Rückkehr ins Leopoldschtetl

Immer mehr orthodoxe Juden leben wieder in Wien. Im zweiten Bezirk finden sie ihre neue alte Heimat

Reportage: Joseph Gepp

Einmal, erzählt Sender Garber, sei er im Dianabad gewesen und drei Wiener hätten sich neben ihn gesetzt, „die sind ganz sicher von hier gewesen“.

Wenn Garber „hier“ sagt, dann meint er nicht Wien und nicht Österreich, er meint das kleine Leopoldstädter Karmeliterviertel, drei Handvoll Gassen rund um eine barocke Kirche und einen Marktplatz.

Die Wiener seien also von hier gewesen und hätten sich über Juden in Wien unterhalten, wie viele von ihnen denn in der Stadt leben würden. 50.000, schätzte einer. Und ein Zweiter entgegnete: „Blödsinn. Sicher 100.000 oder mehr. Und 80.000 davon in der Leopoldstadt“.

Garber lacht. In Wiens kleiner jüdischer Gemeinde rangiert seine Beobachtung jetzt unter den gerne erzählten Anekdoten.

2007 lebten laut Zählungen 7014 Juden in Wien. Rund 3000 davon sind Orthodoxe. Aus ihren schwarzen Mänteln und Hüten müssen die drei Wiener geschlossen haben, dass es nicht weniger als 100.000 Juden in der Stadt geben müsste.

7014 Personen, das ist viel im Vergleich etwa zu 1999, da waren es gerade 5000, eine Steigerung um rund ein Drittel. Und es ist fast nichts im Vergleich zu vor 1938. Da lebten rund 150.000 Juden in Wien.

Das jüdische Leben kehrt zurück in die Stadt, langsam, nur als blasser Schatten alter Zeiten. Aber stetig. Wer in die Leopoldstadt kommt, kann das sehen.

Dort formen orthodoxe Juden einen Mikrokosmos, ein Dörfchen mit 3000 Seelen. Religion ist ihr Full-Time-Job. Koschere Ernährung bedingt eigene Geschäfte, religiöses Leben bedingt Versammlungsorte und Synagogen. Weil ihnen der Glaube Autos und öffentliche Verkehrsmittelnam samstäglichen Sabbat untersagt, siedeln die Orthodoxen beieinander, unter ihresgleichen, nahe ihren Bethäusern, ihren Geschäften. Sie kennen einander. „Die beiden da“, sagt Garber und zeigt aus seinem Van auf ein orthodoxes Paar auf der Straße, „das sind Gäste aus Amerika.“

New Age aus dem Autoradio

Sender Garber – er ist 36, aus seinem Autoradio klingen New-Age-Panflötenklänge, er trägt eine schwarze Jacke und eine Sportkappe, die er nur an Feiertagen durch den traditionellen orthodoxen Hut ersetzt – führt heute durch Wien, das Dörfchen des orthodoxen Judentums.

Er öffnet die Türen zu Geschäften, er plaudert mit koscheren Fleischhauerinnen, Bäckern und Restaurantbesitzern. Er führt durch Synagogen, in denen Orthodoxe in kakophonem Singsang Gebete rezitieren, auf Hebräisch mit persischem oder zentralasiatischem oder ungarischem Akzent.

Allein im zweiten Bezirk liegen acht solcher Bethäuser. Es sind kleine Säle hinter Gründerzeitfassaden, ausstaffiert mit vielen Laufmetern Büchern. Jede orthodoxe Gruppe – sie heißen etwa Chassidim oder Chabadniks, Grusinen oder Bucharen – betreibt ein solches Bethaus. Dort feiern sie nicht nur den Gottesdienst, dort treffen sie sich, zum Plaudern oder Studieren.

Filterkaffee in der Synagoge

Sender Garber betritt eine chassidische Synagoge in der Großen Schiffgasse. Breitkrempige Hüte liegen auf Regalen, in einer Küchenecke dampft Filterkaffee. Zwischen den Betstunden steht das hölzerne Pult des Vorlesers verwaist da. Im Keller gibt es ein Tauchbad, einen Swimmingpool, in dem Frauen nach der Menstruation und Männer vor dem Gebet rituell baden.

Dort plantscht gerade ein Orthodoxer im Wasser und trällert dabei ein Lied. Oben sitzen Junge vor den Büchern und studieren den Talmud, die Auslegung der jüdischen Bibel. Dabei bewegen sie gedankenverloren die Lippen und wiegen den Kopf.

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Foto von Heribert Corn

Das Leben von Sender Garber ist typisch für einen Wiener Orthodoxen. Er kam 2002 her, ist Russe, aus Moskau. Garber stammt aus einer nichtreligiösen Familie, mit 13 entdeckte er den Glauben für sich. Nach dem Fall des Kommunismus ging er nach Israel, ließ sich bei Tel Aviv zum Rabbi ausbilden. Dann spülte es ihn nach Wien, fast zufällig, denn hier war gerade ein Job als Lehrer in einem Kulturzentrum frei.

Nach 1945 lebten nur etwa 1000 Juden in Wien. Wer zuzog, kam oft zufällig und blieb nur, weil er nicht anders konnte. Einige verirrten sich zu Kriegsende 1945 aus Flüchtlings- und Konzentrationslagern nach Wien. Andere flohen vor den Sowjets aus Ungarn. Wieder andere erhielten im Kalten Krieg eine der raren Ausreisebewilligungen aus der Sowjetunion und warteten in Wien so lange auf die Green Card für die USA, bis das Wartezimmer zum Aufenthaltsort geworden war. „Das Wiener Judentum ist vielfältig“, sagt Paul Eisenberg, Oberrabbiner von Wien. „Das liegt daran, dass die Menschen nach dem Krieg aus allen Himmelsrichtungen hierher kamen.“

Ein Dörfchen wacht wieder auf

So erstand die jüdische Leopoldstadt wieder. Sie erstreckt sich entlang des Donaukanals und hinter dem Karmeliterviertel bis etwa zu Augarten und Volkertmarkt. Es gibt hier Menschen, die einander unterstützen oder nicht leiden können. Es gibt Holocaustopfer und solche, die Hitler nur aus Lehrbüchern kennen, weil sie etwa aus Zentralasien gekommen sind. Es gibt respektierte Rabbis und Außenseiter wie den jüdischen Antisemiten Mosche Friedmann. Es gibt divergierende Grüppchen und Weltanschauungen.

Das kommt nicht nur daher, dass Juden nach 1945 derart zufällig in Wien strandeten. Das hat auch Ursachen, die im Wesen des Judentums selbst liegen: Im Gegensatz zum Katholizismus kennt es keine oberste Instanz wie den Papst. Wer Jude ist, bestimmt die Abstammung. Und wer sich als orthodoxer Jude definiert, befolgt die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, in Wien wie überall sonst auf der Welt. In Sachen Bekleidung etwa schreibt die Halacha dem gläubigen Juden nur vier Dinge vor: Er muss Bart, Schläfenlöckchen, Kopfbedeckung und Zizit tragen, jene weißen Bändchen am Hosenbund, die an die Vielzahl der jüdischen Gesetze gemahnen sollen.

Innerhalb dieses Halacha-Bogens ist ein orthodoxer Jude relativ frei. Die Mäntel oder pelzumrandeten Hüte etwa schreibt nicht der Glaube vor, sie sind lediglich Tradition und Hinweis auf die Herkunft des Gläubigen. Würde er stattdessen ein rosa Hemd tragen, er wäre trotzdem orthodox.

Weil Judentum mangels oberster Instanz also verschieden interpretiert werden kann, haben viele charismatische Rabbis ihrer Religion breite Stempel aufgedrückt: Ihre Weisheiten und Erzählungen haben sich unter ihren Jüngern zu Weltsichten verdichtet, die lange nach dem Tod des Vorbilds noch propagiert und gelebt werden. So entstanden Strömungen, die mehr oder weniger vom jüdischen Mainstream abweichten.

Das ist der wichtigste Grund für die Vielfalt der jüdischen Gemeinde. Um sie voll zu sehen, ist das jüdische Wien allerdings zu klein. Dafür muss man nach Israel.

Dort bezeichnen sich rund 20 Prozent der Einwohner als orthodox. Unter ihnen findet man etwa welche, die die Existenz ihres Staates nicht anerkennen wollen, solange der Messias nicht wiedergekehrt ist. Andere huldigen ihrem Gott in spontaner Innerlichkeit – und wieder andere befolgen jedes religiöse Gesetz auf Punkt und Beistrich. Es gibt eine Gruppe, die vorrangig das Ziel verfolgt, das Judentum mit Errungenschaften moderner Technik von Glühbirne bis zu künstlicher Befruchtung zu versöhnen. Es gibt Juden, die ihren Messias durch Ekstase herbeibeschwören wollen. Sie tanzen mit E-Gitarren und fahren mit dröhnenden Disco-Trucks durch die Straßen Jerusalems. Manch säkularer Israeli witzelt dann, unter ihren Mänteln würden sie Ecstasy-Pillen verkaufen.

In Wien finden sich all diese Bewegungen nur in Ansätzen. Von der ekstatischen Gruppe – die Bratslaver Juden – lebt in Wien exakt ein Repräsentant. Jene, die Freude und Innerlichkeit propagieren – die Chassidim – stellen in Wien rund 300 Vertreter. Ebenso viele gelten als betont technikgläubig, und nochmals rund 300 definieren sich als betont zionistisch.

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Foto von Heribert Corn

„Die Interessen der Gruppen gehen auseinander“, sagt Oberrabbiner Eisenberg. „Bei uns geht jeder Jude seinen Weg.“ Seine Eltern flohen 1956 aus Ungarn. Der Rabbi, 58, sitzt am Rabbinat in der Seitenstettengasse und erklärt voller Hingabe, mit ausladenden Gesten, die Grundlagen seiner Religion.

Als Oberrabbiner sei er für den Zusammenhalt seiner Gemeinde verantwortlich, sagt er. „Ein Oberrabbiner muss mit allen können. Er darf kein Fundi sein. Aber auch die Orthodoxen müssen ihn anerkennen.“

Einmal für Milch, einmal für Fleisch

Dabei funktioniert der Zusammenhalt in Wien noch vergleichsweise problemlos. Im New Yorker Brooklyn etwa, wo fast so viele Juden wie in Jerusalem leben, prallen die Gegensätze weitaus heftiger aufeinander. Wien dagegen, erklärt Levi Sternglanz von der Chabad-Bewegung, sei eine kleine Gemeinde. „Es gibt keine großen Polemiken und wenige polarisierende Personen – im Gegenteil, wir arbeiten zusammen. Zwischen den Strömungen entstehen Synergien. Ideologische Spannungen finden auf anderen Bühnen als in Wien statt.“

Ein paar hundert Chabadniks, wie Levi Sternglanz, leben in Wien. Sie berufen sich auf einen weißrussischen Rabbi des 18. Jahrhunderts. Ihre Bräuche unterscheiden sich etwas von jenen anderer Orthodoxer. Ihr Schwerpunkt ist die Bildungsarbeit – und mancher Nicht-Chabadnik klagt gerne, dass sie allzu viel Mühe in die Bekehrung säkularer Juden zur Orthodoxie stecken würden.

Wie Sender Garber lebt und arbeitet Levi Sternglanz in der Leopoldstadt. Er gibt eine orthodoxe Zeitung heraus und wohnt mit Frau und fünf Kindern in der Großen Schiffgasse. Am Türschild steht sein Name auf Hebräisch, an den Türstöcken der Zimmer kleben Mesusot, Pergamentröllchen mit Thorazitaten. In der Küche zeigt Sternglanz, 32, auf zwei Kochzeilen, zwei Herdplatten und Abwaschbecken, einmal für Milch, einmal für Fleisch. In der Speisekammer stehen Humus und Orangensaft, vieles aus Israel, alles koscher. „Wenn ich als Jude in Wien lebe, bietet die Leopoldstadt das ideale Umfeld, um die orthodoxen Regeln zu befolgen“, sagt er.

Im Hof des Hauses, in dem weitere jüdische Familien leben, stehen zwei bambusgedeckte Hütten aus Spanplatten. Dort feiern die Orthodoxen das Laubhüttenfest im Herbst, um des biblischen Auszugs aus Ägypten zu gedenken.

Die Juden der Leopoldstadt arbeiten weitgehend in Einrichtungen, die sie sich für ihre Zwecke geschaffen haben, als Verkäufer oder Betreuer in Kulturzentren. Ihre Lebensweise und ihre Erfahrungen haben zu Abschottungstendenzen geführt.

„Nur wenige Juden überlebten in Wien den Krieg“, sagt Tirza Lemberger vom Institut für Judaistik der Universität Wien. „Und noch weniger kamen zurück.“ Lemberger, selbst Jüdin, zog in den 80er-Jahren nach Wien. „Die Stadt war nach dem Krieg zu einer Durchgangsstation für Überlebende aus Osteuropa geworden. Aber wie immer bei Fluchtwellen sind einige geblieben. Die Leute brachten aus Osteuropa ihre Bräuche mit – und damit Vielfalt in die Gemeinde.“

Später kamen Iraner, Georgier, Zentralasiaten. Alle zusammen schufen das Dörfchen Leopoldstadt. Erst in den 90ern war es groß genug, dass die jüdische Infrastruktur entstand, die das Viertel heute prägt. Die Orthodoxen brachten aus ihren Ländern Traditionen mit. Sender Garber zum Beispiel ist chassidisch. Er spricht mit den Eltern russisch, mit seiner Frau und den vier Kindern jiddisch, in der Synagoge hebräisch und auf der Straße deutsch.

„Der Kern des Judentums?“, wiederholt er, während er seinen Van über die Heinestraße in Richtung seiner Wohnung lenkt. „Der Mensch hat zwei Naturen. Einerseits isst, trinkt und lacht er. Andererseits will er den Sinn von Dingen ergründen, er zweifelt und denkt nach.“ Und: „Wir Juden, wir machen einfach beides: Wir essen, trinken, lachen. Aber wir unterlegen das alles mit einem geistigen Grund.“

„Das Judentum trennt nicht zwischen profan und heilig“, sagt Levi Sternglanz etwas abstrakter. „Jede profane Tätigkeit kann heilig werden, wenn sie mit spiritueller Absicht ausgeführt wird.“

Darin sind die beiden sich jedenfalls einig.

Erschienen im Falter 7/09

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Eingeordnet unter Minderheiten, Religion, Wien

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