsen betreten, einer schüttelt den Kopf. Sie fahren mit ihm eine letzte Runde über den Platz, einige sind noch nie zuvor in einem Porsche gesessen. Ihn nun zu zerschreddern, das scheint den Arbeitern, als würde man eine antike Vase auf den Boden schmettern. Oder einen Geldschein anzünden. Sie stellen den Wagen dann auf ein öldurchtränktes Stück Asphalt ab, über dem eine mannshohe Greifzange baumelt. „Dekadent“, sagt ein Arbeiter mit türkischem Akzent im Weggehen. „Einfach nur dekadent.“

Jetzt steht der Porsche da, unter der Zange, weiß lackiert, fahrtüchtig, gar vollgetankt. Seine beiden Scheinwerfer gleiten elegant aus der Motorhaube, wenn man das Licht einschaltet. Im Aschenbecher liegen zwei sorgsam ausgedrückte Kippen. Die mit Schonern überzogenen graugestreiften Stoffsitze im Inneren riechen ein wenig nach abgetragenem Leder, nach kaltem Rauch, nach Oldtimer.

Gut vier Monate davor im Wirtschaftsministerium, Sitzungszimmer 1.82, roter Teppich, die Fahnen Österreichs und der EU an der Wand. Hier beginnt die Geschichte der Verschrottungsprämie.

porsche_gut

porsche_luft

porsche_schrott

Das Verschwinden eines Porsches wurde schweren Herzens von Heribert Corn fotografiert

Anfang 2009 trifft sich der Wirtschaftsminister mit Vertretern der Autoindustrie. Die Lage ist kritisch. Die Branche geht durch die tiefste Krise, seit Pkw vor 100 Jahren als Massenprodukte aufgekommen sind. Konzerne wie General Motors, die als volkswirtschaftliche Säulen gelten, die Hunderttausenden Arbeit und Wohlstand beschert haben, stehen plötzlich vor dem Konkurs und reißen weltweit Firmen mit.

Der Minister stimmt einer Brachialmaßnahme zu, die auch andere europäische Staaten beschlossen haben. Wenn Menschen ihre alten Autos zerstören und neue kaufen, helfe das der Wirtschaft, lautet die Idee. Weil sie das aber gemeinhin ungern tun, zahlt der Staat. Insgesamt 22,5 Millionen für 30.000 Fahrzeuge, also pro Auto 750 Euro, die beim Neuwagenkauf gutgeschrieben werden, wenn man seinen alten Wagen zur Zerstörung freigibt. Die Wirtschaft legt dieselbe Summe nochmals dazu. Die Schrottprämie ist geboren, sie beträgt 1500 Euro.

Vergangenen Mittwoch, 8. Juli 2009, neun Uhr morgens, ist sie nach dreieinhalb Monaten ausgelaufen. Vorschnell, denn eigentlich hätte sie bis Jahresende reichen sollen. Die 30.000 Wägen sind verkauft, und ÖVP-Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner spricht von einem „vollen Erfolg“, von einer „äußerst umweltfreundlichen Aktion“, die „österreichische Arbeitsplätze gesichert“ habe. Vordergründig hat er Recht. Denn die Limitiertheit der Prämie bewog viele Menschen, die Kaufgelegenheit zu nutzen, sofort und nicht später zuzuschlagen. Die Zahl der zugelassenen Neuwägen brach trotz Krisenangst nicht ein, sondern überstieg sogar jene des krisenfreien Vergleichszeitraums im Vorjahr.

Die prämiengestützten Wägen mussten älter als 13 Jahre sein, vollständig und pickerltauglich, Ersatzteile durften vor der Verschrottung keine entnommen werden. Der Porsche-Besitzer Richard Rallinger*), der am 10. April 2009 etwas zögerlich ein Favoritner Autohaus betrat, wollte zwar anfänglich eine Automesse abwarten, um für sein Fahrzeug mehr als 1500 Euro zu bekommen. Er nahm dann doch die Schrottprämie.

Er habe sich erst nicht von seinem Wagen trennen wollen, erzählt der Verkäufer beim BMW-Haus. Rallinger habe ihn immerhin zehn Jahre lang benutzt, tagtäglich, als einziges Gefährt. Aber dann legten die Leute von BMW nochmals 1500 Euro Rabatt auf die staatliche Prämie. Der Kunde habe Angst bekommen, dass die Aktion auslaufen und er immer noch auf seinem Porsche sitzen würde. Er stimmte zu.

Der Porsche hat einige Mängel, er ist leicht rostig und schon einige Male ausgebessert worden. Ein Liebhaber hätte trotzdem mehr als 3000 Euro dafür gezahlt, sagt ein Wiener Autohändler. Ganz zu schweigen vom Sammlerwert, der in den nächsten Jahren massiv zunehmen werde. In Internet-Gebrauchtwagenbörsen rangieren Porsche 924 – je nach Zustand – zwischen 1500 und 10.800 Euro.

Rallinger, 49 Jahre alt, ein merkwürdiger Typ, sagt der Händler. Er verachte Medien, will auch nicht mit dem Falter sprechen. Er habe immer dieselben bunten, alten Hawaiihemden getragen. Er sei Hobbyboxer in einem Klub gewesen. Den BMW-Händler rief er bis zu fünfmal am Tag an, so unsicher war er in geschäftlichen Dingen. Aber der Verkäufer blieb geduldig und wirkte sanft auf Richard Rallinger ein. Am Ende kratzte der Kunde sein letztes Geld zusammen. Er entschied sich für einen dreitürigen BMW 118, einen Mittelklassewagen. Am Schluss drückte er dem Händler ein Geschenk in die Hand, eine alte Box-Medaille. Er wisse, sagte Rallinger zum BMW-Mann, dass es nicht leicht sei, einem wie ihm einen Wagen zu verkaufen.

Jetzt steht der Porsche hier in Laxenburg, die mannshohe Zange fällt auf ihn herab, sie zerknüllt das Dach wie Papier, die Scheiben bersten, wie Alufolie knickt die Karosserie ein. Die Zange hebt den Wagen hoch, jetzt baumelt er wie eine gerissene Antilope im Maul eines Löwen, aus seinen Adern rinnen Motoröl und Benzin auf den Asphalt, weiße Lacksplitter segeln auf den Boden.

Acht Minuten Arbeitszeit brauche die Verschrottung eines Wagens, sagt Andreas Nowak, 43, Betriebsleiter, ein wortgewandter und leicht stämmiger Mann, den Schutzhelm tief ins Gesicht gedrückt, das Firmenlogo aufs T-Shirt gestickt. Rund um ihn stapeln sich die Wägen, es sind derzeit 1700 übereinandergeschichtet – Landrover, Ford, VW Golfs –, die Autobahnvignette oft noch hinter dem Fenster, am Heck Erinnerungspickerl an Fähren nach Korsika und Reisen ans Nordkap. Die Autos sind durchwegs mehr wert als 1500 Euro. Etwas abseits hat Andreas Nowak ein kleines Museum errichtet: Hier, wo bis vor kurzem auch der Porsche gestanden ist, sind jetzt ein alter Kadett und ein Käfer. „Das sind die Oldtimer“, sagt Nowak, „denen lassen wir ein paar Tage Galgenfrist.“ Der Chef lacht. „Wenn ich jetzt noch einen Puch 500 kriege, bin ich glücklich.“ Selbst wenn auch der am Ende nur in den Schredder käme.

„Vor der Prämie“, sagt Andreas Nowak, „sind die Wägen total ausgeschlachtet gekommen, im Kofferraum lagen oft noch zwei Müllsäcke. Heute verschrotten wir Schlapfenfahrer-Autos, hinter dem Frontspiegel hängt oft noch der Wunderbaum.“

Auf dem Fensterbrett in seinem Büro liegt die Messingplakette des Porsche, das springende Pferd zwischen den rot-schwarzen Streifen. Nowak hebt sie hoch, dreht sie in den Fingern, er hat sie vom Auto geschraubt und aufgehoben, als Erinnerung. Streng genommen ist sogar das verboten. Denn nichts, rein gar nichts darf vor der Verschrottung entnommen werden. Eine Schwemme billiger Gebrauchtersatzteile als Folge der Prämie kann die Autoindustrie nicht brauchen. Besser sollen die Kunden neuwertige und teure Teile beim Hersteller kaufen.

Dass die Strategie funktioniert, zeigen die aktuellen Inflationsdaten der Statistik Austria: Krisenbedingt wurden die meisten Produkte billiger oder blieben im Preis gleich. Nur Autoersatzteile wurden teurer. Die künstliche Verknappung wirkt. „Wo sich der Staat derart mit den Unternehmen verzahnt, wie bei der Sanierung unrentabler Autokonzerne, teilt er unausweichlich deren partikulare Perspektive“, schrieb die Berliner Zeitung.

Vom Porsche ist ein formloses Blechknäuel geblieben. Es gleitet in den Schredder, einen metallenen Schacht, die weiße Schnauze voran. Es rattert kurz. Das Schreddern eines Wagens dauert 40 Sekunden, sagt Andreas Nowak. Dann kommen die Teile auf der anderen Seite heraus, von Stahlmühlen zerrissen, auf Fließbändern getrennt nach Aluminium, Kupfer und rotglühendem Stahl.

Vor einem Jahr noch, erzählt Nowak, da waren die Zeiten anders, da beklagten sich Schredderbetriebe über zu wenige Autowracks. Denn ausrangierte Wägen wurden oft verkauft, nach Osteuropa und Afrika, wo sie noch Jahrzehnte als Sammeltaxis dienten. Entsprechend wenig Material stand zur Verfügung. Zuletzt wurde der Schrottpreis immer höher, am Ende war er von vorher 200 auf 450 Euro pro Tonne gestiegen. Dann kam die Prämie.

Heute, sagt Nowak, beklagen sich Betriebe der Nachbarschaft, dass die Lkw mit den Autoladungen in der Früh die Zufahrtsstraße verstopfen. Der Preis für Schrott ist um das Fünffache gefallen. Zu Jahresbeginn schrammte man gar daran vorbei, Abnehmer bezahlen zu müssen, damit sie ihn überhaupt noch nehmen.

Und jetzt? Zwar verringert sich nach Auslaufen der Prämie die Menge an Schrott. Es fehlt jedoch auch an Bedarf. Denn Bauprojekte ruhen weltweit. Die Stahlproduktion in Österreich etwa läuft derzeit auf 53 Prozent ihrer Kapazität. Und für die Autobranche fürchten Wissenschaftler wie Wirtschafter dasselbe: dass nun, wo die Prämie vorbei ist, der große Einbruch kommt.

Die Idee der Schrottprämie, meint der Volkswirt Stefan Schleicher von der Universität Graz, sei gescheitert, wie eine Idee nur scheitern kann.

Denn Autos seien langfristige Produkte. Und Autokäufer Vorziehkäufer. Die Schrottprämie wirkt wie eine lebenserhaltende Maschine, an die man einen klinisch Toten anschließt. Wenn man die Maschine abschaltet, stirbt der Patient endgültig.

So entstehen derzeit Wagenplätze mit hunderttausenden Autos in ganz Europa. Es sind einerseits alte Wägen, die ihrer Verschrottung harren – aber man hat es nicht eilig damit, weil der Schrottpreis ohnehin so niedrig ist. Es sind andererseits neue Wägen, die nach Auslaufen europaweiter Prämien niemand mehr kaufen will.

Experten schätzen, dass im vergangenen Jahrzehnt auf dem Kontinent 20 Prozent zuviel Wägen produziert wurden. Jedes Land wollte die personalintensiven und prestigeträchtigen Autowerke haben. Also subventionierten die Staaten, stellten Infrastruktur, schufen arbeitsrechtliche Voraussetzungen für Konzerne. Sie kamen etwa nach Spanien, in die Steiermark, in die Slowakei – dann kam die Krise.

Also schuf man die Schrottprämie. Die Politik rechtfertigte sie mit ökologischen Argumenten. Nun endlich sollten alte Benzinfresser durch sparsame Neuwägen ersetzt werden.

Wie sehr dieses Umweltargument der Regierung als Vorwand für eine Branchensubvention diente, zeigt aber eine simple Rechnung:

Im Schnitt besitzt jeder zweite Österreicher einen Pkw, insgesamt sind es rund 4,2 Millionen Autos. 30.000 davon, weniger als ein Prozent, wurden prämienbedingt durch neue Modelle ersetzt. Die Schrottprämie ist an keine Umweltauflagen, etwa einen CO2-Höchstausstoß, gebunden. Wenn trotzdem jeder dieser Neuwägen im Schnitt um ein Viertel sparsamer fährt als sein altes Pendant, beträgt die Spritersparnis vom Gesamtverbrauch – ein Viertel Prozent. „Das ist so wenig“, sagt Stefan Schleicher, „dass es in den Bereich der statistischen Unschärfe fällt.“ Hätte man die 22,5 Millionen Euro Schrottprämiengeld etwa in eine Kampagne zur umsichtigen Bedienung des Gaspedals investiert – die Energieersparnis wäre zehnmal so hoch gewesen, meint der Volkswirtschaftsprofessor.

Unterdessen fährt der Stahlschrott, der ein Porsche 924 war, in einem Güterzug nach Graz, drei Stunden und sieben Minuten lang, zum Stahlwerk Marienhütte.

Dort sitzt Markus Ritter, Geschäftsführer, 40 Jahre alt, er entstammt einer alten Grazer Industriellenfamilie, er redet über schwierige Zeiten und dreht sein Anschauungsexemplar selbstproduzierten Baustahls in der Hand. Die Marienhütte, 300 Mitarbeiter, eingeklemmt zwischen Bordellen und Baumärkten am Grazer Stadtrand, produziert ausschließlich Betonstahl, sagt Ritter. Man kennt das Endprodukt von jeder Baustelle – als Skelett aus schmalen, gerippten Stangen, das beim Straßenbau aus dem Beton ragt.

Der Schrott wird in Ritters 40-Tonnen-Ofen bei 10.000 Grad eingeschmolzen, dann, abgekühlt, in gerippte Stangen geschnitten. Am Ende liegen sie am Werksgelände zur Abholung bereit, daneben ein Haufen noch unverarbeiteten Schrotts. Dazwischen steht Markus Ritter, den Schutzhelm tief ins Gesicht gedrückt.

Er stupst ein zentimeterlanges Stück verbeultes Blech mit der Schuhspitze an. „Das“, sagt er, „könnte der Porsche gewesen sein.“

Nebenan holen Lastwägen die fertigen Stahlstangen ab. Sie werden sie zu Zementwerken führen. Dort wird der Stahl in Asphalt eingegossen. Andere Lastwägen werden die fertigen Teile weiter transportieren, zu Autobahn- und Brückenbaustellen. Sie werden Bestandteile dieser Autobahnen und Brücken sein. Und am Ende werden neue Porsches auf ihnen fahren.

*) Name von der Redaktion geändert

Erschienen im Falter 29/09

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Eingeordnet unter Konsum, Reportagen, Verkehr

Von Baku nach Baumgarten

Die Pipeline Nabucco soll Europa von Russland unabhängiger machen. Nur: Woher soll das Gas kommen?

Analyse: Joseph Gepp

Der Weg aus der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland ist 3000 Kilometer lang und 1,42 Meter breit. Er heißt „Nabucco“, nach einer Verdi-Oper, in der ein Gefangenenchor ein rührendes Stück für die Freiheit singt. Er durchquert das Marchfeld, die Große Ungarische Tiefebene und die Steppen Anatoliens. Am Montag wurde nach jahrelanger Verzögerung im türkischen Ankara der Vertrag unterzeichnet – er soll eine neue Ära europäischer Energieversorgung einleiten, so sich die großen Pläne realisieren lassen.

Nabucco ist eine Gaspipeline, ein Gemeinschaftsprojekt Österreichs, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und der Türkei, mit deutscher Beteiligung und unter Leitung der OMV. Ab 2014 soll sie von Aserbaidschans Hauptstadt Baku ins Marchfelder Dörfchen Baumgarten reichen, jenen Knoten, von dem aus das Gas nach Westeuropa weiterverteilt wird.

Auf geschäftlicher Ebene will die OMV damit ihren Status als Big Player auf dem europäischen Energiemarkt festigen. Auf geopolitischer Ebene soll Nabucco Schluss machen mit einem beunruhigenden Faktum: dass der Großteil des Heizgases aus der sibirischen Tundra kommt, also von Moskau, einem Geschäftspartner, der schon mal Leitungen dichtmacht, wenn störrische Anrainerstaaten zur Ordnung gerufen werden soll.

„Diversifizierung“ heißt die Devise am Energiemarkt. Dass sie notwendig ist, zeigte – erneut – der Jänner 2009, als Russland der Ukraine das Gas zudrehte. Als Folge mussten etwa die Slowaken den Energienotstand ausrufen, auch in Österreich sank der Druck. „Für die EU ist Nabucco außerordentlich wichtig“, erklärte EU-Energie-kommissar Andris Piebalgs 2008 dem Falter. „Das Gas kommt aus anderen Regionen, das schafft Versorgungssicherheit und Wettbewerb.“ Piebalgs ist Lette, er schätzt eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau.

NabuccoPipeline
Quelle: Euroticker

Der EU ist Nabucco ein Herzensanliegen: Denn bliebe der Weg über Osteuropa versperrt, könnte Nabucco mit einer Alternative im Süden aufwarten und Erdgas aus dem Kaukasus nach Europa holen. Die Frage ist nur: Woher genau?

Denn laut Experten kann Aserbaidschan langfristig nur vier der 31 Milliarden Kubikmeter Gas liefern, die Nabucco jährlich zu leiten imstande wäre. „Für die Rentabilität des 7,9-Milliarden-Euro-Projekts reicht Baku bei weitem nicht“, sagt der Innsbrucker Russlandexperte Gerhard Mangott. Nun liegen zwar auch hinter der Kaspischen See rohstoffreiche Staaten – die bringen aber enorme politische Probleme mit sich.

Da wäre etwa der Iran, dessen Regime europäische Firmen freudig empfangen würde. Aber der politische Widerstand ist massiv, und dass kürzlich auf den Straßen Teherans Regimegegner niedergeschossen wurden, macht die Sache nicht einfacher.

Da wären weiters die Staaten Zentralasiens. Auch bei Turkmenistan und Kasachstan handelt es sich jedoch um Diktaturen, die zudem bereits umfassende Lieferverträge abgeschlossen haben – vor allem mit China, das immer mehr auf den internationalen Gasmarkt drängt.

Bleiben noch der politisch extrem unsichere Irak und Ägypten, dessen Reserven für die Nabucco-Kapazität mittelfristig zu gering sind.

Rohstoffreichtum wirkt nicht demokratiefördernd, das zeigen Beispiele von Venezuela bis Saudi-Arabien. Den Europäern bleibt daher die Wahl zwischen Pest und Cholera: Es kann Diktaturen stützen, indem es mit ihnen handelt. Oder es stützt Russland, indem es seinem Gasmonopol – und damit oft aggressivem Machtausbau – nichts entgegensetzt.

Wie mit diesen Aussichten verfahren werden soll, scheint vorerst nicht einmal den Errichterländern klar. So meinte der türkische Premier Recep Tayyip ErdogØan am Montag, dass auch iranisches Gas bald ins Rohr eingespeist werden sollte. Prompt konterte der deutsche Energieversorger RWE: Der Iran spiele vorerst sicher keine Rolle.

Erschienen im Falter 29/09

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Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Energie

STADTRAND – U-Bahn-Ärger über Schule, Job und Mutter

Belauschte Telefonate in der U-Bahn sind ein feiner Seismograf städtischer Befindlichkeiten. Wobei auffällt, dass sich die Schwerpunkte im Tagesverlauf ändern: von schulischen (Miss-)Erfolgen am Morgen über berufliche (Miss-)Erfolge untertags bis zu besoffenem Gelalle am Abend. Zum Beispiel vor kurzem, 8.30 Uhr, eine Schülerin bei Kagran zu einer Freundin: „Ja, Deutschschularbeit war (…) Keine Ahnung ghabt, was ich schreiben soll (…) Das Thema? ‚Ein Freund kommt zu Besuch‘ (…) Ich hab dann den Michael genommen. Der war gestern bei mir kiffen.“ Später am selben Tag, Stephansplatz, ein schwitzender Anzugträger, offenbar im Gespräch mit dem Chef: „Jaja, das machen wir (…) Nein, dieses Projekt schaffen wir (…) Nein, nein, kein Problem.“ Noch später, eine 40-jährige Frau, Nestroyplatz: „Mama, ich hab einen Job! (…) Nein, den Kurs brauch ich jetzt nicht mehr (…) Ja, beim Fonds Soziales Wien (…) Übermorgen fang ich an (…) Nein, Mama, den Kurs brauch ich jetzt nicht mehr.“ Immerhin war’s diesmal nur ein kommunikativer Misserfolg.

Erschienen im Falter 29/09

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Eingeordnet unter Kurioses, Stadtleben, Stadtrand

Generation Aufstieg

Ihre Väter teerten Straßen und servierten Tee. Sie selbst führen Handelsketten, besitzen Immobilien und Großrestaurants. Wie in Wien eine neue türkische Mittelschicht entstand

Reportage: Joseph Gepp

Die Geschichte von Hüseyin K1l1c’ Aufstieg beginnt im Jahr 1990, mit 20 Tonnen Lammfleisch.

Sie sollten aus der Slowakei importiert werden, als Grundstock für den ersten eigenen Laden. Aber das Geld fehlte, und weil Lammfleisch nicht nach Innovation und neuer Technologie riecht, verweigerte auch die Bank einen Kredit. Also suchte K1l1c in der türkischen Gemeinschaft nach Hilfe. Zwei Tage später drückte ihm ein Freund ein Überbringersparbuch in die Hand, eine halbe Million Schilling, das dazugehörige Passwort stand auf einem Notizzettel. Ein Gastarbeiter hatte es in Jahrzehnten angespart, nun verborgte er es zinsenfrei, denn „Zinsen sind unislamisch“, sagt K1l1c.

Heute sitzt K1l1c in einem Schanigarten im Ottakring. Er trägt ein leger gestreiftes Hemd wie ein Banker am Casual Friday. Er trinkt Schwarztee aus einem tulpenförmigen Glas, und alle drei Minuten klingelt hinter einer schwarzen Lederhülle sein Handy.

Der hilfsbereite Gastarbeiter sollte sein Geld bald wiedersehen. Denn K1l1c, 46, aus der Schwarzmeerstadt Trabzon, gründete seinen Laden. Er arbeitete hart, erzählt er, zwölf Jahre lang, sechsmal pro Woche von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends. Aus seinem Geschäft sprossen bald 15 Filialen, aus fünf Angestellten wurden 80, der Umsatz verdoppelte sich jährlich. „Etsan“ ist heute eine veritable mittelständische Supermarktkette für die türkische Gemeinschaft.

Hüseyin K1l1c gehört zu einer Gruppe, von der man nicht viel hört in Österreich. Denn Ausländer rufen hier wahlweise Angstreflexe oder Schutzinstinkte hervor. „Integration“ heißt das Schlagwort, und diese muss gefördert, erzwungen, ermöglicht oder erleichtert werden. Dass zwischendurch auch selbstbestimmte Subjekte ihre individuellen Lebenswege gehen – und nicht selten dabei erfolgreich sind –, das findet in dieser Erzählung keinen Platz.

Vielschichtige Mittelschicht

So ist in Wien in den vergangenen 15 Jahren eine türkischstämmige Mittelschicht entstanden, die kaum jemandem aufgefallen ist. 25.000 bis 30.000 Personen, ein Viertel der hiesigen Türken, soll sie umfassen, sagt der Migrationsexperte August Gächter. Türkische Unternehmer beschäftigen österreichische Angestellte, in Ottakring werden Wohnungen, gar Häuser von wohlhabenden Migrantenfamilien gekauft. Es ist eine heterogene Schicht, kein Merkmal eint sie; weder binden sie sich an ihre alte Heimat noch leben sie völlig von ihr abgekapselt; weder sind sie gänzlich in der österreichischen Mehrheit aufgegangen noch lehnen sie sie ab. Gemeinsam ist ihnen nur, dass ihr Einkommen und ihre Lebensverhältnisse etwa dem österreichischen Durchschnitt entsprechen. Und dass Wiener Türken damit längst nicht mehr nur kleine Kebabbrater und Marktstandler sind.

In den 80er-Jahren war das anders. Da waren Einwanderer tatsächlich großteils das, was man ihnen nachsagt. Was seitdem passiert ist, ist schwer zu fassen. Denn Zahlen und belegte Fakten gibt es kaum. Die Quellenlage ist dünn, Zuwanderer scheinen kaum in Statistiken auf, sobald sie eingebürgert sind – was bei rund drei Vierteln der Wiener Türken der Fall ist.

kocak
Beispiele für die Mittelschicht Mehmet Kocak, 44. Sein Vater war Viehhändler in Yozgat,
Anatolien. 1999 übernahm er das kleine Lokal „Etap“ in
Ottakring, wo er vorher als Kellner gearbeitet hatte. Heute
betreibt Kocak zwei große Restaurants. „Selbst der schwierigste
Kunde muss zufrieden sein, dann funktioniert es“, sagt er

Foto: Heribert Corn

Eine Entwicklung, die zur Entstehung der neuen Mittelschicht geführt haben könnte, lässt sich trotzdem festmachen. Man könnte sie als Linie begreifen, unregelmäßig, mit wilden Schlenkern nach vorne und zurück, aber insgesamt doch in eine Richtung weisend.

Am Anfang dieser Linie steht der Kebabbrater der 80er-Jahre, Besitzer und einziger Angestellter seines Betriebs, der Sprache kaum mächtig, überfordert von seiner vielköpfigen Familie, von Ämtern und Auflagen. Die Linie führt weiter über Leute wie Hüseyin K1l1c, der vom Kleinladenbesitzer zum Unternehmer wurde, der Behörden wie Mitarbeiter zu managen weiß – aber trotzdem türkische Waren für türkische Kunden anbietet und sich dabei auf traditionelle islamische Werte beruft. Und die Linie endet zum Beispiel bei Adem Köse in der Gumpendorfer Straße.

Teure Designerwaschbecken

Köse, 32, betreibt ein großes Installationsgeschäft, ein mittleres Unternehmen, wie es im Buche steht, wie es immer wieder als Rückgrat der österreichischen Wirtschaft beschrieben wird. Sein Vater war Bauer in Zentralanatolien. Muslim sei er zwar, sagt der Sohn, aber sonst habe er mit Religion nicht viel am Hut. 95 Prozent seiner Kunden sind gebürtige Österreicher. Im Geschäftslokal mit den großen Schaufenstern steht sanitärer Luxus für die Oberschicht, eckige Designerwaschbecken neben chromblitzenden Armaturen, das dazugehörige Prospekt preist die „Raindance Duschbrause“ und die „Wohlfühloase im eigenen Zuhause“.

Köse beschäftigt 17 Personen, vor fünf Jahren begann er allein, nur mit seinem Bruders. Mit der türkischen Geschäftswelt habe er nicht viel zu tun, sagt er. „Ich stamme halt aus der Türkei. Und das war’s auch schon.“

In Deutschland, wo man sich intensiver als hier mit Minderheiten auseinandersetzt, haben Soziologen längst Begriffe entwickelt, die solche Phänomene erklären sollen: Unter „ethnische Ökonomie“ würde dort etwa Hüseyin K1l1c’ Supermarktkette fallen, weil er in der Sphäre türkischen Wirtschaftens bleibt. „Generation Eineinhalb“ heißen dort jene Menschen, die auf halbem Weg zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Werten – und Kontakten – ihres Herkunftslandes stehen.

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Beispiele für die Mittelschicht Asker Günes, 51 An einem Julisamstag 1971 kam er von der
türkisch-armenischen Grenze nach Wien, wo sein Vater als
Bauarbeiteter lebte. „Ich habe untertags gearbeitet, am Abend
die Sprache gelernt“, erzählt Günes. Heute betreibt er ein
großes Teppichgeschäft in der Innenstadt

Foto: Heribert Corn

Es ist also der Markt, der die Grenze zieht, der die Position auf der imaginären Linie vom Kebabbrater zum Unternehmer bestimmt. „Je höher der Umsatz“, sagt der Migrationsforscher August Gächter, „desto unwichtiger wird die alte Bindung an Werte und Religion.“ Um Erfolg zu haben, muss man seine Kundenschicht verbreitern, auf die Mehrheit zugehen – und mit der ethnischen Ökonomie verlässt man auch seine alte Weltsicht.

In Österreich, wo Ausländer als Aufsteiger nicht ins politische Konzept und die gesellschaftliche Debatte passen, hat sich nur eine einzige Studie der wirtschaftlichen Tätigkeit von Zuwanderern gewidmet. Wirtschaftskammer und Rathaus stellten 2007 fest, dass rund ein Drittel der Wiener Einzelunternehmer Migrationshintergrund haben. Welche Nationalitäten darüber hinaus in welchen Branchen tätig sind und welche Community über wie viel Wohlstand verfügt, dafür reichten die Quellen nicht.

Ein kaum erforschtes Feld

So muss man sich auf Schätzungen verlassen. Nur eine Minderheit der Wiener Türken sei als Gastronomen und Kleinladenbesitzer tätig, sagt etwa der österreichisch-deutsch-türkische Integrationsexperte Kenan Güngör. „Vielleicht vermittelt der Augenschein einen anderen Eindruck. Aber es gibt eine tiefgreifende Professionalisierung und Diversifizierung in der türkischen Gemeinde.“ Mit dem Aufstieg in die Mittelschicht vergrößere sich die Anzahl der Branchen; Türken betreiben heute Putz- und Computerfirmen, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe. Sie lassen die „Generation Eineinhalb“ hinter sich, weil die Orientierung an der Mehrheit eben mehr Kaufkraft und Profit verspricht.

Spricht man mit Angehörigen der Mittelschicht selbst, dann fällt – bei allen diesen Schattierungen, bei allen möglichen Positionen auf der imaginären Linie – nur eine Gemeinsamkeit auf: Sie beziehen sich trotz Professionalisierung auf religiöse Werte, zumindest öfter, als das im Vergleich mit Österreichern der Fall wäre.

Türken in Wien sind generell religiöser als Österreicher, aber auch als Türken in der Türkei. In Ottakring etwa tragen mehr Frauen Kopftuch als selbst in osttürkischen Großstädten. Diese Religiosität ergibt sich aus der speziellen Geschichte der Türken in Österreich – jener der Gastarbeiter.

Im Sommer 1964 kamen sie erstmals am Südbahnhof an. Zwei Jahrzehnte lang hausten sie in übervollen Baracken und stickigen Wohnheimen. Viel zu lang meinte man, sie würden wieder gehen.

Österreich investierte nicht in die Fertigkeiten der Gastarbeiter. Genauso wenig interessierte sich jedoch ihr Herkunftsland, die Türkei, für sie. Dort waren sie zwar als Devisenbringer angesehen. Als Chance hingegen begriff man sie nie. Zu weit waren die anatolischen Bauern von den Zentren Istanbul und Ankara entfernt. Zu tief war die Kluft zwischen ihrer dörflichen Weltsicht und der aufgeklärten Staatsführung, die von der säkularen Gesellschaft träumte.

Auf diese Art wurde in Wien nicht die Nation, sondern die Religion zum Faktor des Zusammenhalts und der gegenseitigen Hilfe. „Der Islam“, sagt August Gächter, „dient als eine Art gesellschaftlicher Überbau. Religiöse Organisationen garantieren die Einhaltung der Spielregeln. Und der Verweis auf den Glauben ist ein Mittel, um Kundenbindung herzustellen und Kreditwürdigkeit zu erlangen.“ Religion als Kitt also, als Garant für Verlässlichkeit im privaten und geschäftlichen Umgang. Vertrau deinem Nächsten, denn er ist ein anständiger Moslem, so könnte das Dogma lauten, das den ungeliebten türkischen Gastarbeitern das Leben in der Fremde erleichtern sollte.

Konservative Verbände wollen für diese Werte einstehen. „Korrektheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit – das verlangen wir von unseren Mitgliedern“, sagt Mustafa Çatalbas¸, Vorsitzender des Unternehmervereins Müsiad in Wien. Er sitzt im Hinterzimmer seines Kleidergeschäfts in Ottakring, draußen falten junge Verkäuferinnen mit Kopftüchern bunte Kleider zusammen, die eindeutig auf türkische Kundinnen zugeschnitten sind.

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Beispiele für die Mittelschicht Mustafa Çatalbas¸, 43 Er führt ein Textilgeschäft in Ottakring
und will für die Werte des Verbands „Müsiad“ einstehen

Foto: Heribert Corn

Müsiad vertritt in vielen europäischen Städten türkische Kleinunternehmer, der Verband gilt als religiös und konservativ. In Wien hat er 35 Mitglieder, sie trinken keinen Alkohol, essen kein Schweinefleisch, ihre Frauen tragen meist Kopftuch. Bordelle dürfen Müsiad-Mitglieder sowieso keine aufmachen, sagt Çatalbas¸, und ihre Restaurants sollten auch nicht unbedingt zu feucht-fröhlichen Spelunken verkommen. „Gebürtige Österreicher“, sagt er, „machen vielleicht fünf Prozent meiner Kundschaft aus.“

Religion statt Staat

Während die einstigen Gastarbeiter auf diese Art zur religiösen Selbsthilfe schritten, veränderte sich die Türkei radikal. Seit 2002 regiert die moderat islamistische AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, unter Premier Recep Tayyip ErdogØan. Sie hat das Land zu einem anderen gemacht. Und sie sollte auch für die Wiener Türken noch große Bedeutung erlangen.

Denn die AKP kommt aus demselben Milieu wie die Gastarbeiter und die anatolischen Bauern. So schließt sich die Kluft zwischen Führung und Volk. So sehen sich die liberalen Eliten in Istanbul in die Enge gedrängt und schwenken Fahnen für den Laizismus, während sich große Teile der türkischen Bevölkerung im eigenen Staat zuhause fühlen. So gelten die Auslandstürken nicht mehr als Menschen, die man ob ihrer religiösen Rückständigkeit am liebsten vergessen würde.

In der Türkei begann nach 2002 ein wirtschaftlicher Boom. In wenigen Jahren waren staubige anatolische Städte vor lauter Baustellen nicht mehr wiederzuerkennen. Westliche Studien schwärmten vom „islamischen Calvinismus“, der durch harte Arbeit blühende Gärten in die asiatische Wüste bringen sollte.

Auf die Gastarbeiter in Wien und Europa war die AKP plötzlich stolz. Plötzlich galten sie als Potenzial, als Chance, nicht mehr als Bauern, die den modernen säkularen Staat nie und nimmer kapieren würden.

Es ist Freitagabend, und wieder einmal kommt ein türkischer Minister nach Wien. Faruk Çelik, AKP-Minister für Auslandstürken, ist das dritte türkische Regierungsmitglied innerhalb weniger Wochen, das Österreich besucht.

Politiker, die ums Volk werben

Diese Politiker kommen in ein Land, auf dessen Türken sie nicht mehr mit großstädtischer Herablassung blicken können. Sie kommen in ein Land, dessen Türken vielleicht auch der Türkei wieder etwas bieten könnte.

„Wiener Wirtschaft lebt Vielfalt“ heißt die Veranstaltung, die der Minister beehrt. Die Wirtschaftskammer hat sie organisiert. Vor den Ansprachen zupft ein Musiker auf der Bühne an einer Saz, einer anatolischen Laute.

Im Publikum sitzt die türkische Mittelschicht, rund 300 Menschen, überwiegend Männer, die Krawatten passen zu den Einstecktüchern, man raucht Zigarillos und redet schulterklopfend über Geschäfte.

Çelik tritt auf die Bühne, sein dichter schwarzer Schnurrbart wogt unter der Nase, er redet von der „gemeinsamen Geschichte Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs“ und von der „fruchtbaren Zusammenarbeit, die noch vertieft gehört“.

Und dann sagt er zum Publikum: „Sie wissen, die Tür zur Türkei steht offen. Wir haben günstige Verhältnisse geschaffen. Wenn Sie investieren wollen, kommen Sie jederzeit. Sie sind herzlich willkommen.“

Erschienen im Falter 28/09

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Eingeordnet unter Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Migranten, Reportagen