Monatsarchiv: Februar 2009

Zen oder die Kunst des Boulderns

Wer ohne Seil klettert, sucht seine Körpermitte. Für den Anfänger ist das nicht einfach

Protokoll: Joseph Gepp

Es gilt ja gemeinhin als witzig, Menschen dabei zuzuschauen, wenn sie etwas zum ersten Mal machen. Denn einerseits kann man dann über die wacklige Unbeholfenheit des Anfängers lachen, andererseits bewundert man insgeheim seinen Wagemut, denn man selbst hätte sich diese Blöße nie gegeben.

Walfischgasse, Innenstadt. Es ist immer wieder verblüffend, was so alles hinter Wiens gleichförmigen Gründerzeitfassaden liegt. In diesem Fall ist es eine Boulderhalle, eine Aneinanderreihung von geraden, schiefen oder geschwungenen Wänden, mehr oder weniger hoch, eine verästelte, zerschnittene und durchfurchte Raumstruktur, wie in einem expressionistischen Film.

Kleine bunte herausragende Plastikklötze zieren die Wände. An diesen Vorsprüngen hält man sich fest. „Bouldern“ heißt Klettern in Absprunghöhe, wie der Autor dieser Zeilen zwei Tage vor dem Verfassen dieses Berichts gelernt hat. Man hantelt sich von Plastikklotz, korrekt „Kunstgriff“, zu Plastikklotz. Die ganz Geübten kommen auf diese Art sogar bis an die Decke, wo sie dann hängen und sich nach einer eleganten Pause gekonnt aus rund drei Metern auf den Boden fallen lassen. Den bedeckt eine dicke Schicht gelber Gummimatten, denn Abstürzen gehört zum Bouldern wie der Abschlag zum Golfen.

klettern
Der Autor boulder in Österreichs größer Boulderhalle

Freilich, wer Bouldern will, braucht Muskelkraft. Bouldern ist der gewandte Kampf gegen die Schwerkraft. Als kleine Hilfe dienen lediglich die Plastikklötze, an denen man sich mit straff gespannten Fußspitzen oder abenteuerlich verbogenen Fingern festkrallt. Dementsprechend sind viele der Kunden hier geübte Kletterer. Die Halle ist die größte und älteste in Österreich. Manch nationaler Profi trainiert hier. Schmale, drahtige Körper hanteln sich behände die Wände hinauf und lassen sich fast gleitflughaft wieder fallen. Nur dem Autor, der sich hier an einer Schnupperstunde versucht, sagt Bouldern ungefähr so viel wie Modellbau oder Fliegenfischen.

„Es kommt auf die Körpermitte an“, sagt Vera Mair, 27, berggeeichte Südtirolerin und Trainerin des Ungeübten. Wenn ein Kletteranfänger die Schwerkraft überwinden will, dann presst er seinen ganzen Körper gegen die Wand, das scheint ihm logisch. Gekonnte Kletterer dagegen hocken geradezu am simulierten Felsen. Ihr Körper hängt an ihren durchgestreckten Armen, ihre angewinkelten Beine stemmen ihn von der Wand weg. Dazwischen baumelt der Hintern wie ein Pendel. Der wird so zur frei regulierbaren Körpermitte. Wer das Becken etwa nach links schwenkt, verlagert sein Körpergewicht in dieselbe Richtung. Dann zieht er Arme und Beine nach, wechselt auf diese Art spielerisch die Position auf der Kletterwand, und irgendwann wird aus ihm ein guter Boulderer.

Das klingt einfach. Der Anfänger allerdings beginnt 30 Zentimeter über dem Boden mit seinen Übungen. Die verkrampften Finger schmerzen. Und befindet sich der angepeilte Plastikklotz weiter als einen halben Meter vom vorherigen entfernt, dann stürzt man unweigerlich ab, auf die Matte. Der daneben stehende Fotograf lacht hemmungslos über die ersten Schweißperlen, denn er selbst sei ja fast Profikletterer, behauptet er, er habe das regelmäßig gemacht, mit 17 oder 18.

Nach 20 Minuten scheint es erstmals zu funktionieren. Das Prinzip der frei schwenkbaren Körpermitte ist erfasst, und eine so schlechte Figur macht man jetzt gar nicht mehr auf der Kletterwand, glaubt man zumindest. Freilich, nebenan, auf der intern sogenannten Machowand, trainieren die schmalen drahtigen Körper, hängen waagrecht an der Decke wie die Menschenaffen in „Universum“, fallen zurück auf die Erde wie Segelflieger. Und kaum scheint einem die eigene Kletterperformance nicht mehr ganz so peinlich, ist auch schon die gefühlte Leistungsbereitschaft eines ganzen Monats verpulvert.

Wenn das Wetter besser ist, dann fahren die Könner gruppenweise in die europäischen Kletterparadiese, ins felsige Zillertal, nach Fontainebleau vor den Toren von Paris oder in die abgelegenen Wälder des spanischen Aragón. Sie schnallen ihre eingerollten Sturzmatten und die biegsamen Kletterschuhe auf die Rücken und ziehen gemeinsam durch die Wälder, bis sie die ersehnten Boulderfelsen erreichen. Dann klettert einer, und die anderen liegen derweil entspannt auf dem Waldboden, schauen aufmerksam zu, bewerten, applaudieren, kritisieren. Bis der Nächste klettert. Klingt sehr nett, das alles. Natur, Wettkampf, Freiheit, eine europäische Szene, mens sana in corpore sano.
Aber dazu werden noch einige Boulderstunden nötig sein.

Informationen
Boulderhalle Edelweiss,1., Walfischgasse 12
http://www.edelweiss-center.at
Für Interessierte: http://www.klettercoaching.at

Erschienen im Falter 5/09

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Schöne zweite Reihe

Sie ist so unwichtig, dass sie nicht einmal im Stadtplan steht. Eine Hommage an die Zweierlinie

Essay: Joseph Gepp

Man stelle sich den schweigsamsten Taxifahrer der Stadt vor. An einem bestimmten Punkt seiner Strecke wird er nicht herumkommen zu fragen: „Über die Zweierlinie?“

Die Zweierlinie, diese eigentlich nicht existente Straße, ist im Bewusstsein der Wiener so real wie der O-Wagen und die Meidlinger Hauptstraße. Sei es der fragende Taxler, der Ö3-Verkehrsfunk, die Fahrradwegpetition der Grünen, die Stauprognose des ÖAMTC oder der Artikel im Bezirksblatt: Sie alle sprechen von der Zweierlinie. Wer stattdessen Landesgerichtsstraße, Auerspergstraße, Museumsstraße und Getreidemarkt sagt – er könnte nur ortsfremd sein oder stockignorant.

zweierlinie
Namenloses Wintergrau – Foto von Heribert Corn

Die Zweierlinie ist das stillschweigende Übereinkommen von 1,6 Millionen Städtern, eine Straße anders zu nennen, als sie offiziell heißt. Offiziell ist sie nämlich keine Straße, sondern die Aneinanderreihung der genannten vier Strecken. Auch verkehrt hier keine Straßenbahn, weder ein Zweier noch sonst etwas, das das Anhängsel „Linie“ rechtfertigen würde. Die Zweierlinie ist ein beeindruckendes Zeugnis der Veränderungsresistenz dieser Stadt und ihrer Bewohner.

Früher fuhren hier Straßenbahnen

Der Ausdruck stammt aus dem Jahr 1907. Damals trat Oklahoma als 46. Bundesstaat den USA bei, und Rainer Maria Rilke veröffentlichte seinen neuesten Gedichtband. Damals war Wien mit 2,1 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt der Welt, und für das Jahr 1950 prognostizierten die Behörden eine Bevölkerungszahl von vier Millionen. Und es fuhren Straßenbahnen auf der Zweierlinie. Der E-Wagen aus Gersthof, der G-Wagen aus Döbling und der H-Wagen aus Hernals, sie trafen sich auf der Universitätsstraße und tuckerten von da an gemeinsam in Richtung Landstraße. Im – bereits damals komplizierten – Streckenkennungssystem der Verkehrsbetriebe wurden die Straßenbahnlinien deshalb mit einer kleinen Ziffer versehen: E2, G2, H2.

In den 60ern des 20. Jahrhunderts wurden die Züge unter die Erde verlegt. 1980 schließlich ließ man sie auf und errichtete eine U-Bahn – die U2. Die Kennziffer jedoch blieb in der Alltagssprache erhalten wie eine Erinnerung an alte Zeiten. Sie hat sich den Wienern offenbar eingeprägt.

Wien ist keine Stadt der breiten Breschen. Sie ist weitgehend gründerzeitlich mit mittelalterlichem Kern, ein planerisches Gewirr, ein jahrhundertelang entstandenes Gassenchaos. Nur dort, wo sich ohnehin Schneisen durchs Straßengeflecht schlugen, entstanden jene Rundrouten, die heute die Stadt umkreisen und einfassen. Wo jetzt der Gürtel verläuft, lag bis zur Wende zum 20. Jahrhundert der Linienwall, die Grenze zwischen den Vorstädten und dem Umland. Und am heutigen Ring entlang zogen sich bis 1857 die Basteien, die mächtigen Stadtmauern.

Stadtmauern ohne Zweck

Acht Stadttore durchbrachen sie und verbanden das stark befestigte Wien mit dem Rest der Welt. Elf dreieckige Vorbauten, sogenannte Ravelins, waren zur optimalen Sicht auf den heranstürmenden Feind an die Mauer gebaut worden. Und ein bis zu 600 Meter breiter Streifen Brachland, das Glacis, umrundete die Festung. Auf der bräunlich-grünen Staubwüste herrschte Bauverbot, denn die Verteidiger der Stadt sollten im Belagerungsfall ein freies Schussfeld überblicken können.

Zur Barockzeit waren die Basteien ein Meisterwerk des Festungsbaus gewesen. Aber schon 150 Jahre später zeigte Napoleon, dass die Anlage modernen Kriegsmethoden nicht mehr standhielt. Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich hatte das Gemäuer vollends seinen Zweck verloren: Die Ravelins dienten den Wienern als Aussichtsterrassen, das Glacis war mit Bäumen und schmalen Alleen verziert worden. In der Nacht trafen sich vor dem Palais Auersperg die Kavaliere zum Duell, und vor dem Schottentor warteten Prostituierte und Stricher auf Kunden. Die Gegend erfreue sich „keines guten Rufs“, liest man in einer alten Bezirkschronik. „Viele leichtfertige Dirnen fanden sich hier ein.“

Also schleifte man die unzeitgemäße Mauer und planierte das Glacis zu. Die Ringstraße entstand. Der glanzvolle Ausdruck einer aufstrebenden Stadt sollte sie sein, das idealisierte Spiegelbild einer bürgerlich-monarchistischen Gesellschaft, ihrer Kultur, ihres Bildungsdurstes, ihrer Theaterabende und Reichstagsdebatten.

Es war eines der gewaltigsten Bauprojekte der europäischen Geschichte. 90 neue Straßen und Plätze und rund 500 private und öffentliche Gebäude entstanden dort, wo vorher Basteien, Ravelins und Glacis waren. Nachher war Wien eine völlig andere Stadt geworden.

Nun galt es noch, das gründerzeitliche Gesamtkunstwerk von Fuhrwerken und sonstigem ordinären Gefährt freizuhalten. Aus diesem Grund entstand 1862 am äußeren Rand des Glacis, wo vorher die Vorstädte begonnen hatten, eine Straße mit dem hübschen Namen „Lastenstraße“. Die wurde später zur Zweierlinie.

Die Zweierlinie ist aus dem Willen geboren, die Ringstraße zu entlasten, die Schmutzpartikel des täglichen Stadtgetriebes aus dem Gründerzeitprunk herauszufiltern. Der Ring sollte beeindrucken und die Macht seiner Bauherren glanzvoll zur Schau stellen. Aber niemand wollte Fuhrwerke mit schmutzverkrusteten Rädern vor der Staatsoper. Deshalb wurde die Zweierlinie geschaffen, die Rückseite des Rings. Doch das Verlegenheitskonstrukt schuf den Raum für Experimente, für Zufälligkeiten und für jene kleinen Nischenentwicklungen, die vielleicht interessanter sind als das große Gesamtkunstwerk.

Belle Epoque und Biedermeier

Und die sieht man heute. Selbst jene Gebäude, die am Ring in der zweiten Reihe stehen müssen, der Justizpalast etwa oder die Akademie der bildenden Künste – sie wenden der Zweierlinie den Rücken zu. Hier herrscht kein gründerzeitlicher Einheitsstil wie an der Ringstraße. Hier vermischen sich die Konzepte und die Zeitalter: Belle Epoque dort, wo das Glacis verbaut wurde, behäbiges Biedermeier dort, wo einmal Vororte begannen. Dazwischen liegen ein paar barocke Paläste, von denen man früher einen schönen Blick auf die Stadt genoss. Und einige braungetönte, dezent angerostete Glaskästen aus den 70er-Jahren, wie sie am Ring nie und nimmer hätten entstehen können.

Der Zusammenprall der Epochen zeigt sich zum Beispiel auf dem Friedrich-Schmidt-Platz. Wo früher das Glacis lag, stehen heute große Gründerzeithäuser. Daneben das mächtige Rathaus, ein riesiges neugotisches Ritterschloss, laut dem zeitgenössischen Essayisten Egon Friedell „wie nach der Vorlage eines Kindermodellierbogens“ errichtet.

Gegenüber jedoch, auf der anderen Straßenseite, reihen sich noch einige verbliebene Biedermeierhäuschen des einstigen Vororts Josefstadt aneinander – deutlich niedriger, deutlich schlichter, mit deutlich weniger Ornamenten als ihre Pendants auf der anderen Seite. Hier trafen sich zwei Welten, und die gegenüberliegenden Häuser erzählen noch davon: „Tapezierermeister“ steht auf einer Fassade der alten Vorstadt, daneben das Jahr 1857. Es war, wie Soziologen sagen, eine Stadtkante, eine Grenze im Kopf, und vis-à-vis zog die Oberschicht in große Prunkwohnungen mit sorgfältig gewachsten Parkettböden und hohen Stuckdecken.

Mit Blick auf die Stadt

Dabei war auch die heutige Zweierlinie nicht armselig oder schlecht gelegen. Vom Rand der Vorstadt aus blickte man direkt auf die Stadt hinter dem Glacis und den Basteien. Und auf der anderen Seite der Mauer ragte der Stephansturm aus dem dichten Häusermeer.

Das machten sich finanzkräftige Bauherren zunutze. Nach der zweiten Türkenbelagerung 1683 begann ein Bauboom. Staat und Stadt expandierten auf Kosten der besiegten Osmanen. Und weil innerhalb der Stadtmauer fast jeder Quadratmeter verbaut war, wich der Adel in die Vorstadt aus – und ließ sich an der späteren Zweierlinie nieder, wo die Schaltstellen der Staatsmacht in Blickweite lagen.

Nicht nur die Hofstallungen, heute das Museumsquartier, schauten über das Glacis in Richtung Innenstadt und Burgtor. Direkt an der Zweierlinie entstanden etwa auch die Palais Trautson und Auersperg, bewohnt von den gleichnamigen Familien. Hinter den Palästen legte man Parks an, vor ihnen breitete sich das Glacis aus. Später jedoch verbaute man den Bewohnern den schönen Blick; vor den Panoramafenstern wuchsen Gründerzeithäuser in die Höhe.

Als die Ringstraße gebaut war, geriet die alte Grenze zwischen Wien und dem Rest der Welt, der schroffe Schnitt zwischen Stadt und Vorstadt, in Vergessenheit. Heute zeigt er sich nur noch an einigen Bauten.

In den folgenden Jahrzehnten wurde die Zweierlinie, die Stiefschwester der Ringstraße, zur Spielwiese für alles, was am Ring nicht erlaubt war. An der Universitätsstraße durfte Otto Wagner zum Beispiel 1887 sein „Hosenträgerhaus“ bauen. Das Gebäude mit gestreifter Fassade war das erste Wiener Hochhaus, das nicht – wie bei einem barocken Palast – den ersten Stock hervorhob und zur Beletage adelte, sondern – wie bei amerikanischen Gebäuden – geradlinig Fenster auf Fenster und Stockwerk auf Stockwerk setzte.

Avantgarde und Staatssicherheit

Das Gegenbeispiel am Ring ist das Hauptpostamt, ebenfalls unkonventioneller Bauart, ebenfalls von Otto Wagner. Direkt an der Ringstraße hätte es allerdings das konservative Ensemble gestört. Wagners Schmuckstück musste eine Straßenlänge vom noblen Ring wegrücken, auf den Georg-Coch-Platz.

Und auch in militärischer Hinsicht übernahm die Zweierlinie das, was sich die prunkvolle Ringstraße nicht antun wollte. Die Revolution von 1848 hatte dem Kaiserhaus vor Augen geführt, wie wichtig es war, die Schaltstellen der Stadt vor dem störrischen Proletariat zu schützen. An der Ringstraße jedoch hätten sich Kasernen und Soldaten nicht gut gemacht. Was dort glanzvoll präsentiert wurde, sicherte man hier mit Waffengewalt ab – drei große Kasernen nahe der Zweierlinie sollten die Revolution im Keim ersticken: die Roßauer Kaserne am Donaukanal, die Stiftskaserne hinter den Hofstallungen und die Franz-Joseph-Kaserne an der Wienflussmündung, die später abgerissen wurde. „Wenn in Wien Revolution ist, dann fahren wir halt über die Zweierlinie“, spotteten die Städter.

Autos und Ustrabas

Im 20. Jahrhundert schließlich wurde die Zweierlinie zur reinen Verkehrsader. 1963 verlor sie ihre namensstiftenden Straßenbahnlinien – zumindest an der Oberfläche, denn vorerst wurden sie wegen des zunehmenden Autoverkehrs lediglich in den Untergrund verbannt. Wien bekam ein neues Verkehrsmittel mit dem hübschen Namen „Ustraba“ („Untergrundstraßenbahn“). Nahe der Universität verschwanden die Ustrabas unter der Erde, neben der Secession kamen sie wieder hervor, um sich vom Karlsplatz aus den Rest der Stadt oberirdisch zu erschließen.

Die Ära der Ustrabas dauerte jedoch nicht lange. 1980 bekam Wien die U2, seine zweite „Voll-U-Bahn“, wie Stadtplaner damals sagten. Kritiker klagten, dass die Voll-U-Bahn nur Prestigeprojekt sei: In Wahrheit zerschnitt sie gewachsene Verbindungen, indem sie die Fahrgäste an der Zweierlinie zum Umsteigen von Straßen- auf U-Bahn zwang. Aber immerhin, Wien hatte eine weitere U-Bahn. Und seit 2008 reicht sie schon zum Praterstadion.

Die Zweierlinie, die kleine Schwester der Ringstraße, etwas wilder, ungelenker und ungeplanter, etwas weniger herausgeputzt und nur halb so lang. Und nicht einmal mit eigenem Namen. Landesgerichtsstraße, Auerspergstraße, Museumsstraße, Getreidemarkt – man sollte das nicht ändern. Denn irgendwie macht sie ihre Namenslosigkeit ja aus.

Straßennamen in Wien verraten die alte Stadtkante Glacis: Wo es verbaut wurde, beziehen sie sich oft auf nationale Geschichtsmythen (etwa Babenberger- oder Nibelungengasse). Wo Vorstädte lagen, beziehen sich die Namen hingegen auf Dörfer oder Einrichtungen (etwa Währinger Straße oder Spitalgasse)

Ustrabas in Wien Der Einser fährt rund um den Südbahnhof durch Wiens letztes Stück Ustraba-Netz. Und wer etwa zur U2-Station Rathaus geht, dem fällt die versetzte Anordnung der Bahnsteige auf – die Ustraba-Gleise konnte man früher direkt überqueren, deshalb die sichere versetzte Anordnung

Basteien in Wien – unvorstellbar? Im Wien-Museum, 3. Stock, steht ein anschauliches Modell der ummauerten Stadt. Und einen Stock darunter findet sich das gleiche Modell – mit wohlbekannter Ringstraße

Inoffizielle Namen für Straßen, wie sie in keinem Stadtplan stehen, sind in Europa rar. Ein zweites Beispiel ist die Fußgängerzone „Strøget“ (dt. „Strich“) in Kopenhagen

Erschienen im Falter 6/09

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Eingeordnet unter Stadtgeschichte, Stadtplanung, Wien

Kabale um Chilli – Jetzt berichten die Großen

„Jugend ohne Zeitung“: Im September verkündete der Falter voreilig das Ende des Onlinejugendmagazins Chilli.cc. Aber dann kam Die Presse, schoss Geld und Equipment zu, und alles war wieder eitel Wonne – bis vergangenen Montag: Da berichtete das profil über Ausbeutung von Chilli-Mitarbeitern und rüde Methoden des Herausgebers Janos Fehérváry, die sich auch unter der Presse-Ägide nicht geändert hätten. Trotz scharfer Formulierung sei das im Kern richtig, behaupten Insider. Jetzt allerdings schlägt Fehérváry im Online-Standard zurück: Er orte einen „Rachefeldzug“ einer Ex-Chilli– und nunmehrigen profil-Mitarbeiterin. Und kündigte eine Klage an – wegen eines unerlaubt verwendeten Fotos zum profil-Artikel.

Erschienen im Falter 6/09

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Eingeordnet unter Medien

Erst unterirdisch, bald überirdisch?

Doch keine Naschmarktgarage: Wie die Grünen in Mariahilf Prominente gegen Parkplätze mobil gemacht haben

Recherche: Joseph Gepp & Christopher Wurmdobler

Eva Deissen, Franzobel, Michael Freund, Roland Girtler, Josef Hader, Elfriede Hammerl, Robert Menasse, Kurt Palm, Martin Pollack und Tex Rubinowitz.

Diese Menschen haben nicht viel gemeinsam. Aber sie alle – und viele mehr – unterschrieben die Liste gegen eine geplante Tiefgarage unter dem Naschmarkt.

Gekonnt haben die Mariahilfer Grünen vorgeführt, wie man ein umstrittenes Verkehrsprojekt zu Fall bringt. Sie veranstalteten Protestversammlungen und Podiumsdiskussionen, mobilisierten Medien. Vor allem aber nahmen sie Prominente in die Pflicht. Viele von ihnen wohnen in Naschmarktnähe, was sich gut traf.

Die rote Mehrheit im Bezirk Mariahilf ist seit der letzten Wien-Wahl nur hauchdünn abgesichert. Die Grünen sitzen auf dem starken zweiten Platz. Und der „Kampf um Wien“ hat bekanntlich bereits begonnen. In dieser Situation wollte die rote Stadtregierung manchen Opinion Leader, der ihr sonst eher geneigt ist, nicht unnötig verschrecken, sagen Kritiker. Und da kamen die Promis ungelegen.

Offiziell war es freilich der Hochwasserschutz, mit dem das Ende des Projekts gerechtfertigt wurde. Die Garage für 370 Autos hätte auf einer eingezogenen Etage zwischen dem oberirdischen Naschmarkt und dem unterirdischen Wienfluss errichtet werden sollen. Die „Einwölbungsstrecke“, so der offizielle Name des betonierten Flussbetts, ist zwar groß und breit – aber bei einer Flut könne Wasser in die Garage dringen, lautete vergangenen Dienstag die Begründung aus dem Rathaus. Sie kam überraschend; erst in der Vorwoche war für Februar ein Machbarkeitsgutachten angekündigt worden.

Die Grünen jubilierten. Sie waren gegen Verkehrskollaps und Marktverschandelung auf die Barrikaden gestiegen. Von einem „Sieg der Vernunft“ sprach Stadtobfrau Maria Vassilakou. Einen „großen Erfolg“ nennt auch Richard Weihs, grüner Bezirksrat in Mariahilf, das Gelingen seiner Initiative.

Muss man heute Promis mobilisieren, um Bürgeranliegen erfolgreich zu vertreten? „Ihre geballte Masse hat sicher geholfen“, sagt Weihs. „Viele waren SP-nah, da haben wir durchaus drauf geachtet. Das hat den Druck sehr erhöht, sodass der Stadt gar nichts anderes übrigblieb. als zurückzurudern.“

Die nächste Unterschriftenliste kommt bestimmt. Dann wird’s allerdings überirdisch: Anrainer und Promis werden sich gegen die Aufstockung des Markts aussprechen – einige Lokale planen den Dachausbau ihrer Hütten.

Erschienen im Falter 6/09

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtplanung

STADTRAND: Über Bildungsinländer und andere Länder

Neulich auf der Informationsstelle der Universität Wien, die seit der sogenannten Abschaffung der Studiengebühren ungefähr so frequentiert ist wie ein Supermarkt in Simbabwe am Zahltag, wenn die Inflation wieder mal auf 1700 Prozent geklettert ist. Vor dem Infoschalter eine junge Frau, die – übrigens in akzentfreiem Deutsch – wissen will, ob ihr als ausländischer Staatsbürgerin wie bisher ein Stipendium zustehe, das ihr die Studiengebühren ersetzt, die Ausländer trotz Abschaffung zahlen müssten. Nein, bescheinigt die Auskunftsdame in breitem Wienerisch. Sie sei nämlich zahlungspflichtige „Bildungsinländerin“. Was ist eine Bildungsinländerin? Goethe und Schiller? Nestroy und Tocotronic? Integrationsvertrag erfüllt, Staatsbürgerschaft in Druck? Bildungsinländer, erklärt die Infofrau, sind Ausländer, die ihre Matura in Österreich gemacht haben. Ein hübscher Ausdruck also für die Speerspitze der Integrierten, um in der Unibehördendenke zu bleiben. An den Bildungsinländern spart man jetzt. Etwas zornig stapft das Mädchen davon. Da warten noch viele andere Inländer.

Erschienen im Falter 6/09

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Eingeordnet unter Migranten, Stadtrand

Das neue Leben des Alfred G.: ein ganz normaler Europareferent

Der Schauplatz, am Tag nach dem Geschehen noch einmal betrachtet

Leichter Hohn war zu spüren, als sie ihn fragten, was er denn nun zu tun hätte – und er antwortete, er würde Europafragen besprechen, mit zwei Schulklassen. Zum vielleicht letzten Mal trifft Alfred Gusenbauer, Bundeskanzler a. D. und nunmehr Europareferent der niederösterreichischen Arbeiterkammer, eine derart große Gruppe Journalisten. Bei Jourgebäck zeigt er seinen AK-Ausweis in die Runde und erzählt von seinem neuen Leben. Er habe zehn Kilo abgenommen, werden die Zeitungen am nächsten Tag vermerken, das Büromobiliar sei ungleich schlichter als früher, und der Blick aus dem obersten Stock des grauen AK-Baus in Mariahilf sei bei weitem nicht so schön wie jener aus dem Bundeskanzleramt. Für Gusenbauer beginnt inzwischen der erste richtige Arbeitstag, ohne Journalisten, aber vollgepropft mit Terminen. Eine Flugreise steht unmittelbar bevor, unmöglich, ihn zum Fototermin zu treffen. So leicht wird man den Kanzlerbonus eben doch nicht los.

Erschienen im Falter 6/09

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