Noch eine Stadt: Belgrad

Einmal war sie die stolze und große Hauptstadt der Blockfreien, liberal und weltoffen, von Oststädten wie Sofia und Bukarest um seine unverschämten Freiheiten beneidet. Dann gab es Krieg, eine stumpfsinnig-nationalistische Diktatur, eine hilflose Demokratie, sogar Nato-Bomben fielen 1999 auf die Stadt, die einmal die westlichste im Osten war.

Es gibt wohl keine Stadt, die in 20 Jahren tiefer gefallen ist als Belgrad. Das macht sie abstoßend. Und das macht sie faszinierend.

Die Kaffeehäuser sind weg, heute wummert schlechter Turbo-Folk aus zwielichtigen Beisln. Eine „Ruralisierung“ Belgrads beklagen Serben, die Stadt sei primitiv geworden und stumpfsinnig-nationalistisch.

Wer Belgrad besucht, sollte sich nicht auf leichte Kost einstellen. Man kann freilich über die Hauptstraße, Knez Mihailova, spazieren. Man kann durch den Kalmegdan streifen, die Festung zwischen Donau und Save, und dort zu jeder Tageszeit verlassene Plätzchen finden. Aber bald stechen einem auch die bombardierten titoistischen Verwaltungsgebäude ins Auge, durch Zaunlücken schlüpfen Obdachlose. Oder man kommt nach Dedinje, das Belgrader Nobelviertel, das den Vergleich mit Beverly Hills nicht zu scheuen braucht. Nur leben hier Kriegsverbrecher hinter den Stahltoren, bewacht von Bodyguards und marmornen Löwenstatuen.

Belgrad muss man gesehen haben. Nicht aus bloßer Urlaubsfreude, sondern aus Interesse. Aus Interesse an dieser Mischung aus Kriegsfolgen und Hedonismus, aus verrottetem jugoslawischen Wohlstand und Protzigkeit. Aus Interesse daran, was hier sechs Stunden vor Wien entstanden ist.

Joseph Gepp

Etwa sechs Stunden Autofahrt, Busse von Erdberg, Züge von West- und Südbahnhof

Erschienen im Falter 21/09

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Eingeordnet unter Balkan, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Reisen

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