Monatsarchiv: März 2009

„Stierhoden und Löwenherzen“

Philosoph Konrad Paul Liessmann über antikes Doping und perfekte Körper

Gespräch: Joseph Gepp

Konrad Paul Liessmann, 56, Philosoph, stellte kürzlich die Frage: „Wollen wir überhaupt sauberen Sport?“ Der Falter fragte nach.

Falter: Herr Liessmann, bevor Sie eine Vorlesung halten oder einen Aufsatz schreiben – womit dopen Sie sich?

Konrad Paul Liessmann: Mit allem, was es im Unibuffet gibt: Apfelsaft, Kaffee, leider auch Red Bull.

Bei einer Podiumsdiskussion im November fragten Sie, ob sauberer Sport überhaupt erwünscht sei. Ist Sport per se unsauber?

Liessmann: Das war natürlich pointiert. Aber Profisport bedeutet immer, dass man was mit dem Körper macht, das er sonst nicht tun würde. Es gibt kein Naturtalent, das 100 Meter in 9,7 Sekunden läuft. Beim Spitzensport haben wir mit ausgeklügelten Körperformationssystemen zu tun. Das ist für uns klar. Aber Doping, chemische Leistungssteigerung, gilt als unsauber: Körper und Fairness würden dadurch verunreinigt.
Paradox: Einerseits wollen wir Rekorde, andererseits Sport, der diese Erwartung nicht erfüllen kann. Dass offenbar gedopte Radler in den 90ern endlos Rekorde aufstellten, ist vorbei.

Aber was soll man tun? Wenn man Doping legalisiert, gibt es Tote.

Liessmann: Die gibt es auch jetzt. Bei Amateuren ist Doping viel verbreiteter als im Spitzensport. Dass sich hunderttausende Läufer und Radfahrer online EPO bestellen und spritzen, ist quantitativ gefährlicher als eine Handvoll aufgeputschter Spitzenathleten.

Eine Frage des Verhältnisses?

Liessmann: Ja. Und es gibt auch die etwas überzogene These, dass Doping gerade das bewirkt, was anderswo selbstverständlich ist: Menschen mit natürlichen Defiziten werden Mittel geboten, um diese auszugleichen.

Aber ist nicht der Sinn der Sache, dass der Sportler mit der größten Begabung und Disziplin gewinnt? Ruhm und Geld inklusive?

Liessmann: Wirklich? Dieser Gedanke basiert darauf, dass sich der von Natur aus Stärkste durchsetzen soll. Aber seit Sport ein Geschäft ist, fragt man nach Chancengleichheit: Warum soll nicht auch jemand mit wenig natürlicher Ausstattung berühmt werden?

Zum Beispiel?

Liessmann: Marathonläufer aus dem Hochland haben einen höheren Hämatokritwert als Flachländer. Sie werden immer ausdauernder sein.

Doping für Flachländer als ausgleichende Gerechtigkeit?

Liessmann: So argumentieren tatsächlich Dopingverteidiger. Man könnte aber auch ohne Doping die Schwachen schützen, etwa wenn bei Marathons Flachländer abgestuft früher starten als Hochländer. Nur: Ist das sinnvoll? Wollen wir das? Und für welchen Sport gelten welche Werte?

Aber überall wird doch Konkurrenz durch Regeln gebändigt: In der Wissenschaft soll man nicht plagiieren, in der Wirtschaft nicht betrügen. Warum soll das nicht für den Sport gelten?

Liessmann: Jedes Gesellschaftssystem braucht Regeln. Und die Sportwelt ist sich prinzipiell im Dopingbann einig. Es geht aber darum, ob man die Möglichkeit hat, die Einhaltung zu garantieren. Dopingtests, die Übeltäter erst Monate nach dem Wettkampf überführen, konterkarieren zumindest die mediale Seite des Sports.

Inwiefern?

Liessmann: Bei strenger Dopingpolitik ist der Sieger immer Sieger mit Vorbehalt. Vielleicht ist der Titel bald wieder weg. Aber der Nachrückende bekommt bei weitem nicht die verdiente Aufmerksamkeit. Oder wissen Sie, wer statt Bernhard Kohl Dritter bei der Tour de France 08 geworden ist?

Nein.

Liessmann: Eben.

Bei einer Volksabstimmung über die totale Legalisierung von Doping würden Sie also mit Ja votieren?

Liessmann: Ich glaube nicht. Ich habe durchaus eine romantische Vorstellung vom natürlichen Körper. Doping gab es ja schon in der Antike.

Auf welche Art?

Liessmann: Angeblich verspeiste man Stierhoden und Löwenherzen.

Und gab’s Dopingaffären?

Liessmann: Soweit ich weiß, nicht. Die Frage kam wohl erst im 19. Jahrhundert auf, im Pferderennsport.

Machen wir ein Gedankenspiel: Angenommen, der Profisport würde geteilt, Doper und Nichtdoper, bei freier Wahl. Würden dann manche Nichtdoper des Dopings überführt werden?

Liessmann: Sicher gäbe es Versuche. Ich fürchte aber, die Gedopten würden ohnehin auf mehr Interesse stoßen. Einerseits der höheren Leistung wegen. Und andererseits – traurig, aber wahr – könnte man mit spannenden Zwischenfällen rechnen.

Konrad Paul Liessmann ist Philosophieprofessor an der Universität Wien. Er hat mehrere Bücher über Philosophiegeschichte publiziert. Außerdem ist der Freizeitsportler als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist tätig

Erschienen im Falter 14/09

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Eingeordnet unter Allgemein

STADTRAND – Schnitten? Oder lieber Oblaten?

Der Sonntag ist, wie hier schon berichtet wurde, ein ideologisch umstrittener Tag. Nicht nur beim Billa am Praterstern, wo jeden Sonntag verlässlich eine kleine Schlacht ausbricht. Auch das Mannerschnittengeschäft am Stephansplatz, in dem aus jeder Fußbodenritze die zuckerlrosa Corporate Identity leuchtet, steht der Kundschaft sieben Tage pro Woche zur Verfügung. Allerdings gehört der Manner-Shop baulich gesehen zum Erzbischöflichen Palais. Und über den sonntags heftig frequentierten zuckerlrosa Türbögen baumelt ein strenger Sinnspruch katholischer Provenienz aus bischöflichen Fenstern: „Gib der Seele ihren Sonntag, gib dem Sonntag seine Seele.“ Ein Münchner Kardinal hat das gesagt, Papst Benedikt hat es zitiert, als er Wien besuchte und im Dom predigte. Besteht die angesprochene Seele vielleicht aus Nougatcreme zwischen Oblaten (oder, um bei der Corporate Identity zu bleiben: aus zarter haselnussbrauner Creme zwischen krossen Waffelscheiben)? Oder hat sich da der Teufel ins eigene Haus eingeschlichen – durch die zuckerlrosa Hintertür?

Erschienen im Falter 13/09

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Eingeordnet unter Konsum, Stadtleben, Stadtrand

Rauschfreie Geschäfte


Firmengeflechte ohne Transparenz, Grenzwerte ohne Konsequenz, Bürger ohne Mitsprache. Die Gemeinde Wien und ihre Handymasten. Ein Sittenbild

Bericht: Joseph Gepp

Wer auf sie achtet, dem fallen sie auf, die Masten auf den Hausdächern. An ihren Enden prangen längliche weiße Kästen. Sie stehen in der ganzen Stadt, damit wir rauschfrei telefonieren können, jederzeit und überall.

Etwa in den Straßen der Brigittenau. Dort blicken die Antennen vor allem von Gemeindebaudächern. So viele von ihnen, dass Ruth Dögl, Obfrau der Bezirksgrünen, einmal nachfragen wollte, wie das eigentlich so sei mit den ganzen Masten.

Ende 2008 stellte sie im Bezirksparlament eine Anfrage. Es war keine große Sache. Dögl wollte wissen, wem die Einnahmen der Antennen zustehen und wer die Masten überhaupt aufstellt. „Die Antwort aus dem Büro von Wohnbaustadtrat Ludwig hat vor Satzgirlanden nur so gestrotzt“, sagt sie. „Ich konnte sie einfach nicht entschlüsseln.“ 40 Mobilfunkstandorte befänden sich auf Brigittenauer Gemeindebaudächern, konnte Dögl gerade noch herauslesen. Und die Errichter? „Das Rathaus hat stattdessen die Betreiber aufgezählt: Mobilkom Austria, One, Hutchinson. Das habe ich aber gar nicht wissen wollen.“

Wer sich auf die Suche nach den Bauherren der Masten begibt, stößt in ein Feld vor, wo sich Rathauspolitik und Privatwirtschaft mischen. Hier stehen Interessengruppen gegeneinander, und nicht immer durchschaut man ihre Winkelzüge: Handybetreiber, die ein ruinöser Preiskampf zu immer größeren Investitionen und besseren Angeboten treibt. Bürger, die sich vor Strahlen fürchten. Und die Gemeinde, die beides will: ein lückenloses Handynetz bei gleichzeitiger Rücksicht auf etwaige Wählerängste – eine schwierige Aufgabe, die sie noch dazu an Private auslagert.

Es ist ein Gemisch, bei dem Transparenz unter die Räder komme, sagen Kritiker. So wie eine Gruppe Gemeindebaubewohner, ebenfalls aus der Brigittenau. Das war im Jahr 2003. Aber die Geschichte beginnt noch früher.

In den 90er-Jahren breitete sich das Handy massiv aus. Mit den Masten kam die Angst vor den gesundheitlichen Folgen, vor Elektromagnetismus und Datensmog. Von „Wildwuchs“ war die Rede, von der unkontrollierten Vermehrung der Antennen, von rücksichtslosen Geschäftsinteressen, die die Gesundheit der Bürger gefährden.

Das Spektrum der Kritiker reichte von Esoterikern, die in den Alpen nach strahlenfreien Höhlen suchten, bis zu ernsthaften Medizinern und Forschern, die vor noch nicht absehbaren Folgen des Elektrosmogs warnten. In ganz Wien kämpften besorgte Aktivisten gegen den Masten, der ausgerechnet ihr Dach schmücken sollte.

Damals entschied eine Kommission aus Umweltexperten und Stadtbeamten über die Aufstellung von Handymasten auf Gemeindebauten. Doch der Widerstand wuchs. Also gab Werner Faymann, damals SPÖ-Wohnbaustadtrat, Ende 2000 einen Strahlengrenzwert für stadteigene Gebäude bekannt. Es handelte sich um eine Selbstverpflichtung der Stadt Wien, eine Vorsorgemaßnahme, ein Zugeständnis an Kritiker, falls Strahlen tatsächlich gefährlich sind. Mit zehn Milliwatt sogenannter Leistungsflussdichte pro Quadratmeter lag der Wert weit unter internationalen Standards – die Weltgesundheitsorganisation WHO etwa rät erst bei einer 1000-mal höheren Belastung zur Sorge. Mobilfunkfirmen, verkündete Faymann, hätten sich von nun an vertraglich an diesen Wert zu binden.

Es folgte der nächste Schritt: Wiener Wohnen, gerade von der Gemeinde ausgegliedert, gründete eine Firma, die ausschließlich den Mastenwuchs auf städtischen Dächern bewilligen und regulieren sollte: die Telereal GmbH, Sitz in Favoriten, Wienerbergstraße 25. Bürgernäher und transparenter wollte man die Angelegenheit damit machen, in einer Hand sollten alle ihre Aspekte und Ansprechpartner versammelt sein.

Die Proteste hörten trotzdem nicht auf. Weiter kämpften Aktivisten gegen Antennen. Und 2003 kamen die Brigittenauer ins Spiel.

Damals, kurz vor Weihnachten, sollte auf einem Gemeindebau am Brigittaplatz ein vierter Mast errichtet werden. Die Bewohner protestierten. Sie nahmen eigene Messungen vor und stellten mancherorts eine Grenzwertüberschreitung fest. Die Stadt schaltete sich ein, der TÜV prüfte, ein Streit um Messmethoden und technische Details entbrannte. Am Ende wandten sich die Bürger an die Volksanwaltschaft. Die bestätigte in einem Brief, dass der Grenzwert „an einem Messpunkt deutlich überschritten wurde“, um knapp das Vierfache.

Allerdings: „Auf Einhaltung des Vorsorgewerts der Stadt Wien besteht kein Rechtsanspruch“, schrieb Volksanwältin Rosemarie Bauer (ÖVP).

mast
Streitobjekt Handymast

Zwei Jahre zuvor hatte Wohnbaustadtrat Faymann etwas anderes behauptet: Bei Überschreitung des Werts kann „in letzter Konsequenz eine Stilllegung bzw. Demontage der Anlage durchgesetzt werden“. Und auch heute sagt der Pressesprecher von Faymann-Nachfolger Michael Ludwig auf Falter-Anfrage: „Der Grenzwert ist rechtsbindend und wird in Verträgen der Mobilfunkbetreiber mit der Gemeinde festgeschrieben. Bei Überschreitung kann eine Demontage folgen.“ Man könne das sogar auf der Telereal-Homepage nachlesen, sagt der PR-Mitarbeiter.

Nicht nur die Volksanwältin widerspricht dieser Aussage. Auch Johann Killian, Zuständiger für elektromagnetische Verträglichkeit beim Handyanbieter Orange, sagt: „Es gibt keinen Vertrag mit der Gemeinde, in dem ein Grenzwert von zehn Milliwatt festgeschrieben ist.“ Killian hat schon 2003 in einem Brief an die Brigittenauer Initiative dasselbe gesagt: „In keinem Vertrag mit der Stadt Wien ist ein Grenz- oder auch nur ein Richtwert festgelegt.“ Das war drei Jahre nachdem Faymann die vertragliche 10-Milliwatt-Verpflichtung feierlich der Öffentlichkeit präsentiert hatte.

Bei der Gemeinde sagt man, dass man sich diese Widersprüche nicht erklären könne. Telereal beruft sich auf das Vertragsprocedere (siehe Interview).

„Hier werden die Bürger verschaukelt“, sagt einer der damaligen Brigittenauer Aktivisten, der aus beruflichen Gründen ungenannt bleiben möchte. „Irgendwann fragt man sich, ob es diesen ominösen Wert überhaupt gibt.“

Ob Handystrahlen tatsächlich gesundheitsgefährdend sind, ist umstritten. 2004 kam eine EU-finanzierte Studie zu dem Schluss, dass zu viel Mobilfunk zu Schädigungen des Erbguts führen kann. Die Ärztekammer empfahl darauf, Jugendliche unter 16 von Handys fernzuhalten. „Würden Medikamente dieselben Prüfergebnisse wie Handystrahlen liefern“, sagte damals Ärztekammer-Umweltreferent Erik Huber dem ORF, „man müsste sie sofort vom Markt nehmen“.

Namhafte Mediziner widersprachen ebenso wie Mobilfunkfirmen. Man konterte mit Gegenstudien und „Panikmache“. Der Streit blieb ergebnislos. Vielleicht wird man Strahlenangst einmal als Spleen alter Zeiten belächeln. Vielleicht aber zieren in 50 Jahren auch Warnhinweise Telefone wie heute Zigarettenpackungen.

Das ist der medizinische Aspekt der Sache. Der politische und wirtschaftliche Aspekt zeigt sich in widersprüchlichen Aussagen von Gemeinde und Mobilfunkfirmen. Er zeigt sich an den Erfahrungen der Brigittenauer, die schließlich den vierten Mast auf ihrem Dach nicht verhindern konnten. Er zeigt sich darin, dass man die Verantwortung für das heikle Thema einem privat-öffentlichen Mischkonstrukt aufgebürdet hat.

Die Firma Telereal kontrolliert laut Homepage „den Mobilfunkausbau nach den Vorgaben der Stadt Wien“. Ein Viertel von ihr gehört den Stadtwerken, ein weiteres dem Rathaus.

Die zweite Hälfte von Telereal besitzt ein Betrieb, der am Ausbau von Mobilfunknetzen per definitionem nicht ganz uninteressiert sein kann: die Elektromontagefirma Fleck in Favoriten. „Im Bereich des Betriebsfunks und des Mobilfunks“, schreibt Fleck auf seiner Homepage, „kann unser Unternehmen viele erfolgreich realisierte Projekte vorweisen.“

Die Montagefirma Fleck und die Kontrollfirma Telereal sitzen im selben Gebäude, Wienerbergstraße 25. Fleck hat 151 Mitarbeiter, Telereal drei. Fleck ist vielerorts tätig, hat Dependancen in Osteuropa und Südafrika. Telereal verfügte laut Firmen-Datenbank bis Jänner 2007 nicht einmal über eine Gewerbeberechtigung.

Im Aufsichtsrat von Telereal treffen sich Politik und Wirtschaft, dort sitzt etwa Finanzmagistratsabteilungschef Josef Kramhöller neben Wilhelm Fleck, Geschäftsführer seines Familienbetriebs. Wenn eine Mobilfunkmontagefirma eine Firma besitzt, die den Ausbau von Mobilfunk kontrolliert, dann würden Kritiker wohl von einem Interessenkonflikt sprechen. „Das ist ungefähr so“, sagt der Brigittenauer Aktivist, „als würde die Gemeinde einen Masterplan für sinnvollen Nichtraucherschutz erstellen – und von einer Marlboro-Tochter umsetzen lassen.“

„Es gibt keine Unvereinbarkeit“, hält Geschäftsführer Wilhelm Fleck dagegen. „Wir stellen nämlich gar keine Masten auf.“ Stattdessen verlege Fleck etwa Funknetze. „Vor Jahren hätten wir eine Firma übernehmen können, die dezidiert Masten aufstellt. Aber gerade wegen dieser Unvereinbarkeit wollten wir das nicht.“

Die Gemeinde sagt, man habe einen kompetenten Partner gesucht, Fleck verfüge über Erfahrung; umfangreiche Kooperationen zwischen dem Rathaus und Fleck würden vom Know-how der Firma zeugen.

Tatsächlich sind das Rathaus und Fleck eng miteinander verflochten: Die Firma übernahm etwa die Verlegung von Funknetzen in der Wiener U-Bahn. „Ein Schwerpunkt unserer Tätigkeit lag im Bereich der öffentlichen Hand“, steht im Fleck-Jahresbericht 2006. „Wesentliche Auftraggeber dabei waren die Wiener Holding sowie die Verkehrsbetriebeholding.“

Rund 760 Handyantennen stehen auf Wiener Gemeindebaudächern. Die Mobilfunkfirmen zahlen dafür laut Gemeinde jährlich etwa vier Millionen Euro Nettomiete. Das ergibt eine Pacht von ungefähr 5300 Euro pro Mast und Jahr. Von diesem Betrag kommt den Bewohnern, die bei Aufstellungen von Masten nicht mitbestimmen dürfen, ein Viertel direkt zugute: Es scheint in den Betriebskosten auf und wird verwendet, wenn etwa eine Renovierung fällig ist.

Die restlichen 75 Prozent gehen ins Wiener-Wohnen-Zentralbudget. Von da kommen sie – unter Umständen und über Umwege – zu jenem mastbestückten Bau zurück, der das Geld ursprünglich eingebracht hat.

Dass Mobilfunkverwaltung an Private ausgelagert wird, scheint ein Wiener Sonderweg zu sein: In Graz etwa wird der Mobilfunkausbau direkt von einem städtischen Amt koordiniert, der Bau- und Anlagenbehörde.

In Wien darf nicht einmal das Kontrollamt, die gemeindeeigene Prüfstelle, das Geflecht rund um die Antennen durchleuchten: Die Prüfer sind nur zuständig, wenn Firmen zumindest mehrheitlich im Eigentum der Gemeinde oder ihrer Töchter stehen. An Telereal jedoch hält der Privatbetrieb Fleck exakt die Hälfte.

Nur einmal stieß das Kontrollamt auf Fleck. Das war 1999. Die Prüfer hatten sich die Untersuchung von Auftragsvergaben beim Wiener U-Bahn-Bau vorgenommen. Dabei taucht – anonymisiert als „Firma F.“ – auch Fleck auf. Das Kontrollamt empfahl damals, „Komponenten in ihrer Gesamtheit und nicht in Teilen auszuschreiben“. Durch den Modus der Auftragsvergabe hatten die Verkehrsbetriebe offenbar Fleck bevorzugt.

Ein Jahr später ging man mit der gemeinsamen Gründung von Telereal erneut eine Partnerschaft ein.

Erschienen im Falter 11/09

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Eingeordnet unter Bürgerbeteiligung, Das Rote Wien, Konsum

Der letzte Zeuge der bleiernen Zeit

Am Stadtrand liegt Wiens letzte Bleisatzdruckerei. Ein Besuch

Reportage: Joseph Gepp

Ganz am Rand von Wien, im Brachland zwischen den Auffahrten zur Westautobahn, liegt die Druckerei Holzhausen. Ein Containerbauwerk, Industriestil, der Schnee tröpfelt vom Flachdach auf die Autos der Angestellten. Drinnen sitzen junge Menschen vor Computern, Maschinen brummen leise, und an den Wänden künden Hochglanzbilder von den Hochglanzprodukten des Betriebs, Kunstbücher im Roßhaardesign zum Beispiel oder pseudo-alte Einbände aus pseudo-vergilbtem Schafsleder.

Und dazwischen, in einer weißgetünchten gefliesten Kammer, sitzt Richard Pinter, 57 Jahre alt, aus Schattendorf im Burgenland. Er ist das letzte Überbleibsel von dem, was die ganze Druckerei Holzhausen einmal war, vor rund 30 Jahren. Er ist Bleisetzer.
Es gibt Fotos, die zeigen, wie der Betrieb damals aussah. Er lag noch nicht am Stadtrand, sondern in einem Gründerzeithaus in Neubau. Albrecht Dürer und Johannes Gutenberg wachten als Statuen vor dem Tor über den Stolz der Zunft. Drinnen arbeiteten hunderte Setzer vor tausenden Fächern, Läden und Schiebern, gefüllt mit Lettern. Sie wandten jene Methode an, die schon Johannes Gutenberg um das Jahr 1450 entwickelt hatte, den Druck mit beweglichen Lettern.

Vor 30 Jahren bauten die Arbeiter von Holzhausen auf diese Weise mathematische Formeln, altgriechische und kyrillische Texte, gar Hieroglyphen. Romane und wissenschaftliche Fachbücher entstanden von Hand, in jahrelanger Arbeit, Buchstabe für Buchstabe, Seite für Seite. „Wir hatten fünf serbische Gastarbeiter, die waren ausschließlich Formelsetzer“, erzählt Pinter. „Die machten den ganzen Tag nichts anderes, als mathematische Formeln zusammenzustellen und zu drucken.“

Dann kam die elektronische Textverarbeitung, die Gastarbeiter alterten und ein ganzes Gewerbe verschwand. Die Setzer wurden umgeschult, auf Textmontage, auf Computerarbeit. Aber wo früher 200 Leute notwendig waren, braucht man heute fünf. Die Setzer wurden Krankenpfleger oder Polizisten, oder sie gingen in Frühpension. Bis auf Richard Pinter, den letzten seiner Art.

Es ist ein merkwürdiges Bild, das er da abgibt, in diesem schlichten kleinen Raum eines schlichten Gebäudes, das offensichtlich anderen Zwecken als dem Bleisatz dient. „Manufaktur“ steht auf einem Schild an der Wand, in gerader Schrift neben dem modernen Logo der Druckerei. Altes und Neues bilden eine unharmonische Mischung am Arbeitsplatz Richard Pinter: Vor den Holzschiebern mit den bleiernen Lettern, schwarz geworden vom vielen Öffnen und Schließen, steht ein Plastikkanister mit rotem Totenkopfwarnschild. Auf einer Holzkiste klebt ein Kalender von 1985. Ein gusseiserner Doppeladler prangt auf der Druckerpresse aus dem Revolutionsjahr 1848, die Brust des Wappentiers ziert das Wort „Pressefreiheit“. Und daneben flimmert die aktuelle Uhrzeit samt Datum auf einem Computerbildschirmschoner.

Pinter – ein stämmiger Mann mit ausgeprägtem burgenländischer Dialekt, das Logo seines Arbeitgebers aufs türkise T-Shirt gestickt, auf dem Kopf eine breite 70er-Jahre-Brille und Gesundheitsschlapfen an den Füßen – druckt Universitätsurkunden. Ausschließlich, seit 25 Jahren. Damals verabschiedete sich die Druckerei Holzhausen fast vollständig vom Bleisatz. Nur Studenten, die auf ihr Diplom oder ihren Doktortitel besonders stolz sind, können sich seitdem ihr Dokument noch auf traditionelle Art herstellen lassen. Für 65 Euro liefern die Universitäten das handgesetzte Unikat auf siegelverziertem Karton oder Schafshautpergament. Es kommt aus der Werkstatt von Richard Pinter, gefertigt auf seiner Presse von 1848.
Von den tausenden Schiebern mit Lettern sind nur einige Dutzend geblieben, dort liegt der Rest des einst riesigen Fundus an Buchstaben. Einige Schriftarten, einige Schriftgrößen, für immergleiche Urkunden. „In den 70er-Jahren hatten wir auch noch eine eigene Bleigießerei“, sagt Pinter. „Dort haben wir Lettern angefertigt. Von dem Bestand zehren wir bis heute.“
Pinter, der vor 42 Jahren als Lehrling begann, weiß noch, wie die Technik zu handhaben ist. Seine stämmige Hände fliegen über die Bleiklötze, als wären sie Spielkarten. Der größte Teil der Urkunden bleibt immer gleich, der Name der Universität, der Rektor, der standardisierte Urkundentext. Pinter tauscht nur Namen, Studienfach, Geburtsdaten aus, immer wieder, flink und gewandt, eine jahrzehntelang eingeübte Tätigkeit. Er formt die Lettern auf einer Metallplatte zu Wörtern, richtet die Abstände zwischen ihnen aus, streicht dann mit einer Walze schwarze Farbe über die bleierne Vorlage. Danach legt er das Pergament über die Lettern, schiebt das Ganze unter die Presse und betätigt einen massiven, abgegriffenen, wohl millionenmal benutzten Holzgriff.

Das Gewicht der Presse senkt sich herab und drückt das Papier gegen den schwarzgefärbten Blei. Die Urkunde ist fertig. Diesmal ist es ein Magister. Es ist eine filigrane, konzentrierte Arbeit, die Pinter verrichtet, jedes Dokument ein Unikat. Er könnte Hütchenspieler sein, so ruhig und flink ordnet der die Bleiklötze aneinander, tauscht sie aus, schichtet sie um, schlichtet sie ein und fängt sie aus seinen vielen Fächern und Schiebern hervor.
Nächstes Dokument, anderer Name, selbe Studienrichtung – Pinter hat seine Urkunden vorab nach Uni-Fächern sortiert, das erspart Arbeit. Dasselbe Procedere, dasselbe konzentrierte Auswälzen der Lettern mit Farbe. Diesmal ist es ein Doktor, die Urkunde wird lateinisch ausgestellt, aus Wolfgang wird „Wolfgangus“, aus Georg „Georgus“. Im Gegensatz zur Magisterurkunde ist der Name des Doktors in goldener Farbe zu drucken. Pinter betrachtet die drucknassen Buchstaben, schüttelt danach ein wenig Kupferstaub aus einer verbeulten Blechdose, bläst ihn über die klebrige Farbe, verstreicht den restlichen Staub sorgfältig mit Watte. Dann glitzert der Name in schönstem Gold.

„Wenn ich weg bin“, sagt Pinter, „dann wird die Druckerei wohl einen anderen Weg finden, die Urkunden zu drucken.“ Dann verschwindet der Bleisatz und das Wissen um seine Handhabung.
Von him werden dann nur noch jene Begriffe bleiben, die auch in Zeiten der Bildschirmarbeit noch gebräuchlich sind: die „Punktgröße“, der „Umbruch“, die „Spationierung“ oder die „Bleiwüste“ als Scherzwort für lange Texte ohne Bilder.

Dann kommt die Druckerpresse von 1848 vielleicht ins Foyer des Gebäudes zwischen den Auffahrten zur Westautobahn. Neben den Kaffeeautomaten und die Mineralwasserflaschen. Als Erinnerung an nun endgültig vergangene Zeiten.

Erschienen im Falter 11/09, Buchbeilage

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Wandern und Kritzeln: ein Accessist auf Abwegen

Die Reisebeschreibungen von Joseph Kyselak, dem Ahnvater des Graffito, erscheinen in einer kommentierten Neuauflage

Rezension: Joseph Gepp

Der Nachruhm wandelt auf verschlungenen Pfaden. Vor fast 200 Jahren lebte in Wien ein kaiserlicher Registratur-Accessist, in heutiger Diktion: Buchhalter. Er kam aus einer einfachen Beamtenfamilie, er starb früh, mit 30 Jahren, an der damals in der Stadt grassierenden Cholera. Vergessen hat man Joseph Kyselak
trotzdem nicht.

Fünf Jahre vor seinem Tod, 1825, packte er nämlich sein „nothwendigstes Gepäcke“ und zog durch die österreichischen Lande. Der daraus folgende Reisebericht ist 450 Seiten dick, stellenweise schwärmerisch verschraubt im damals zeitgemäßen
Stil, andernorts wieder kühl und sarkastisch, zum Beispiel bei der Beschreibung des steirischen Kurorts Tobelbad nahe Graz: „Dieses (…) unansehnliche Dörfchen soll eine besondere Einwirkung auf Kranke besitzen, ich konnte aber nicht erfahren, ob diese in wunderbarer Hebung des Krankheitsstoffes oder baldigem Tod bestehe.“

Romantische Reiseschilderungen lagen im Biedermeier im Geschmack der Zeit, und viel größere Namen als Kyselak zogen schriftstellernd durch Europa, Byron in Griechenland etwa oder
Goethe in Italien. Es waren demnach nicht die „Skizzen einer Fußreise durch Oesterreich, Steiermark, Kärnthen, Salzburg, Berchtesgaden, Tirol und Baiern nach Wien“, die Joseph Kyselak
unvergessen machen sollten.

Es war sein Nachname. Kyselak hatte sich angewöhnt, ihn in fast unzugängliche Bergwände oder verfallene Burgmauern, auf
Statuensockel oder Felsblöcke zu ritzen. Er hinterließ ihn in einer eigenwillig krakeligen Schrift, ähnlich einem Logo oder einer Bildmarke, wie die Herausgeber im Vorwort zur Neuauflage des Reisebuchs betonen. Ob ihn der Selbstdarstellungswille dazu bewog, ob es eine enttäuschte Liebesgeschichte war oder ob er lediglich
ein Zeugnis der Überwindung steiler Bergstrecken und öder Ebenen geben wollte, ist nicht überliefert. Was heute allenfalls an Richard
Lugner oder Paris Hilton denken lässt, muss damals, in einer ständisch-korporatistischen Gesellschaft, geradezu unglaublich erschienen sein: Kyselak soll sogar in die Hofburg vor den Kaiser zitiert worden sein, um seine Schrulle zu rechtfertigen. In Loiben
in der Wachau, in Perchtoldsdorf, auf einer barocken Säule im
Wiener Schwarzenbergpark in Neuwaldegg und an vielen anderen Orten findet sich heute noch sein Namensschriftzug.

Der Accessist regte die Fantasie an. Er erreichte, was vielleicht von Anfang an der Zweck seiner Marotte war: Er wurde berühmt. Hymnische Gedichte ehrten sein Wirken („Schwindlig ob des Abgrunds Schauer / Ragt des höchsten Giebels Zack / Und am
höchsten Saum der Mauer / Prangt der Name Kyselak“). Er galt als Inbegriff des schrulligen biedermeierlichen Junggesellen, wurde in Radierungen und historischen Romanen verewigt. Später, zur Zeit der Ersten Republik, stilisierten ihn die Christlichsozialen zum einzelgängerischen Gegenbild des sozialistischen Herdenmenschen in seinen uniformen Gemeindebauten. Egon Erwin Kisch verspottete seinen „Verewigungstrieb“, Heinrich Mann diente er als Vorlage für eine Romanfigur, Viktor Adler zitierte ihn im Reichstag. Schließlich erklärte ihn die Graffitigemeinde zu ihrem Urvater – die
Floskel „Respect und R.I.P. Kyselak!“ findet man heute in so manchem HipHop-Forum im Internet.

Jetzt sind seine „Skizzen einer Fußreise durch Österreich“ als Neuauflage erschienen. Es handelt sich dabei um den ungekürzten Originaltext von 1829, versehen mit Namens- und Ortsregister, umfangreichen Fußnoten und einem ebensolchen Vorwort der Herausgeber Gabriele Goffriller und Chico Klein. Dieses versammelt
die Resultate der zweijährigen wissenschaftlichen Beschäftigung
der Kunsthistorikerin und des Filmregisseurs mit Kyselak. Nach aktuellem Forschungsstand wird das Leben und frühe Sterben des kaiserlichen Beamten geschildert, verbliebene Namenszüge lokalisiert und die Rezeption des Kyselak’schen Schaffens der vergangenen 200 Jahre erklärt, verschieden gedeutet, je nach Zeitalter und vorherrschender Denk- und Herrschaftsweise.

Und die ist mannigfaltig: Selbst in die chinesische Mauer sollen Nachahmer vor rund 100 Jahren ein begeistertes „Kyselak“ geritzt haben. Und der große Alexander von Humboldt soll bei seiner Forschungsreise nach Südamerika auf dem Andengipfel Chimborazo einen „Kyselak“ vorgefunden haben – wobei immerhin dieses Gerücht definitiv falsch ist: Humboldt erklomm den Chimborazo
im Jahr 1802. Da war der kleine Kyselak in Wien gerade drei Jahre alt.

Erschienen im Falter 11/09, Buchbeilage

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STADTRAND: Großraumsupermarkt ohne Dresscode

Falls Sie selbst noch nicht dort waren: Es ist ungefähr wie die letzte Seite der Asterix-Hefte, wo das versammelte Gallierdorf immer zu raufen anfängt. Jetzt noch ein paar durch die Luft fliegende Salatgurken und Tamponpackerln dazu – und da ist er: der sonntägliche Billa am Praterstern. Anderswo ist der Sonntag noch dem lieben Gott, der Ruhe oder sonst was Angenehmem gewidmet. Hier tobt das High Life. Da drängeln, schieben und stoßen die Einkaufenden. Da steigen sie sich gegenseitig auf die Füße. Da demonstrieren aggressive Einkaufswagerl-Schnauzen und hilflose Achillessehnen die evolutionäre Hackordnung. Da kauft der Obdachlose sein Bier, der Yuppie seinen Rioja und die gestresste Mutter überhaupt alles, was die Familie über die Woche zum Leben braucht. Der Billa am Praterstern ist wie die danebenliegende Großraumdisco. Nur ohne Dresscode. Und voller. An der Kassa steht gerade ein Jugendlicher. Er wird noch lange warten müssen. Er hat einen Schokoriegel und eine Dose Red Bull erbeutet. Als wäre das den Aufwand wert gewesen.

Erschienen im Falter 11/09

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Komakriechen


In London oder Berlin sind die organisierten Sauftouren fast schon legendär. Jetzt hat auch Wien einen Pub Crawl


Reportage: Joseph Gepp

Es gibt Insignien moderner Städte, bei denen fragt man sich, ob sie wirklich sein müssen. Zum Beispiel Pub Crawl, Deutsch etwa „Beislkriechen“. In London kann man Beislkriechen, in Prag, in Berlin sowieso. Nur in Wien, der lumpigen Provinzstadt, gab’s bisher keinen Pub Crawl.

Bisher. Denn nun findet sich in einem vornehmlich von US-Amerikanern frequentierten Innenstadtlokal ein Werbezettel: SOS Pub Crawl Vienna. Four bars and one club, free shots, multilingual guides, international flair. Beislkriechen in Wien. Für nur zehn Euro. Das wird was.

Pub Crawl bedeutet, dass ein Rudel wildfremder Menschen mittels kundigem Führer von Beisl zu Beisl und Disco zu Disco geleitet wird. Und auch zwischen den Lokalen macht oft die Schnapsflasche die Runde. Deklariertes Ziel ist die mit dem Vollrausch einhergehende Hemmungslosigkeit.

Beislkriechen ist – wertend gesprochen – etwas für Amerikaner, die erstmals den Restriktionen ihrer Mormonenmütter entflohen sind. Oder für den Erasmus-Studenten aus Fünfeichen an der Oder, der in Wien ein paar Monate lang das pure Leben atmet.

Am Ende ist man in der Regel ziemlich betrunken und landet wahlweise im Straßendreck oder im Bett eines Co-Pub-Crawlers. „Die Bezeichnung crawl„, sagt das Internetlexikon Wikipedia, „weist auf den physischen Zustand der Teilnehmer am Ende der Veranstaltung hin.“

Treffpunkt Mittwoch, 21 Uhr, Schwedenplatz, in front of the McDonald’s.

Schon ab halb neun stehen dort Menschen um ein selbstgebasteltes Schild, „SOS Pub Crawl“. Mario, der junge Gruppenleiter aus dem Burgenland, Sportjacke, dröhnende Stimme, nimmt sie in Empfang. Seit Jänner würde er das hier betreiben, erzählt er, es gehe ganz gut, mal so, mal so, kürzlich seien nur zwei Leute gekommen, jetzt seien es schon an die 25.

Überraschend viele davon sind Österreicher, mehr als die Hälfte der Gruppe. Eine halbe HTL-Klasse aus dem steirischen Zeltweg hat sich eingefunden, drei Niederösterreicherinnen, sogar zwei Wiener, die offensichtlich jede Woche aufs Neue dabei sind. „Letztes Mal waren es fast nur Kanadier und Australier“, sagt einer der beiden. Er rückt seinen Cowboyhut über der Glatze zurecht, während ihm Mario auf die Schulter klopft und ihn „unser Urgestein“ nennt. Der Wiener lächelt geschmeichelt und sagt: „Beim Pub Crawl ist das wie bei Nokia. Get connected, Oida.“

Der Gruppenleiter agiert so verantwortungsvoll, wie es bei einem solchen Job möglich ist. Er achtet auf die Vollzähligkeit seiner Schäfchen, sichtlich darum bemüht, schnell alle Namen zu kennen. Er hält sich beim Trinken merkbar zurück und teilt umso reichlicher aus. Wie ein Animateur im All-Inclusive-Club geht er der Gruppe voran, lacht, gestikuliert, tätschelt Wangen, stellt Menschen einander vor, bindet Schüchterne in die Gruppe ein und hält ohnehin Mutige zurück, indem er sie in Einzelgespräche verwickelt. Gruppenbildung, professionell angeleitet. 100 Meter vom McDonald’s entfernt kennen einander alle schon ein bisschen. Und der erste Schnaps fließt.

Es ist ein süßer, rosa gefärbter Wodka, den der Gruppenleiter aus seinem Rucksack zieht, dann wird ausgeteilt und angestoßen. Die Verwegenen dürfen sich den Schnaps direkt in den Mund gießen lassen. Nicht den Mund zumachen, fordert Mario, sonst rinne das Zeug über die Kleider, come on, come on, come on, er wechselt übergangslos vom fließenden US-Englisch ins Burgenländische, „Kummts! Irgendwie muas des G’schloda ja weg.“

Es folgt der erste Lokalbesuch, der zweite, der dritte, keine Bar ist weiter als 100 Meter von der nächsten entfernt. Die Zeit dazwischen reicht gerade für die obligaten Schnapsrunden, die Drinks in den Bars sind extra zu bezahlen. Im dritten Bermudadreieck-Lokal merkt man jedem in der Gruppe den Rausch an. Jetzt kommt der Pub-Crawl-Effekt, die Leute sind aufgeputscht durch den Alkohol, sie lachen, reden, lassen sich fallen. Die Gesprächigen reißen die weniger Gesprächigen mit, niemand will den anderen übertrumpfen, man kennt sich ja ohnehin kaum. Die Betrunkeneren beginnen unter teilnehmendem Lachen der Gruppe eine Art Aufgabenkatalog abzuarbeiten, den der Gruppenleiter am Beginn der Tour – zusammen mit Kondomen – ausgeteilt hat: ABCs backwards after 3 shots of tequila, steht da etwa, das Alphabet rückwärts aufzählen im eher unkonzentrierten Geisteszustand; keiner schafft’s.

Mario hat sein Ziel erreicht, die Menschen gehen aus sich heraus. Ein wohlhabender Teenager aus Istanbul erzählt, dass es ihm eigentlich viel zu kalt sei hier in Wien, aber er wolle halt dem Militärdienst in der Türkei entfliehen. Seine angeheiterte Freundin ergänzt, das Osmanische Reich sei nur deshalb untergegangen, weil die Männer dauernd in den Krieg gezogen seien, statt in ihren Dörfern zu bleiben und Kinder zu machen.

Zwei Schottinnen grinsen selig, und die steirischen HTL-Schüler beginnen zu klagen: Vier Tage seien sie jetzt hier, auf Schullandwoche in Wien, und seitdem wären sie nur am Saufen, mit kaum Schlaf zwischendurch. Und jetzt auch noch Beislkriechen. So was gehe echt an die Sub-stanz mit der Zeit.

Erschienen im Falter 10/09

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Eingeordnet unter Reportagen, Stadtleben, Wien

Eine Tote aus dem Osten – Denisa Š. und die anderen

Aus zwei Gesellschaften: Mitteleuropa-Essayist Martin Leidenfrost hat den Tod einer slowakischen Altenpflegerin beschrieben

Rezension: Joseph Gepp

Eine Geschichte braucht kein Happy End, um interessant zu sein. Sie braucht keinen großen finalen Punkt, an dem sich alle Fragen aufklären und alle Widersprüche entwirren. Ihr Weg kann ihr Ziel sein – denn alle Aspekte, die man auf diesem Weg kennenlernt, prägen die Geschichte und schaffen das Interessante an ihr.

„Die Tote im Fluss“ ist gewissermaßen ein gescheitertes Projekt. Der Autor wollte einen dieser Fälle aufklären, von denen man nicht weiß, ob es sich um einen Mord handelt oder um einen Selbstmord, ob jemand das Opfer in den Tod trieb oder es aus freien Stücken diesen Weg wählte. Einen dieser Fälle, die desto widersprüchlicher werden, je mehr man sich in sie vertieft.

Der Tod der slowakischen Altenpflegerin Denisa Šoltísová bleibt rätselhaft, auch nachdem ein Buch über ihn geschrieben wurde. Aber seine in dem Buch beschriebenen Begleitumstände öffnen die Tür zu zwei Ländern mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten, zu Arbeitswelten, zu wechselseitiger Ausbeutung und Symbiose, zu kulturellen Schranken und zu allgemeiner Feigheit. Und zur Art und Weise, wie die Polizei – hier die oberösterreichische – manchmal Fälle zu behandeln pflegt, denen Ausländer zum Opfer fallen.

Martin Leidenfrost ist ein Niederösterreicher, der lange in der Slowakei lebte. Von Devínska Nová Ves aus, einer Stadt an der österreichischen Grenze, verfasste er nette kleine Episoden aus der „Welt hinter Wien“ fürs Presse-Spectrum, die inzwischen auch als Buch vorliegen. Dann stieß er zufällig auf den Fall Šoltísová. Slowakische Medien berichteten groß darüber, österreichische Medien gar nicht.

Šoltísová, 29, hatte im oberösterreichischen Vöcklabruck gearbeitet, als Pflegerin bei einer reichen Ärztefamilie. Am 29. Jänner 2008 fand man ihre nackte Leiche im Fluss Ager. Die Ermittler schlossen den Akt schnell, Selbstmord, hieß es sofort.

In der Tat deutet einiges darauf hin: Kurz vor ihrem Tod soll Šoltísová verwirrt und geistesabwesend gewirkt haben. In der Nacht ihres Verschwindens sah man sie auf der Straße herumirren, in Unterwäsche.

Und dennoch: Selbstmörder ziehen sich gemeinhin nicht aus, bevor sie in Flüsse springen. Auf den Oberschenkeln der Frau fand man Quetschwunden, die auf eine Vergewaltigung hindeuten. Und im Körpergewebe trug sie Spuren von Arzneimitteln, die sie weder benötigt hatte noch gekauft haben konnte, denn weder in Österreich noch in der Slowakei sind sie zugelassen.

All das wurde aber erst zum Thema, als sich Journalisten, allen voran Leidenfrost in der Presse, dem Fall zuwandten und die Selbstmordthese ins Wanken brachten.

Jetzt hat er seine Recherchen und die dabei gewonnenen Eindrücke in einem Buch versammelt, halb essayistisch-subjektiv, halb kriminalistisch-nüchtern. 350 Kilometer trennen Leidenforst von Vöcklabruck, 350 Kilometer von jenem abgelegenen zentralslowakischen Hochland, aus dem Šoltísová stammte.

Im Buch dienen diese Entfernungen als Leitmotiv. Ihnen gemäß versucht sich der Autor in der Mitte zu positionieren, zwischen dem österreichischen Wohlstand und seinen Ansätzen in der Slowakei, zwischen den ostslowakischen Frauen, die in Österreich schwarz als „24-Stunden-Pflegekräfte“ arbeiten, und jenen gutbürgerlichen Familien, die hierzulande ihre Hilfe benötigen und sie dankbar – und skeptisch – annehmen. Und zwischen dem strengen Zusammentragen der Indizien und dem persönlichen Empfinden, das man dabei hat. „Ich war als Kriminalist so schlecht, dass ich stets an mögliche Täter dachte, an das Opfer lange nicht. Erst spät begann ich, mich zu fragen, wie sie eigentlich war.“

So entsteht ein Blick, den nur jemand liefern kann, der in zwei Gesellschaften zuhause ist. „Denisa“, zitiert Leidenfrost eine Freundin der Verstorbenen, „habe nicht zu den Frauen gehört, die sich während der 14 Tage zuhause (nach dem Arbeitsaufenthalt in Österreich, Anm. d. Red.) gebärden, als wären sie frisch aus dem Paradies eingetroffen.“

Viele solcher Bekannte kommen zu Wort. Sie helfen letztlich nicht weiter. „Ich hatte den Überblick, ich hatte Länder, Sprachen, Perspektiven, aber nur weitere Rätsel produziert“, endet Leidenfrost.

Denisa Šoltísová findet keine abschließende Gerechtigkeit. Im persönlichen wie im gesellschaftlichen Kontext. Was mit ihr geschah, wird man vielleicht nie wissen.

Aber das macht ihre Geschichte nicht aus.

Martin Leidenfrost:
Die Tote im Fluss. Der ungeklärte Fall Denisa S.
Residenz Verlag,
144 S., € 14,90

Erschienen im Falter 10/09

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Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien