KOMMENTAR AUSLAND Die Serben haben sich nicht wegen der EU am Sonntag zu ihrer demokratischen Haltung bekannt. Sie haben es trotz ihr getan. JOSEPH GEPP
Gute Nachrichten aus Brüssel für Belgrad sind selten, vor der Parlamentswahl jedoch trafen gleich zwei ein: Zunächst beschlossen 17 europäische Staaten den Erlass der Visagebühren von 35 Euro für jeden ausreisewilligen Serben. In einem Land mit einem durchschnittlichen Lohnniveau von 270 Euro brutto sind 35 Euro viel Geld. Wer zudem bedenkt, dass die Grenzen für das blockfreie Jugoslawien früher offen waren, kann sich ausmalen, was die rigiden Visabestimmungen für das heutige Serbien bedeuten, in dem 70 Prozent der Bevölkerung unter 27 noch nie im Ausland waren. Doch der Gebührenerlass war nicht die einzige frohe Botschaft: Tage zuvor hatte sich die EU zu einem Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) mit Serbien entschlossen. Voller Stolz fuhr Boris Tadic´, Staatspräsident und Chef der proeuropäischen Demokratischen Partei, nach Brüssel, um dort seine Unterschrift unter das Abkommen zu setzen. Sogar das bettelarme Albanien hat bereits ein SAA-Abkommen. Im Fall Serbien jedoch war das Ansinnen bisher stets mit Verweis auf die mangelnde Kooperation mit dem Tribunal von Den Haag abgewiesen worden.
Prompt folgte Kritik aus dem letzten Balkanland ohne SAA-Abkommen, Bosnien-Herzegowina: Die beiden mutmaßlichen Verantwortlichen für das Massaker von Srebrenica 1995 seien noch immer flüchtig, monierte der bosnische Außenminister Sven Alkalaj. Tatsächlich weckt das Vorgehen der EU den Verdacht, die internationale Kriegsverbrecherjustiz gelte nur, wenn Europa nichts zu verlieren hat.
Und diesmal hatte Europa etwas zu verlieren, und zwar ein ganzes Land. Am vergangenen Sonntag fanden in Serbien Parlamentswahlen statt. Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo war die alte Regierung zerfallen. Nun stand ein proeuropäischer Block um Präsident Tadic´ einem nationalistischen und ultranationalistischen um Vojislav KosÇtunica und Tomislav Nikolic´ gegenüber. Die Wirtschaftslage ist wegen der Lebensmittelpreise kritisch, der Kosovo seit knapp zwei Monaten unabhängig – mit einem Sieg der Nationalisten wurde allgemein gerechnet.
Stattdessen geschah, was sogar nüchterne Nachrichtenagenturen als „Sensation“ bezeichneten. Das proeuropäische Bündnis von Boris Tadic´ erhielt 38,8 Prozent der Stimmen. Tadic´ und seine Partner erreichen zwar mit diesem Ergebnis keine Mandatsmehrheit in der SkupsÇtina, dem serbischen Parlament – aber seine Gegner, die Nationalkonservativen und Ultranationalisten, tun dies ebenso wenig. Zünglein an der Waage ist nun die kleine Partei der MilosÇevic´-Sozialisten. Ihre 7,6 Prozent könnten Nationalisten wie Liberalen zur Regierungsmehrheit verhelfen. In welche Richtung ihr junger Parteichef Ivica DacÇic´ tendieren wird, ist derzeit nicht absehbar. Bis September jedenfalls muss die neue Regierung stehen.
Eine Pattsituation wird also zum kleineren Übel. Die Negativszenarien für die Zeit nach der Wahl hatten bis dorthin gereicht, dass Vojislav SÇesÇelj, in Den Haag inhaftierter Vorsitzender der Ultranationalisten, aus Mangel an Beweisen freikäme und nach einem fulminanten Wahlsieg seiner Partei serbischer Innenminister würde. Das hätte einen Schritt in eine neuerliche Diktatur bedeuten können. Alle Experten waren von einem Sieg der SRS ausgegangen – auch deshalb, weil die Proeuropäer in der Kosovo-Krise ein erbärmliches Bild abgegeben hatten: Sie hatten sich auch nicht weniger als die Nationalisten für einen Verbleib des Kosovo eingesetzt. Aber ihre Diktion war weniger radikal. Und die Bereitschaft, mit der EU zusammenzuarbeiten, machten die Nationalisten von der Kosovo-Frage abhängig, die Liberalen jedoch nicht. Dies alles weckte den Eindruck, als wäre der Einsatz der Proeuropäer für den Kosovo bloßes Lippenbekenntnis. Trotzdem hat Boris Tadic´ gewonnen. Hat sich Europas Politik der Geschenke und des Containment von Nationalisten ausgezahlt?
Nur scheinbar. Denn Europa hat im Fall Serbien viele Fehler gemacht. Die Erfolge der EU im Osten – Beitrittsprozesse unter Bedingungen – konnten in Serbien nicht greifen. Als der Kosovo nach dem NATO-Bombardement 1999 der UN unterstellt wurde, ließ man seinen Status zunächst offen. Jahrelang schwebte die Frage im Raum. Bei den Serben entstand so der Eindruck, der Status des Kosovo sei verhandelbar. Dass das Ergebnis der Verhandlungen die Unabhängigkeit, in Wahrheit allerdings von Anfang an feststand, gab den Albanern einen Trumpf in die Hand. Viele Serben wollten diese Situation nicht akzeptieren – deswegen machten sie die Ultranationalisten bei den letzten beiden Wahlen jeweils zur stärksten Kraft.
Umso erstaunlicher ist es, dass die SRS nun von den proeuropäischen Kräften überrundet wurde. Gerade jetzt, da das gefürchtete Szenario der Unabhängigkeit des Kosovo Wirklichkeit wurde. Vor zwei Monaten noch brannte in Belgrad die amerikanische Botschaft. Dass die aktuelle Abschaffung der Visagebühren und das SAA-Abkommen nur Instrumente einer europäischen Anlasspolitik sind, durchschauen die Serben natürlich ebenso sehr wie ihre Medien. Zwei hastige Freundschaftsbeweise können Jahre einer verfehlten Politik nicht ausgleichen. Man stelle sich – nur um sich die Situation Serbiens zu vergegenwärtigen – das Medienecho in der Kronen Zeitung vor, wenn die Österreicher vor einer Wahl mit EU-Geschenken zum richtigen Kandidaten bewegt werden sollen. Es ist erfreulich, dass sich die Serben trotz dieser Umstände für die Annäherung an Europa entschieden haben. Die Wirtschaft wird sich mit höheren Investitionen bedanken, die europäische Politik sollte es mit einer forcierten Annäherung tun – vor allem mittels weiterer Erleichterungen der Visaregelungen. Damit Serben endlich wie andere Europäer ins Ausland reisen können.
Detail am Rande: Tage vor der Wahl hatte SRS-Kandidat Nikolic´ Besuch aus Österreich. FPÖ-Obmann Strache warb in Belgrad für die Ultranationalisten. Wenn Strache die SRS für eine Art balkanisches Pendant der FPÖ hält, dann liegt er falsch. Es handelt sich dabei um ein ganz anderes Kaliber: SRS-Vorsitzender SÇesÇelj, Autor von Büchern wie „Die EU ist ein satanistisches Gebilde“, sitzt derzeit im Haager Gefängnis, unter anderem wegen mutmaßlicher Vergewaltigung und Folter während des Kriegs. Sein Stellvertreter Nikolic´ sagte in den 90ern, er würde wenn nötig auch Wien bombardieren lassen. Kritiker der SRS werden mit rüden Methoden eingeschüchtert: Jovan Mirilo, der das berüchtigte Srebrenica-Video nach Den Haag schickte, wurde beispielsweise von SRS-Sympathisanten mit Morddrohungen aus seiner serbischen Heimatstadt vertrieben und hält sich seitdem in Wien auf. Für eine Handvoll serbischstämmiger Wähler in Österreich hat H. C. Strache nun dieser Clique von Demokratieverächtern und ehemaligen Kriegsverbrechern die Hand gereicht. In Serbien hat ihr das Wahlvolk allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht – es bleibt nur zu hoffen, dass auch die 300.000 Serben in Österreich das Kalkül solch einer Politik durchschauen.
Erschienen im Falter 20/08