JACK UNTERWEGER Vor 15 Jahren erschütterte eine Reihe von Frauenmorden Wien und Österreich. Nun hat sich ein amerikanischer Journalist auf die Spuren des Täters gemacht. JOSEPH GEPP
„Journal Panorama“. Die Signation der bekannten Ö1-Sendung klang am 5. Juni 1991 fast schon wie heute. Thema der Sendung: das Wiener Rotlichtmilieu, aufgeschreckt durch eine Reihe von Prostituiertenmorden begangen von einem offenbar geisteskranken Triebtäter. Ihr Autor: ein freier Journalist, der selbst dem Milieu entstammte. Den „Journal Panorama“-Reportern war der ehemalige Gefängnisinsasse, der sich während seiner Haft einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte, von den Kollegen aus der Feature-Redaktion empfohlen worden. Sein Name: Jack Unterweger. Nun hat sich der Journalist John Leake, 37, in einem Buch auf Unterwegers Spuren begeben. Seit sieben Jahren lebt der Texaner, der unter anderem für den Guardian arbeitet, in Wien. Vier davon hat er mit der Arbeit an seinem Buch verbracht.
Die Serienmorde, die Unterweger später begehen sollte, wurden Kriminalgeschichte. Als erster Fall, in dem die entscheidenden Beweise mittels DNA-Analyse erbracht werden konnten. Er führte zu einer Kooperation von FBI und österreichischer Kriminalpolizei und zu einer Verschmelzung ihrer Ermittlungsmethoden – Stichwort „Profiling“. Er brachte den „humanen Strafvollzug“ und die „gefängnislose Gesellschaft“ der Siebzigerjahre in Verruf. Er beschäftigte die Menschen, die Jack Unterweger als Häfnpoeten, als Paradebeispiel des resozialisierten Straftäters, kennen gelernt hatten. Als charmantes und eloquentes Exempel für die Möglichkeit des Menschen, sich fundamental zu ändern und zu bessern.
Es war eine Lüge, aber das sollte sich erst viel später herausstellen. Im Jahr 1974 war Unterweger, geboren 1950 im steirischen Judenburg, zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er eine 18-jährige Deutsche mit ihrem BH erdrosselt hatte. Sie hätte ihn an seine Mutter erinnert, sagte er später. Zu jener hatte er ein gestörtes Verhältnis, sah sie in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens nur zweimal, wuchs auf bei seinem Großvater, einem Alkoholiker, und seiner Tante, einer Prostituierten. Seine Kindheit war von Vernachlässigung, seine Jugend von Diebstählen, Vergewaltigungen und Zuhälterei geprägt. Mit 24 kam er ins Gefängnis. Sein Leben schien gelaufen.
Warum beschäftigt sich ein Amerikaner mit einem österreichischen Kriminalfall, der 15 Jahre zurückliegt? „Einerseits mordete Unterweger ja auch in den USA, dadurch bekommt die Geschichte eine amerikanische Komponente“, antwortet John Leake. „Und außerdem, salopp gesagt: Es ist eine unfassbar schräge Geschichte.“ Der schräge Teil der Geschichte beginnt im Salzburger Gefängnis, wo Unterweger nach dem Mord einsaß. Der freien Journalistin Sonja Eisenstein, die sich für den Fall interessierte, ließ er ein Gedicht zukommen. Er habe es selbst geschrieben, behauptete er. Sie war gerührt und begeistert, legte die Brücke zu anderen Schriftstellern und Journalisten und gab ihm den Anstoß, eine Karriere als Buchautor zu starten. Allerdings: Das Gedicht stammt in Wahrheit von Hermann Hesse, es heißt „Der Wanderer an den Tod“.
Jack Unterweger war trotzdem auf den Geschmack gekommen. Aus dem Gefängnis schrieb er Gedichte, Kindergeschichten für das ORF-„Traummännlein“, schließlich sogar seine Autobiografie. Das erregte Aufsehen. Eisenstein war die Erste von vielen, die sich beeindrucken ließ. Immer öfter forderten Intellektuelle seine vorzeitige Entlassung. Auf einer Petition zu diesem Zweck finden sich Namen wie Elfriede Jelinek, Peter Huemer, Barbara Frischmuth, Milo Dor oder Günther Nenning. Im Jahr 1990 erreichten sie ihr Ziel. „Einen so gut auf die Freiheit vorbereiteten Mörder finden wir nie mehr wieder“, soll Karl Schreiner, Gefängnisdirektor von Krems-Stein, gesagt haben.
Es schien so. „Er war keine Person, mit der man Mitleid hatte. Er war ein Faszinosum. Ein Star“, sagt John Leake. Am 5. Juni 1990 war Unterweger Studiogast in der ORF-Diskussionssendung „Club 2“ zum Thema Resozialisierung. Im blütenweißen Anzug, mit Nelke im Knopfloch, sitzt er da, den Kopf bedächtig in die ausgebreitete Hand gestützt. Er spricht von den schlechten Bedingungen der Haft („Ich wurde als Krimineller mit Sexualstraftätern zusammengesperrt“) und bezichtigt einen Mitdiskutanten des Sadismus. Ein Jahr später dreht er mit Thomas Rottenberg, damals Falter-Redakteur, eine Runde durch Wiens Rotlichtbezirk. Anlass waren die Prostituiertenmorde, die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatten. Unterweger spricht mit den Frauen über ihre Angst vor dem mysteriösen Mörder (siehe Infobox). „Je sicherer die Prostituierte in der Gesellschaft ist, umso geringer ist die Gefahr, dass sie Opfer eines Verbrechens wird“, erklärt er dem Reporter während des Spaziergangs.
„Jack Unterweger war Frauenheld und wichtige Figur des öffentlichen Lebens. Das Profil eines Serienmörders passte nicht auf ihn. Das erschwerte die Ermittlungen ziemlich“, sagt der suspendierte Kripochef Ernst Geiger, der gemeinsam mit dem damaligen Sicherheitsbüro-Leiter Max Edelbacher die Ermittlungen leitete. Sie kamen im Sommer 1991 ins Rollen. Unterwegers Radioreportage hatte die Polizisten misstrauisch gemacht. „Er wollte eigentlich nur mit den Leuten aus dem Milieu sprechen“, erzählt der Ö1-Redakteur Manfred Steinhuber von den Vorbereitungen, „aber ich dachte, dass da noch eine andere Perspektive rein muss: Also habe ich ihn auch zur Polizei geschickt.“ Kurz darauf saß er – ausgestattet mit Presseausweis und ORF-Mikrofon – im Büro von Max Edelbacher. „Am Abend bin ich nachhause gegangen und habe meiner Frau von Unterweger erzählt“, erinnert sich Edelbacher, „ich kannte ihn damals nicht. Und sie sagte: ‚Sagt dir der nichts? Das ist ja der Häfnpoet!‘“ Edelbacher wunderte sich. Nach einem Anruf eines pensionierten Polizeibeamten aus Salzburg, der glaubte, zwischen Unterwegers erstem Mord und den Prostituiertenmorden in Wien Gemeinsamkeiten feststellen zu können, begann die Observation. Jack Unterweger, damals 42, bemerkte es rechtzeitig und floh mit seiner Freundin Bianca Mrak, damals 18, ins US-amerikanische Miami (siehe Interview).
Was von da an geschah, fand sich auf den Titelseiten aller Zeitungen und als Spitzenmeldung aller Nachrichtensendungen. Unterweger wollte in den USA seine Verteidigung vorbereiten, Mrak tanzte in einer Go-go-Bar, um Geld für die beiden heranzuschaffen. Im Februar 1992 wurde das Paar festgenommen. Eine Vorauszahlung für ein Interview, zu deren Empfang Unterweger seine Adresse angegeben hatte, verriet ihn. Mittlerweile schrieb das FBI die Schuld an drei Prostituiertenmorden in Los Angeles ebenfalls Unterweger zu. Dort hatte er sich schon vor der Flucht nach Miami für eine weitere Reportage aufgehalten. „Ich konnte mir zuerst nicht vorstellen, wie sie so sicher sein konnten, dass die Morde in Österreich und jene in den USA vom selben Täter verübt wurden“, sagt Leake. „Dann brachte die Ermittlerin den Karton mit den Beweisstücken. Ich sah die Weise, wie die BHs zerrissen waren und wusste – es war derselbe Täter.“ Die Prostituierten mit ihren BHs zu strangulieren, war eine Eigenheit Jack Unterwegers. Auch ein spezieller Knoten um die Hälse der Frauen – Ernst Geiger beschreibt ihn als „einzigartig“ und „unverkennbar“ – taucht immer wieder auf. Die Polizei glaubt, dass der Täter seine Opfer vor dem Mord noch stundenlang quälte. „Er erzählte ihnen, er sei Schriftsteller. Er bot ihnen viel Geld, damit sie mit ihm weit hinausfuhren und zu Fesselspielen bereit waren. Auf diese Art hatte er leichtes Spiel“, sagt Geiger. Elf Frauen hat Jack Unterweger auf diese Weise in Österreich, den USA und auch Tschechien ermordet. Die österreichischen Opfer versteckte er im Wienerwald. Manche von ihnen wurden erst Monate später entdeckt. Das Haar eines Opfers in seinem Auto und die Stofffaser seines Schals an einer Leiche verrieten ihn schließlich. Mittels der damals neuen DNA-Analyse konnten sie zugeordnet werden. In der Nacht auf den 30. Juni 1994 erhängte sich Jack Unterweger in seiner Grazer Zelle. Am Vortag war er wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden, sein Urteil wurde nicht mehr rechtskräftig. Der Knoten der Schnur, an der Unterweger baumelte, war auf dieselbe Art geknüpft wie jene, mit denen er die Frauen ermordet hatte. „Einen solchen Knoten bekam Ernst Geiger von der Mannschaft und mir zu seinem Fünfziger geschenkt“, sagt Max Edelbacher. Er lacht und entschuldigt sich ob der rauen Sitten bei der Polizei.
Wie war Jack Unterweger? Unendlich anpassungsfähig. Und begabt, ohne Blick für die moralische Verpflichtung, die ihm gerade diese Begabung auferlegte. John Leake schreibt von einer „fast übernatürlichen Fähigkeit, Freunde und Helfer zu gewinnen“. „Es ist faszinierend, wie schnell er die linksliberale Diktion seiner Protegés übernehmen und imitieren konnte“, sagt er und führt die Zitate in der Falter-Reportage als Beispiel an. In Dichterkreisen redete Jack Unterweger wie ein Dichter, in Zuhälterkreisen wie ein Zuhälter. Die Gesellschaft, die er damit beeindrucken konnte, half ihm aus dem Gefängnis und verschaffte ihm Zutritt unter ihresgleichen. Entsprechend groß war der Schock, als sich seine Attitüde als Täuschung erwies. Das sei „ein Schock für alle, die an Resozialisierung glauben“, schrieb der Standard-Kolumnist Daniel Glattauer in einem Kommentar 1992. „Er darf nicht der Prostituiertenmörder sein. Das kann er seinen Kollegen nicht antun, nicht den Künstlern und vor allem nicht den Häftlingen. Denn sie werden büßen, wenn sich das Volk in seinen liberalsten Gefühlen verraten wähnt.“ Der Kommentar trägt den bezeichnenden Titel „Bitte nicht Unterweger!“.
John Leake: The Vienna Woods Killer. A Writer’s Double Life. Granta Books, 347 S. EUR 24,55
Was wurde aus … Bianca Mrak
Mit 17 lernte sie Jack Unterweger kennen, mit 18 floh sie mit ihm
nach Miami. Vor drei Jahren beschrieb Bianca Mrak ihre Zeit mit
Unterweger in ihrem Buch „hiJACKed“. Heute lebt die 34-Jährige
zurückgezogen in einem kleinen Ort in der Steiermark, sie ist ledig
und hat einen kleinen Hund und eine Katze.
Falter: Frau Mrak, wie empfanden Sie die Zeit nach Ihrer Rückkehr
aus Miami?
Mrak: Es war nicht einfach. Die Menschen haben mich schief
angeschaut und als Schlampe beschimpft. In dem Moment, in dem sie
mich und meinen Namen sahen, wurde es fast unmöglich, eine Wohnung
oder später einen Job zu finden. Ich fühlte mich ziemlich
alleingelassen. Und ich werde bis heute auf Jack Unterweger
angesprochen.
Gab es psychologische Betreuung für Sie?
Das stand damals nicht zur Debatte. Nur die Polizei hat sich immer
sehr korrekt verhalten. Später machte ich eine Psychotherapie. Ich
hatte das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten.
Können Sie beschreiben, wie sich Ihr Verhältnis mit Jack
Unterweger auf Ihr späteres Leben auswirkte?
So etwas kann ein Leben nur prägen, obwohl sich viele Auswirkungen
erst lange danach einstellten. Ich spürte den ständigen Druck, mich
beweisen zu müssen, weil ich immer sehr schnell abgestempelt wurde.
Außerdem habe ich mich im Lauf der Jahre sehr zurückgezogen. Unter
Menschen zu sein, machte mir irgendwann keinen Spaß mehr.
Gesetzt den Fall, die Polizei hätte Sie vor der Flucht abgefangen
und Sie über den Mordverdacht und die Indizienkette informiert. Wären
Sie trotzdem mitgegangen?
Ich glaube, ich wäre da geblieben.
Und heute?
Diese Taten sind unvorstellbar. Aber es sprechen eben alle
Indizien dafür. Manchmal kommt der schreckliche Gedanke an diese
Morde in mir hoch. Aber es gelingt mir ganz gut, das zu unterdrücken.
Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, mit einem elffachen Mörder
im Bett gewesen zu sein.
Gibt es etwas Positives, das Sie heute mit Jack Unterweger
verbinden?
Er war witzig, auf eine neckende Weise, mit der er alle – Männer
wie Frauen – um den Finger wickelte. Ich kann mich ans Café
Florianihof in der Josefstadt erinnern. Das war sein Stammcafé, und
dort war er der Liebling aller.
Was hatten Sie sonst für ein Bild von ihm?
Er war manipulativ und schwer dominant. Aus heutiger Perspektive
halte ich ihn für einen Narzissten. Er redete unaufhörlich, immer so,
als hätte er unendlich viel Lebenserfahrung. Er gab vor, ein guter
Zuhörer zu sein, und gleichzeitig hat er dich für seine Zwecke
eingespannt.
Damals im Falter
Unterwegs mit Jack
Nein, er schäme sich nicht für diese Geschichte, sagt Thomas
Rottenberg. Der Journalist (Standard, Puls TV) hat im Frühsommer 1991
anlässlich der „Wienerwaldmorde“ für den Falter eine Reportage über
Strich und Prostitution in Wien gemacht. Während die
Boulevardzeitungen auf eigene Faust recherchierten, ließ sich der
damals 22-Jährige vom „Schriftsteller und Szenenkenner“ Jack
Unterweger beraten. Der bot ihm bei einer Veranstaltung an: „Ich
zeige dir, wie’s wirklich ist.“ Man traf einander zu Vorgesprächen im
damals schummrigen Café Florianihof, dem Lieblingslokal des als
„Häfnpoet“ scheinbar resozialisierten Mörders. Der hatte
Street-Credibility und brachte Rottenberg zu besorgten
Prostituierten, aufgebrachten Zuhältern und Rotlichtkönigen. Ein Jahr
später wurde Unterweger der „Wienerwaldmorde“ überführt.
Wie gruselig im Nachhinein. Als Unterweger den jungen
Falter-Reporter in seinem übertrieben protzigen Auto über die
Felberstraße kutschierte, in zweiter Spur vor Puffs parkte und
Rottenberg das Milieu präsentierte, war das vor allem aufregend.
„Plötzlich landest du in einem Paralleluniversum. Wenn du da als
Journalist mit, dem Jack‘ auftauchst, bist du halt nicht mehr ganz
der Fremde. Du gehst in ein Lokal, und plötzlich stellt sich heraus,
dass der Mann an der Garderobe der Wichtige ist.“ Rottenberg erinnert
sich, wie die Intelligenzija Unterwegers animalischem Reiz verfiel,
dem „Robbie-Williams-Effekt“ – wenn der Mörder zum Angreifen wie ein
Star das Kaffeehaus betrat, das Hemd bis zum Nabel offen. Für ihn
verkörperte Unterweger eher das Gegenteil von einem charmanten und
gutaussehenden Mann, als den ihn die Medien immer beschrieben. „Der
war einfach ein kleiner Pülcher mit großer Klappe, der seine
Vorgeschichte wie eine Trophäe vor sich hergetragen hat.“
Christopher Wurmdobler
Rottenbergs Reportage „Sex, Blut, Tränen“ von 1991 ist als Reprint
im 30-Jahre-Falter-Jubiläumsheft nachzulesen.
Erschienen im Falter 48/08