Monatsarchiv: November 2008

Der geliebte Psychopath

JACK UNTERWEGER Vor 15 Jahren erschütterte eine Reihe von Frauenmorden Wien und Österreich. Nun hat sich ein amerikanischer Journalist auf die Spuren des Täters gemacht. JOSEPH GEPP

„Journal Panorama“. Die Signation der bekannten Ö1-Sendung klang am 5. Juni 1991 fast schon wie heute. Thema der Sendung: das Wiener Rotlichtmilieu, aufgeschreckt durch eine Reihe von Prostituiertenmorden begangen von einem offenbar geisteskranken Triebtäter. Ihr Autor: ein freier Journalist, der selbst dem Milieu entstammte. Den „Journal Panorama“-Reportern war der ehemalige Gefängnisinsasse, der sich während seiner Haft einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte, von den Kollegen aus der Feature-Redaktion empfohlen worden. Sein Name: Jack Unterweger. Nun hat sich der Journalist John Leake, 37, in einem Buch auf Unterwegers Spuren begeben. Seit sieben Jahren lebt der Texaner, der unter anderem für den Guardian arbeitet, in Wien. Vier davon hat er mit der Arbeit an seinem Buch verbracht.
Die Serienmorde, die Unterweger später begehen sollte, wurden Kriminalgeschichte. Als erster Fall, in dem die entscheidenden Beweise mittels DNA-Analyse erbracht werden konnten. Er führte zu einer Kooperation von FBI und österreichischer Kriminalpolizei und zu einer Verschmelzung ihrer Ermittlungsmethoden – Stichwort „Profiling“. Er brachte den „humanen Strafvollzug“ und die „gefängnislose Gesellschaft“ der Siebzigerjahre in Verruf. Er beschäftigte die Menschen, die Jack Unterweger als Häfnpoeten, als Paradebeispiel des resozialisierten Straftäters, kennen gelernt hatten. Als charmantes und eloquentes Exempel für die Möglichkeit des Menschen, sich fundamental zu ändern und zu bessern.
Es war eine Lüge, aber das sollte sich erst viel später herausstellen. Im Jahr 1974 war Unterweger, geboren 1950 im steirischen Judenburg, zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er eine 18-jährige Deutsche mit ihrem BH erdrosselt hatte. Sie hätte ihn an seine Mutter erinnert, sagte er später. Zu jener hatte er ein gestörtes Verhältnis, sah sie in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens nur zweimal, wuchs auf bei seinem Großvater, einem Alkoholiker, und seiner Tante, einer Prostituierten. Seine Kindheit war von Vernachlässigung, seine Jugend von Diebstählen, Vergewaltigungen und Zuhälterei geprägt. Mit 24 kam er ins Gefängnis. Sein Leben schien gelaufen.
Warum beschäftigt sich ein Amerikaner mit einem österreichischen Kriminalfall, der 15 Jahre zurückliegt? „Einerseits mordete Unterweger ja auch in den USA, dadurch bekommt die Geschichte eine amerikanische Komponente“, antwortet John Leake. „Und außerdem, salopp gesagt: Es ist eine unfassbar schräge Geschichte.“ Der schräge Teil der Geschichte beginnt im Salzburger Gefängnis, wo Unterweger nach dem Mord einsaß. Der freien Journalistin Sonja Eisenstein, die sich für den Fall interessierte, ließ er ein Gedicht zukommen. Er habe es selbst geschrieben, behauptete er. Sie war gerührt und begeistert, legte die Brücke zu anderen Schriftstellern und Journalisten und gab ihm den Anstoß, eine Karriere als Buchautor zu starten. Allerdings: Das Gedicht stammt in Wahrheit von Hermann Hesse, es heißt „Der Wanderer an den Tod“.
Jack Unterweger war trotzdem auf den Geschmack gekommen. Aus dem Gefängnis schrieb er Gedichte, Kindergeschichten für das ORF-„Traummännlein“, schließlich sogar seine Autobiografie. Das erregte Aufsehen. Eisenstein war die Erste von vielen, die sich beeindrucken ließ. Immer öfter forderten Intellektuelle seine vorzeitige Entlassung. Auf einer Petition zu diesem Zweck finden sich Namen wie Elfriede Jelinek, Peter Huemer, Barbara Frischmuth, Milo Dor oder Günther Nenning. Im Jahr 1990 erreichten sie ihr Ziel. „Einen so gut auf die Freiheit vorbereiteten Mörder finden wir nie mehr wieder“, soll Karl Schreiner, Gefängnisdirektor von Krems-Stein, gesagt haben.
Es schien so. „Er war keine Person, mit der man Mitleid hatte. Er war ein Faszinosum. Ein Star“, sagt John Leake. Am 5. Juni 1990 war Unterweger Studiogast in der ORF-Diskussionssendung „Club 2“ zum Thema Resozialisierung. Im blütenweißen Anzug, mit Nelke im Knopfloch, sitzt er da, den Kopf bedächtig in die ausgebreitete Hand gestützt. Er spricht von den schlechten Bedingungen der Haft („Ich wurde als Krimineller mit Sexualstraftätern zusammengesperrt“) und bezichtigt einen Mitdiskutanten des Sadismus. Ein Jahr später dreht er mit Thomas Rottenberg, damals Falter-Redakteur, eine Runde durch Wiens Rotlichtbezirk. Anlass waren die Prostituiertenmorde, die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatten. Unterweger spricht mit den Frauen über ihre Angst vor dem mysteriösen Mörder (siehe Infobox). „Je sicherer die Prostituierte in der Gesellschaft ist, umso geringer ist die Gefahr, dass sie Opfer eines Verbrechens wird“, erklärt er dem Reporter während des Spaziergangs.
„Jack Unterweger war Frauenheld und wichtige Figur des öffentlichen Lebens. Das Profil eines Serienmörders passte nicht auf ihn. Das erschwerte die Ermittlungen ziemlich“, sagt der suspendierte Kripochef Ernst Geiger, der gemeinsam mit dem damaligen Sicherheitsbüro-Leiter Max Edelbacher die Ermittlungen leitete. Sie kamen im Sommer 1991 ins Rollen. Unterwegers Radioreportage hatte die Polizisten misstrauisch gemacht. „Er wollte eigentlich nur mit den Leuten aus dem Milieu sprechen“, erzählt der Ö1-Redakteur Manfred Steinhuber von den Vorbereitungen, „aber ich dachte, dass da noch eine andere Perspektive rein muss: Also habe ich ihn auch zur Polizei geschickt.“ Kurz darauf saß er – ausgestattet mit Presseausweis und ORF-Mikrofon – im Büro von Max Edelbacher. „Am Abend bin ich nachhause gegangen und habe meiner Frau von Unterweger erzählt“, erinnert sich Edelbacher, „ich kannte ihn damals nicht. Und sie sagte: ‚Sagt dir der nichts? Das ist ja der Häfnpoet!‘“ Edelbacher wunderte sich. Nach einem Anruf eines pensionierten Polizeibeamten aus Salzburg, der glaubte, zwischen Unterwegers erstem Mord und den Prostituiertenmorden in Wien Gemeinsamkeiten feststellen zu können, begann die Observation. Jack Unterweger, damals 42, bemerkte es rechtzeitig und floh mit seiner Freundin Bianca Mrak, damals 18, ins US-amerikanische Miami (siehe Interview).

Was von da an geschah, fand sich auf den Titelseiten aller Zeitungen und als Spitzenmeldung aller Nachrichtensendungen. Unterweger wollte in den USA seine Verteidigung vorbereiten, Mrak tanzte in einer Go-go-Bar, um Geld für die beiden heranzuschaffen. Im Februar 1992 wurde das Paar festgenommen. Eine Vorauszahlung für ein Interview, zu deren Empfang Unterweger seine Adresse angegeben hatte, verriet ihn. Mittlerweile schrieb das FBI die Schuld an drei Prostituiertenmorden in Los Angeles ebenfalls Unterweger zu. Dort hatte er sich schon vor der Flucht nach Miami für eine weitere Reportage aufgehalten. „Ich konnte mir zuerst nicht vorstellen, wie sie so sicher sein konnten, dass die Morde in Österreich und jene in den USA vom selben Täter verübt wurden“, sagt Leake. „Dann brachte die Ermittlerin den Karton mit den Beweisstücken. Ich sah die Weise, wie die BHs zerrissen waren und wusste – es war derselbe Täter.“ Die Prostituierten mit ihren BHs zu strangulieren, war eine Eigenheit Jack Unterwegers. Auch ein spezieller Knoten um die Hälse der Frauen – Ernst Geiger beschreibt ihn als „einzigartig“ und „unverkennbar“ – taucht immer wieder auf. Die Polizei glaubt, dass der Täter seine Opfer vor dem Mord noch stundenlang quälte. „Er erzählte ihnen, er sei Schriftsteller. Er bot ihnen viel Geld, damit sie mit ihm weit hinausfuhren und zu Fesselspielen bereit waren. Auf diese Art hatte er leichtes Spiel“, sagt Geiger. Elf Frauen hat Jack Unterweger auf diese Weise in Österreich, den USA und auch Tschechien ermordet. Die österreichischen Opfer versteckte er im Wienerwald. Manche von ihnen wurden erst Monate später entdeckt. Das Haar eines Opfers in seinem Auto und die Stofffaser seines Schals an einer Leiche verrieten ihn schließlich. Mittels der damals neuen DNA-Analyse konnten sie zugeordnet werden. In der Nacht auf den 30. Juni 1994 erhängte sich Jack Unterweger in seiner Grazer Zelle. Am Vortag war er wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden, sein Urteil wurde nicht mehr rechtskräftig. Der Knoten der Schnur, an der Unterweger baumelte, war auf dieselbe Art geknüpft wie jene, mit denen er die Frauen ermordet hatte. „Einen solchen Knoten bekam Ernst Geiger von der Mannschaft und mir zu seinem Fünfziger geschenkt“, sagt Max Edelbacher. Er lacht und entschuldigt sich ob der rauen Sitten bei der Polizei.
Wie war Jack Unterweger? Unendlich anpassungsfähig. Und begabt, ohne Blick für die moralische Verpflichtung, die ihm gerade diese Begabung auferlegte. John Leake schreibt von einer „fast übernatürlichen Fähigkeit, Freunde und Helfer zu gewinnen“. „Es ist faszinierend, wie schnell er die linksliberale Diktion seiner Protegés übernehmen und imitieren konnte“, sagt er und führt die Zitate in der Falter-Reportage als Beispiel an. In Dichterkreisen redete Jack Unterweger wie ein Dichter, in Zuhälterkreisen wie ein Zuhälter. Die Gesellschaft, die er damit beeindrucken konnte, half ihm aus dem Gefängnis und verschaffte ihm Zutritt unter ihresgleichen. Entsprechend groß war der Schock, als sich seine Attitüde als Täuschung erwies. Das sei „ein Schock für alle, die an Resozialisierung glauben“, schrieb der Standard-Kolumnist Daniel Glattauer in einem Kommentar 1992. „Er darf nicht der Prostituiertenmörder sein. Das kann er seinen Kollegen nicht antun, nicht den Künstlern und vor allem nicht den Häftlingen. Denn sie werden büßen, wenn sich das Volk in seinen liberalsten Gefühlen verraten wähnt.“ Der Kommentar trägt den bezeichnenden Titel „Bitte nicht Unterweger!“.

John Leake: The Vienna Woods Killer. A Writer’s Double Life. Granta Books, 347 S. EUR 24,55

Was wurde aus … Bianca Mrak

Mit 17 lernte sie Jack Unterweger kennen, mit 18 floh sie mit ihm
nach Miami. Vor drei Jahren beschrieb Bianca Mrak ihre Zeit mit
Unterweger in ihrem Buch „hiJACKed“. Heute lebt die 34-Jährige
zurückgezogen in einem kleinen Ort in der Steiermark, sie ist ledig
und hat einen kleinen Hund und eine Katze.

Falter: Frau Mrak, wie empfanden Sie die Zeit nach Ihrer Rückkehr
aus Miami?

Mrak: Es war nicht einfach. Die Menschen haben mich schief
angeschaut und als Schlampe beschimpft. In dem Moment, in dem sie
mich und meinen Namen sahen, wurde es fast unmöglich, eine Wohnung
oder später einen Job zu finden. Ich fühlte mich ziemlich
alleingelassen. Und ich werde bis heute auf Jack Unterweger
angesprochen.

Gab es psychologische Betreuung für Sie?

Das stand damals nicht zur Debatte. Nur die Polizei hat sich immer
sehr korrekt verhalten. Später machte ich eine Psychotherapie. Ich
hatte das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten.

Können Sie beschreiben, wie sich Ihr Verhältnis mit Jack
Unterweger auf Ihr späteres Leben auswirkte?

So etwas kann ein Leben nur prägen, obwohl sich viele Auswirkungen
erst lange danach einstellten. Ich spürte den ständigen Druck, mich
beweisen zu müssen, weil ich immer sehr schnell abgestempelt wurde.
Außerdem habe ich mich im Lauf der Jahre sehr zurückgezogen. Unter
Menschen zu sein, machte mir irgendwann keinen Spaß mehr.

Gesetzt den Fall, die Polizei hätte Sie vor der Flucht abgefangen
und Sie über den Mordverdacht und die Indizienkette informiert. Wären
Sie trotzdem mitgegangen?

Ich glaube, ich wäre da geblieben.

Und heute?

Diese Taten sind unvorstellbar. Aber es sprechen eben alle
Indizien dafür. Manchmal kommt der schreckliche Gedanke an diese
Morde in mir hoch. Aber es gelingt mir ganz gut, das zu unterdrücken.
Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, mit einem elffachen Mörder
im Bett gewesen zu sein.

Gibt es etwas Positives, das Sie heute mit Jack Unterweger
verbinden?

Er war witzig, auf eine neckende Weise, mit der er alle – Männer
wie Frauen – um den Finger wickelte. Ich kann mich ans Café
Florianihof in der Josefstadt erinnern. Das war sein Stammcafé, und
dort war er der Liebling aller.

Was hatten Sie sonst für ein Bild von ihm?

Er war manipulativ und schwer dominant. Aus heutiger Perspektive
halte ich ihn für einen Narzissten. Er redete unaufhörlich, immer so,
als hätte er unendlich viel Lebenserfahrung. Er gab vor, ein guter
Zuhörer zu sein, und gleichzeitig hat er dich für seine Zwecke
eingespannt.

Damals im Falter

Unterwegs mit Jack

Nein, er schäme sich nicht für diese Geschichte, sagt Thomas
Rottenberg. Der Journalist (Standard, Puls TV) hat im Frühsommer 1991
anlässlich der „Wienerwaldmorde“ für den Falter eine Reportage über
Strich und Prostitution in Wien gemacht. Während die
Boulevardzeitungen auf eigene Faust recherchierten, ließ sich der
damals 22-Jährige vom „Schriftsteller und Szenenkenner“ Jack
Unterweger beraten. Der bot ihm bei einer Veranstaltung an: „Ich
zeige dir, wie’s wirklich ist.“ Man traf einander zu Vorgesprächen im
damals schummrigen Café Florianihof, dem Lieblingslokal des als
„Häfnpoet“ scheinbar resozialisierten Mörders. Der hatte
Street-Credibility und brachte Rottenberg zu besorgten
Prostituierten, aufgebrachten Zuhältern und Rotlichtkönigen. Ein Jahr
später wurde Unterweger der „Wienerwaldmorde“ überführt.

Wie gruselig im Nachhinein. Als Unterweger den jungen
Falter-Reporter in seinem übertrieben protzigen Auto über die
Felberstraße kutschierte, in zweiter Spur vor Puffs parkte und
Rottenberg das Milieu präsentierte, war das vor allem aufregend.
„Plötzlich landest du in einem Paralleluniversum. Wenn du da als
Journalist mit, dem Jack‘ auftauchst, bist du halt nicht mehr ganz
der Fremde. Du gehst in ein Lokal, und plötzlich stellt sich heraus,
dass der Mann an der Garderobe der Wichtige ist.“ Rottenberg erinnert
sich, wie die Intelligenzija Unterwegers animalischem Reiz verfiel,
dem „Robbie-Williams-Effekt“ – wenn der Mörder zum Angreifen wie ein
Star das Kaffeehaus betrat, das Hemd bis zum Nabel offen. Für ihn
verkörperte Unterweger eher das Gegenteil von einem charmanten und
gutaussehenden Mann, als den ihn die Medien immer beschrieben. „Der
war einfach ein kleiner Pülcher mit großer Klappe, der seine
Vorgeschichte wie eine Trophäe vor sich hergetragen hat.“

Christopher Wurmdobler

Rottenbergs Reportage „Sex, Blut, Tränen“ von 1991 ist als Reprint
im 30-Jahre-Falter-Jubiläumsheft nachzulesen.

Erschienen im Falter 48/08

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Eingeordnet unter Allgemein, Wien

Der Tag, an dem Aeryn verschwand

Vor einem Jahr lief ein Amerikaner nackt aus einer Wiener Schwulensauna und verschwand spurlos. Jetzt enthüllt seine Mutter einen Polizeiskandal

Reportage: Joseph Gepp

Sie hätte nach Wien kommen wollen, für sechs Monate vielleicht, Europa kenne sie ohnehin kaum. Danach hätte sie übersiedeln wollen, weg von der zugigen Ostküste, nach Florida, ins sonnige Altenteil Amerikas. Doch zu all dem kam es nicht mehr.

Am 31. Oktober 2007, zwei Uhr nachmittags, bekam Kathy Gilleran einen Anruf, der alle ihre Pläne bedeutungslos werden ließ.

Gilleran ist heute 56 Jahre alt. Sie sitzt in einem braunen Lederfauteuil in der Lobby eines hübschen und nicht allzu teuren Wiener Innenstadthotels. Sie ist nach Wien gekommen, aber nicht mehr, weil Europa sie interessiert.

Bis zu ihrer Pensionierung habe sie als Polizistin gearbeitet, erzählt sie, in Cortland, US-Bundesstaat New York. Sie habe gedacht, von Polizist zu Polizist rede es sich leichter. Man würde einander verstehen, habe sie geglaubt, man würde ihr schon helfen, hier in Wien, bei der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn.

Es kam anders. Ein Jahr nach seinem Verschwinden schickte Kathy Gilleran ein zwölfseitiges Dossier an US-Senatorin Hillary Clinton. „Ich habe niemals zuvor so viel Rohheit, Grobheit und Unprofessionalität erlebt“, schrieb sie. Und: „Wenn ich sage, dass das Verhalten der Polizei an Sadismus grenzt, dann übertreibe ich nicht.“

Am Abend des 29. Oktober 2007 rannte ihr Sohn Aeryn Michael John Gillern, US-Bürger, damals 34, nackt aus der Wiener Schwulensauna Kaiserbründl im ersten Bezirk. Seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.

Er sei zum Donaukanal gelaufen, habe sich nahe der Urania ins Wasser gestürzt und Selbstmord begangen, sagt die Polizei.

Das sei ganz und gar unmöglich, sagt Kathy Gilleran. „Wenn ich etwas weiß, dann, dass mein Sohn sich nicht umgebracht hat.“ Und sie sei keine Mutter, die die Realität nicht anerkennen könne, keine mother in denial.

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Aeryn Gillern, fotografiert von Kathy Gilleran

Psychologen sagen, dass acht von zehn Selbstmördern in irgendeiner Form auf ihren bevorstehenden Suizid hinweisen. Bei Aeryn Gillern lag der Fall anders: An dem Tag, als er verschwand, drehte sich noch die Schmutzwäsche in der Waschtrommel seiner penibel aufgeräumten Wohnung am Leopoldstädter Handelskai. Er hatte Flugtickets gekauft, zwei Monate später wollte er seinen Freund, einen Schweizer, in Zürich besuchen. Er hatte mit seiner Mutter sorgfältig ihre vorübergehende Übersiedlung nach Wien durchbesprochen. Mit dem Nachbarn hatte er über seinen bevorstehenden Geburtstag getratscht. Als Aeryn Gillern am Morgen des 29. Oktober seine Wohnung verließ, um ins Büro zu fahren, lag eine Packung Rice Krispies am Küchentisch. Er hatte sie am Vorabend für seine Arbeitskollegen gebacken und sie dann in der Wohnung vergessen. Nichts, rein gar nichts, deutet darauf hin, dass er am Abend desselben Tages seinem Leben ein Ende setzen wollte.

Kathy Gilleran erzählt über ihren Sohn. Er habe Comics von Goofy und Scherze des englischen Slapstickstars Benny Hill gemocht, sagt sie, er habe Bücher über Biologie und Philosophie gelesen, er habe für sein Leben gern Kekse gebacken und mit seiner Homosexualität nie ein großes Problem gehabt.

Es ist einer der merkwürdigsten Fälle der vergangenen Jahre. Aeryn Gillern war Stammgast im Kaiserbründl, der bekanntesten Schwulensauna der Stadt. An diesem Abend war er dort, wie so oft, fast jede Woche kam er hierher. Er deponierte den Sportrucksack mit seinen Sachen in Kabine Nummer fünf. Dann stieg er die Treppe hinunter und ging in den Saunabereich.

Danach muss etwas Entscheidendes passiert sein. Gegen 19 Uhr kommt Gillern herauf zur Bar, nackt, nur mit Badeschlapfen an den Füßen. Der Kellner denkt, er brauche nur ein frisches Handtuch. Doch Gillern geht an der Bar vorbei. Er eilt durch den Gang des Gründerzeithauses, öffnet die Eingangstür, läuft ins Freie, es ist schon dunkel an diesem Abend, kalt, leicht windig. Dass er das Gebäude verlässt, sieht der Barkeeper am Schirm der Überwachungskamera, und er springt auf, läuft hinterher, in den Gang, durch die Eingangstür ins Freie. Doch Aeryn Gillern ist schon in den verwinkelten Gassen rund um den Franziskanerplatz verschwunden. Vor dem Portal der Franziskanerkirche, 15 Meter von der Sauna entfernt, liegen seine nassen Badeschlapfen.

Niemand kennt den Grund seines plötzlichen Verschwindens. Gerüchten zufolge soll es in der Sauna zu einem Streit gekommen sein zwischen einheimischen Gästen und Touristen. Der Chef der Sauna behauptet jedoch, dass an jenem Abend nichts vorgefallen sei. Aeryn sei einfach über die Treppe zur Bar heraufgekommen, einfach so, er sei verschwunden, aus heiterem Himmel.

Wenn er tatsächlich Selbstmord begangen hat, muss er danach zum Donaukanal gelaufen sein, durch die Singerstraße und über die Ringstraße. Er muss dabei das Palais Coburg, das übervolle Café Prückl, das Mak, das abendlich hellerleuchtete Uraniakino passiert haben. Es war am frühen Abend, doch niemand hat den nackten Mann – 1,85 Meter groß, muskulös, rasierte Glatze – gesehen. Nur dass er die Sauna verlassen hat, bestätigen Augenzeugen. Der einzige Zeuge, der danach etwas beobachtet haben will, ist ein Mann, der an jenem Abend unterhalb der Urania im Donaukanal fischte. Er erzählte der Polizei, er habe jemanden mit Glatze im Fluss treiben sehen.

Später relativierte der Angler seine Aussage: Er habe eigentlich nur einen Mann im Kanal gesehen, sagte er, mit oder ohne Glatze. Und dann änderte er sie nochmals: Er habe eigentlich nur ein Platschen gehört.

Im dem Dossier, das Kathy Gilleran für Hillary Clinton geschrieben hat, finden sich Ortsangaben, Zeitabläufe, auf Minuten genau, widersprüchliche Aussagen, minutiös dokumentiert. Die Namen der beteiligten österreichischen Polizisten hat Kathy Gilleran mit amerikanischen Titeln versehen, Investigator Weiss, Lieutenant Haimeder.

Sie sagt, die Wiener Polizei habe roh und unkooperativ gehandelt, weil ihr Sohn schwul gewesen sei. Sie sagt, sie habe Aeryn verloren und wisse nicht, was ihm zugestoßen sei. Jetzt wolle sie zumindest seine Würde wiederherstellen.

Am 31. Oktober 2007, nachmittags, zwei Tage nach seinem Verschwinden, telefoniert Kathy in Cortland mit Gillerns Freund, dem Schweizer, der seit acht Monaten mit Aeryn Gillern liiert ist. Dem Falter sagt der Freund, er habe am Tag des Verschwindens, 29. Oktober, kurz nach 19 Uhr, noch eine SMS von Aeryn bekommen: Will be home soon, er rufe ihn dann gleich an. Der Mutter erklärte der Freund am 31. Oktober, sie solle schnellstmöglich nach Wien fliegen. Er sei auch schon hergekommen, komme aber hier mit der Polizei nicht zurecht.

Seit Tagen war Aeryn Gillern nicht in seinem Büro aufgetaucht, bei der Unido, der UN-Organisation für industrielle Entwicklung, wo er seit fünf Jahren arbeitete. Er, der pflichtbewusste Forschungsmitarbeiter, der Dreifachmagister, der noch nie zuvor einen Tag grundlos gefehlt hatte. Die besorgten Arbeitskollegen alarmierten seinen Nachbar, seinen Freund, seine Mutter.

Zwei Tage später stand Kathy Gilleran am Wiener Flughafen. Sie zog vorläufig in die Wohnung ihres Sohnes. In den folgenden fünfeinhalb Wochen sprach sie mit allen Beteiligten, mit Aeryn Gillerns Freunden, seinen Kollegen, seinen Nachbarn, der Polizei, der Saunaverwaltung, dem Hausarzt. Sie protokollierte jedes Gespräch, jedes Indiz, jeden Hinweis.

Heute sagt sie, diese Zeitspanne laufe wie ein Film an ihr vorbei, sie erinnere sich an jede Kleinigkeit. Um die komplizierte Geschichte zu vereinfachen, hat sie die Visitenkarten, die sie in den fünfeinhalb Wochen bekommen hat, vor sich auf den Hoteltisch gelegt, aneinandergereiht wie Memorykärtchen. Ihr Finger rast von Name zu Name. Kathy Gilleran erzählt präzise, chronologisch exakt. Wenn sie zu entscheidenden Stellen kommt, dann listet sie auf, was passiert ist, Minute für Minute.

Sie sagt, dass die Polizisten sie gefragt hätten, ob sie eigentlich stolz darauf sei, einen schwulen Sohn zu haben. Sie sagt, die Ermittler hätten sich geweigert, Englisch zu sprechen, und gleichzeitig durchblicken lassen, dass sie die Sprache beherrschen. Mit höhnischem Unterton habe man sie nach der Art ihrer Polizeiarbeit gefragt, ob sie denn Parksheriff gewesen sei in Amerika. Sie erzählt, dass die Dolmetscherin – eine Unido-Mitarbeiterin – die Polizisten gebeten habe, Sprechpausen einzulegen, damit sie für Kathy Gilleran übersetzen kann. Und die Polizisten hätten verweigert.

Gilleran behauptet, die Polizei habe weder Aeryns Wohnung durchsucht noch den Donaukanal, in den er angeblich gesprungen sein soll.

Zwei Ermittler seien gekommen, um in der Wohnung in der Leopoldstadt nach Spuren eines möglichen Verbrechens zu suchen, erzählt sie. „Einer der beiden ist durch die Zimmer gegangen. Er hat unter das Bett geschaut. Er hat die ausziehbare Couch auf- und wieder zugeklappt. Er hat kein einziges Beweisstück mitgenommen. Das war die ganze Wohnungsdurchsuchung.“ Zwei weitere Personen, die ebenfalls bei dem Polizeibesuch anwesend waren und ungenannt bleiben möchten, schildern den Ablauf genauso.

Die Polizei sagt, man habe die Wohnung von Aeryn Gillern vorschriftsmäßig durchsucht und Beweisstücke mitgenommen.

Kathy Gilleran behauptet, die Polizisten hätten im Donaukanal nicht nach der möglichen Leiche von Aeryn Gillern gesucht. Nach einer halben Stunde seien sie unverrichteter Dinge wieder abgefahren. „Sie haben mir später erzählt, dass sie dort waren, mit Taucherteams, Booten und der Feuerwehr. Aber wie soll das möglich sein in einer halben Stunde?“

Die Polizei sagt, man habe den Donaukanal ordnungsgemäß durchsucht. Am 29. Oktober 2007, dem Abend des Verschwindens, zwischen 20.23 und 20.50 Uhr – 27 Minuten lang. „Manchmal hat es keinen Sinn, genauer zu suchen“, sagt Friedrich Kovar, Menschenrechtskoordinator am Wiener Landespolizeikommando. „Am nächsten Tag kann die Leiche schon in Ungarn sein. Oder eine Strömung drückt den Körper auf den Grund. Dann findet man ihn unter Umständen erst nach Jahren. Oder gar nicht mehr.“

Am 6. November 2007, eine Woche nach dem Verschwinden, erklärten die Polizisten Kathy Gilleran, dass ihr Sohn sich umgebracht habe, er sei HIV-positiv gewesen und emotional instabil.

An diesem Tag bekam sie den Sportrucksack ihres Sohnes überreicht. Aeryn hatte ihn in der Sauna liegen lassen, in Kabine Nummer fünf. Die Polizisten hatten ihn dort konfisziert. Nun wurde er der Mutter überreicht. Sie weinte, nahm die Kleidung aus dem Rucksack, drückte sie an ihr Gesicht, sog den Geruch des Sohnes ein.

In dem Rucksack, den Kathy Gilleran zuhause durchsuchte, lagen neben der Kleidung Gillerns Reisepass, sein Uno-Ausweis, sein Handy. Und ein negativer Aidstest.

„Ich hatte die Tasche doch gerade vorher von der Polizei bekommen. Und sie haben mir erzählt, dass mein Sohn HIV-positiv gewesen sei“, sagt sie. „Entweder sie haben nicht hineingeschaut – oder sie haben mich belogen.“

Sofort faxte sie den Befund an die Polizei. Tage später jedoch, erzählt sie, sei sie bei einem weiteren Termin bei der Kriminalpolizei erneut angeherrscht worden: Der Fall sei doch klar, ihr Sohn habe wegen Aids Selbstmord begangen. „Obwohl sie es da schon besser gewusst haben müssen, dass mein Sohn kein HIV hatte.“

Die Polizei will zu all diesen Vorwürfen keine Stellung nehmen. Sie seien allesamt an die interne Beschwerdekommission weitergeleitet worden, sagt Friedrich Kovar. Man werde jetzt alles untersuchen und danach möglicherweise Sanktionen aussprechen.

Rund 700 Menschen verschwinden in Österreich pro Jahr. 90 Prozent davon sind Jugendliche, die ein paar Tage ausreißen, oder Asylwerber, die samt ihren Familien untertauchen. Beim Rest, jährlich etwa 70 Personen, handelt es sich um die Ehemänner, die Zigaretten holen und nicht mehr zurückkehren. Oder um die Selbstmorde. Oder um die Kriminalfälle.

Das Wiener Kaiserbründl ist kein Ort von Traurigkeit. „Viele Gäste kommen, um zu saunieren und zu entspannen, die meisten kommen aber, um Sex zu haben“, steht in einem Wiener Erotikführer. Vor 120 Jahren ließ der persische Botschafter in Wien die prächtigen Badehallen im Stil eines orientalischen Hamam errichten, um seinem Sohn ein Geschenk zu machen. In den 80ern posierte Mickey Rourke vor dem pompösen Hintergrund für Erotikfilme. Heute kommen Beamte aus den umliegenden Ministerien und gesetzte ältere Innenstadtbewohner. Sie legen ihre Kleider ab, binden sich weiße Handtücher um die Hüften und tauchen in eine Welt ein, in der ihre sexuelle Orientierung jener der Mehrheit entspricht.

Aeryn Gillern war unter ihnen beliebt. Er war großgewachsen und muskulös, er achtete penibel auf sein Aussehen. 2005 wählte man ihn zum „Mister Gay Austria“. Sponsor der Veranstaltung war das Kaiserbründl. Da habe es durchaus Neid und Eifersucht unter den Saunagästen gegeben, erzählt Gillerns Schweizer Freund.

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Aeryn und Mutter Kathy

Gleichzeitig war Gillern tiefreligiös. Er habe immer ein abgegriffenes katholisches Liederbuch bei sich getragen, sagt seine Mutter. In verschiedenen Wiener Kirchen half er als Messdiener aus. Sein Bekanntenkreis musste sich oft scherzhafte Vorwürfe von ihm gefallen lassen, wenn sonntägliche Kirchenbesuche ausblieben. Eine Zeitlang verbrachte er probehalber im Priesterseminar im niederösterreichischen Gaming. „Während dieser Zeit war er auch Mitglied einer Burschenschaft. Da war Homosexualität natürlich tabu“, sagt ein Bekannter. „Jenen Menschen, denen er nicht nahestand, erzählte er dann von einer erfundenen Freundin, ,meiner großen Liebe in München‘, wie er sagte. Er lebte in einer Scheinwelt. Wie in der Truman-Show. Alles musste perfekt sein.“

Trotz der vergessenen Rice Krispies am Küchentisch, trotz der gebuchten Flüge, trotz der erfolgreichen Karriere und der Zukunftspläne – vielleicht verbarg sich ein Problem tief in Aeryn Gillerns Psyche. Vielleicht quälte es ihn, fräste sich langsam durch sein Gehirn. Vielleicht suchte er die Lösung im Schoß von Kirche und konservativer Burschenschaft. Und irgendwann kollabierte das System – und Aeryn beging in einer Anwandlung von Panik Selbstmord. Und zufällig sah ihn niemand dabei.

Das ist jedoch nur Spekulation. Alle, die ihn kannten und zu einem Gespräch bereit waren, schließen den Selbstmord aus oder glauben zumindest nicht daran. Und die Polizei, die vom Suizid ausgeht, sieht sich mit drei schweren Zweifeln konfrontiert: Erstens sah niemand den großen nackten Mann, der abends durch die stark frequentierte Innenstadt gelaufen sein soll. Zweitens änderte der einzige Zeuge des Selbstmords, der Angler am Donaukanal, mehrmals seine Aussage. Und drittens – wohl das Schwerwiegendste – werfen alle Beteiligten den Polizisten Desinteresse und Homophobie vor. Sogar ein Polizist bestätigt im informellen Gespräch mit dem Falter die „Aufklärungswürdigkeit“ des Falls Nummer DOB 4/28/73, der verschwundene Aeryn Gillern.

Seit mehr als einem Jahr tingelt Kathy Gilleran nun durch amerikanische Talkshows auf Provinzkanälen, sie gibt Journalisten Interviews, sie redet mit Schwulenvertretern und Politikern. Sie erzählt ihnen, dass ein Selbstmord ihres Sohnes ganz und gar unmöglich und dass sie keine mother in denial sei. Sie wollte im Kaiserbründl eine Gedenktafel anbringen lassen, der Chef aber lehnte ab, er müsse auch an die anderen Gäste denken. Am Abend des 29. Oktober 2008, ein Jahr nach dem Verschwinden ihres Sohnes, stand sie mit einigen Kerzen und Fotos von Aeryn Gillern vor dem Kaiserbründl. Sie hielt eine Mahnwache, alleine, vor der Eingangstür, aus der ihr Sohn gerannt war, es war schon dunkel an diesem Abend, kalt, leicht windig.

Sie sagt, Medien und Polizei in Österreich würden sie nicht unterstützen, man arbeite gegen sie. Die Polizei sei unwillig, die Medien schlampig. Einer amerikanischen Journalistin erzählte sie, ihr Schicksal erinnere sie an einen ähnlichen Fall, jenem von Nathalie Holloway im Jahr 2005. Die 19-jährige amerikanische Schülerin verschwand damals spurlos bei einem Klassenausflug auf die Karibikinsel Aruba. Der Fall erregte in den USA Aufsehen, weil sich die Behörden von Aruba an der Suche nach dem Mädchen kaum interessiert zeigten. Genauso wie die österreichischen Behörden im Fall Aeryn Gillern, sagt Kathy. „Nur dass ich nicht die Mutter eines Cheerleader-Mädchens bin, sondern die Mutter eines schwulen Sohnes.“

Dann sucht sie nach einem Beleg für ihre Aussagen und kramt nach einem kurzen Zeitungsartikel. Er erschien vor wenigen Monaten im Gratisblatt Heute. Dort steht, dass Kathy Gilleran der österreichischen Polizei schlampige Ermittlungen vorwerfe. Und dann, im letzten Satz, heißt es plötzlich, Kathy Gilleran wäre die Mutter des verschwundenen Mädchens gewesen: „Die Verzweiflung der Mutter ist verständlich: 2005 verschwand bereits Tochter Nathalie – nie gefunden.“

Ein Fall voller Widersprüche

Geht man von einem Selbstmord aus, dann muss Aeryn Gillern in etwa den Weg zwischen Kaiserbründel und Donaukanal zurückgelegt haben. Er führte direkt über die Ringstraße und durch die stark frequentierte Innenstadt

29. Oktober 2007

19 Uhr: Laut Sauna und Polizei läuft Gillern etwa um diese Zeit aus dem Kaiserbründl

19.20 Uhr: Gillern telefoniert mit einem Unido-Kollegen. Das Gespräch soll normal, er selbst guter Laune gewesen sein

19.27 Uhr: Gillerns Schweizer Freund bekommt die letzte SMS: Er sei bald zuhause, er rufe ihn dann an

20.23–20.50 Uhr: Die Polizei durchsucht den Donaukanal

Kathy und Aeryn tragen zwei verschiedene Familiennamen. „Gilleran“ ist die irische Urform, „Gillern“ die amerikanisierte Fassung.

Erschienen im Falter 47/08

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Ein Bastard namens Einkaufszentrum

Das Leben des Victor Gruen. Wie ein Wiener unfreiwillig zum Geburtshelfer der Shoppingmall wurde

Bericht: Joseph Gepp

Wien, das sind baumbestandene Boulevards und Kaffeehäuser, das ist Flanieren und Promenieren, das sind stundenlange Gespräche bei billigem Kaffee. Die ideale Verschränkung von Kultur und Kommerz. So dachte Victor Grünbaum. Der Wiener Jude liebte die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Bald jedoch kam das Jahr 1938, und er musste fliehen.

Grünbaum, amerikanisiert Victor Gruen, sollte noch Geschichte schreiben, aber nicht freiwillig. Er nahm sein Bild von Wien ins US-amerikanische Exil mit. Dort wurde er Architekt und Stadtplaner.

Gruen wollte seine Vorstellung von der perfekten Stadt den gesichtslosen US-Metropolen aufdrücken. Diese Städte hatten sich oft zufällig entwickelt, sie verfügten über keine natürlichen Mittelpunkte, und ihre Einwohnerzahlen explodierten geradezu. Gruen wollte gegensteuern, mit der Schaffung von künstlichen Zentren, für Gespräche und Spaziergänge, für Fortbildung und Feste. Die Stadt braucht öffentlichen Raum, dieser öffentliche Raum jedoch braucht ein wenig gebändigten Kommerz, dachte Victor Gruen. Der konsumierte Kaffee bedingt das Gespräch. So wie die Stadt, die Gruen geprägt hatte, sollten auch US-Metropolen werden. Neue Mittelpunkte sollten ihre heruntergekommenen Stadtzentren und vorstädtischen Reihenhaus-Wüsten beleben.

„Gruen dachte, dass Handelstätigkeit ein vitales städtisches Leben schaffen kann“, sagt die Soziologin Anette Baldauf, 43, Gruen-Forscherin und Stipendiatin am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK). „Und in Amerika sah er die monofunktionalen Teppichlandschaften der Vorstädte als Herausforderung.“ Im Jahr 1954 – in den USA tobten gerade Massenkonsum und Kalter Krieg – eröffneten Victor Gruen und seine damalige Frau Elsie Krummeck in den Suburbs von Detroit das erste künstliche Zentrum nach ihren Vorstellungen: Eine „Shopping Town“ war es, mit Geschäften, Kindergärten, einem Postamt und einem Zoo, gruppiert um ein Atrium. Ein bunter, multifunktionaler Fleck in der Schlafstadt sollte es sein, der das Leben in sich bündelte. Es folgten Projekte in weiteren Städten.

Wer heute sehen will, was aus Victor Gruens Vision geworden ist, der muss nicht nach Detroit. Die U-Bahn zum Kagraner Donauzentrum oder zum Stadion-Center in der Leopoldstadt reicht. Gruens Idee hat sich weltweit durchgesetzt – aber gar nicht so, wie er das im Sinn gehabt hatte.

Zur „Verkaufsmaschine“ habe man sein Konzept pervertiert, tobte der Altgewordene viele Jahre später. Er stritt die geistige Urheberschaft ab: „Ich weigere mich, Alimente für Bastardprojekte zu bezahlen.“

Kaum war der Weltkrieg vorbei, kehrte Victor Gruen – erst besuchsweise, später fix – in das Land zurück, das ihn vertrieben hatte. In den USA war er zum Multimillionär geworden. In Wien wollte er alles besser machen. Hier predigte er nun, dass man „Amerika kapieren, nicht kopieren“ müsse.

„Gruen hat zwei entscheidende Dinge falsch eingeschätzt“, erklärt Anette Baldauf. „Einerseits dachte er, die vorstädtische Mall und das Stadtzentrum würden voneinander profitieren. In Wahrheit verdrängte das Einkaufszentrum den Stadtkern.“ Und andererseits: „Er hat nicht vorausgesehen, dass innerhalb des Einkaufszentrums die Geschäfte alle anderen Einrichtungen verdrängen würden.“ Victor Gruen hat die Macht des Kapitalismus falsch eingeschätzt.

Es war allerdings eine Macht, die man zu dieser Zeit auch in Österreich zu spüren begann. Hier spross in den 60er-Jahren ebenfalls der neue Massenkonsum. Autofahrerfreundlichkeit und schnelle Verkehrsverbindungen galten als höchste stadtplanerische Devisen. Statt öffentliche Plätze zu errichten, peitschte man die Errichtung von Stadtautobahnen und Parkgaragen durch. Die Kaffeehäuser und Boulevards, die Gruens Jugend geprägt hatten, waren unzeitgemäß geworden. In diese Atmosphäre platzte der Altmeister aus Amerika mit verwegenen Ideen wie einem autofreien Stadtkern oder der sogenannten „Stadt der kurzen Wege“. Das kam ungelegen.

Was er hier durchsetzen konnte, war nach eigener Aussage lediglich „kosmetischer Natur“. 1974 wurde die Kärntner Straße zur Fußgängerzone. Die Idee ging auf Gruens Einfluss zurück. Die Kaufleute protestierten und fürchteten einen Einbruch der Verkaufszahlen. Doch die Maßnahme wurde zum wegweisenden Schritt, dem später viele Städte in Deutschland und Österreich folgen sollten.

Gruen war trotzdem nicht zufrieden, er hätte lieber die ganze Innenstadt autofrei gehabt. „Seine Visionen waren zu radikal“, sagt Baldauf. „Und die Stadtbeamten erklärten ihm einfach, dass solche Maßnahmen bei den Wählern nicht ankommen.“

Gruen schrieb noch Bücher über die Kompaktheit von Städten, er gestaltete Geschäftslokale und beschäftigte sich mit Umweltforschung. 1980 starb er in Wien. Für seine Ideen war die Zeit noch nicht reif gewesen: Heute hat der Autoverkehr im Denken der europäischen Stadtplaner an Bedeutung verloren. Gerade jetzt brechen weltweit Automärkte ein. Manche der Vorstellungen, die zu seinen Lebzeiten noch als weltfremde Fantastereien abgetan wurden, gelten heute als Ideale.

Vier Jahre bevor Victor Gruen starb, eröffnete am Südrand von Wien die Shopping City Süd, das erste große Einkaufszentrum in Europa. Wien, das sind seitdem auch übervolle Parkplätze, metergroße Werbewände und ausufernde vorstädtische Einkaufstempel. Der Bastard war ihm bis vor die Haustür gefolgt.

Erschienen im Falter 46/08

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Eingeordnet unter Allgemein, Stadtgeschichte, Stadtplanung

STADTRAND: Von Amtsschimmeln und Praterratten

In einem kleinen Park beim Praterstern turnen jede Nacht Ratten in den Büschen. Sie schlagen Saltos über schockstarre Spaziergängerfüße und performen rudelweise, es gibt ja viele von ihnen, zusammen sind sie stark. Aber kein Problem, Wien ist ja sicher, sauber und überhaupt toll, natürlich wird die Stadtverwaltung einen Ausweg wissen: Die zentrale Rathausvermittlung verweist zum Bezirk, dieser zum Gartenmagistratsamt 42. Aber unter der angegebenen Telefonnummer meldet sich niemand. Also wird die MA-42-Nummer auf der Gemeinde-Homepage selbst recherchiert – die Durchwahl führt allerdings zum Wienstrom. Nächster Versuch: wieder Zentrale, wieder MA 42. Nach 15 Minuten beginnt der Telefon-Donauwalzer zu nerven. Dann meldet sich das städtische Gartenamt: Es gebe eben Ratten, sagt die Frau, die kriege man nicht los. Auf den Einwand, es seien viele, sagt sie, man werde die Rattenjäger darauf hinweisen. Nächstes Mal. Bleibt der Appell ans Mitgefühl: Man wohne gleich nebenan, das sei wirklich nicht angenehm. Aber da hat die Dame schon aufgelegt.

Erschienen im Falter 46/08

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Eingeordnet unter Behörden, Stadtrand, Wien

„Dekoration ist alles“

Die umstrittene Calatrava-Brücke in Favoriten scheiterte. Mak-Chef Peter Noever hält das für keine gute Idee

Gespräch: Joseph Gepp

Es hätte das neue Wahrzeichen des südlichen Wien werden sollen: der ambitionierte – und umstrittene – Steg über die Favoritner Triester Straße. Der spanische Stararchitekt Santiago Calatrava hätte ihn bauen sollen, im Juni wurde das Projekt mit großem Pomp präsentiert. Der städtische Auftrag erfolgte ohne Ausschreibung; Aussehen, Kosten und ein möglicher Fertigstellungstermin standen zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Jetzt ist die Brücke an massiver Kritik und Kostenexplosion gescheitert. Mak-Direktor Peter Noever hält das – im Interesse der gesamten Wiener Stadtplanung – für eine falsche Entscheidung.

Falter: Herr Noever, hätte Wien einen Calatrava gebraucht?

Peter Noever: Das ist das Denken von Provinzstädten. Wien braucht niemanden. Wir sind ja nicht in Wels oder Braunau am Inn. Nach großen Namen zu rufen, dient hauptsächlich dazu, der Gesellschaft und den Medien berichtenswerte Ereignisse zu liefern. Wien sollte endlich einen ernsthaften Versuch unternehmen, in der Gegenwart anzukommen.

Ist Wien denn nicht in der Gegenwart?

Noever: In mehrfacher Hinsicht nicht. Einerseits werden große Projekte interessant und ambitioniert begonnen. Andererseits geht den Beteiligten schnell der Atem aus. Ein Gestaltungswahn ohne Intelligenz herrscht in dieser Stadt. Dekoration ist alles.

Wovon reden Sie zum Beispiel?

Noever: Schauen Sie sich beispielsweise die Donauplatte an: Erst gab es hier einen wichtigen Wettbewerb; ein zweites Stadtzentrum hätte entstehen sollen. Die ursprünglichen Ambitionen verendeten aber in Verwaltungsgebäuden. Wenn es der Stadtverwaltung ernsthaft darum ginge, hätte sie ein zeitgemäßes Rathaus auf die Platte stellen und sich von der Grottenarchitektur an der Ringstraße verabschieden sollen. Ein zweites Beispiel: die Kärntner Straße. Hier wird alle 15 Jahre ein neues Pflaster verlegt. Als wäre es der Linoleumboden eines Wartezimmers – in Rom hält das Pflaster 2000 Jahre lang. Das ist alles ziemlich halbherzig.

Hätte die Calatrava-Brücke also ein Schritt sein können, der von solchen Halbherzigkeiten wegführt?

Noever: Was man auch von Santiago Calatrava oder anderen großen Namen hält: Es wäre immerhin ein mutiger Schritt gewesen. Aber in Wahrheit gibt man so einem Projekt ein viel zu kleines Budget. Der Atem ist viel zu kurz. Und es scheitert. Auch beim Zaha-Hadid-Haus am Donaukanal war das der Fall. Das Projekt wurde so sehr verwässert, dass sich die Architektin heute davon distanziert.

Soll man in der Wiener Architektur auf große Namen setzen?

Noever: Warum nicht? Unter der Voraussetzung, dass man es großzügig und richtig macht. Man muss genug Geld zur Verfügung stellen. Und man muss einen Interessenausgleich finden zwischen dem Gestaltungswillen des Architekten und dem Heer von Beamten, die oftmals etwas ganz anderes im Sinn haben.

Aber das Calatrava-Projekt wurde vom Planungsstadtrat Rudolf Schicker freihändig, also ohne Ausschreibung, vergeben. Ist das nicht ein Problem?

Noever: Jeder weiß, dass mich mit Stadtrat Schicker nicht gerade Harmonie verbindet, eher im Gegenteil. Es ist die Pflicht eines Planungsstadtrats, in Gestaltungen einzugreifen. Aber es stellt sich auch die Frage, ob man jedem Problem mit Wettbewerben beikommen kann. Manchmal muss sich eine Person an entscheidender Stelle zu etwas durchringen und es durchziehen.

In Wien möchte man Konflikte verhindern?

Noever: Neues erzeugt aber immer Konflikte. Also gibt es nichts Neues.

Aber wie kann man dann Neues schaffen?

Noever: Jedem architektonisch wichtigen historischen Gebäude ist immer ein Kampf vorausgegangen. Diesem Kampf kann man sich nicht entziehen. Man muss sich ihm stellen. Sonst entsteht nur Halbherzigkeit und das Mittelmaß, das diese Stadt prägt. Wie gesagt: Man kann von Calatrava halten, was man will. Aber er ist ein international anerkannter Architekt. Es wäre für diese Stadt besser gewesen, wenn Schicker das Projekt mit aller Kraft durchgesetzt hätte. Tatsächlich gab er auf halber Strecke auf.

Erschienen im Falter 45/08

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtplanung, Wien