Monatsarchiv: Juli 2008

Für eine Handvoll Wähler

KOMMENTAR AUSLAND Die Serben haben sich nicht wegen der EU am Sonntag zu ihrer demokratischen Haltung bekannt. Sie haben es trotz ihr getan. JOSEPH GEPP

Gute Nachrichten aus Brüssel für Belgrad sind selten, vor der Parlamentswahl jedoch trafen gleich zwei ein: Zunächst beschlossen 17 europäische Staaten den Erlass der Visagebühren von 35 Euro für jeden ausreisewilligen Serben. In einem Land mit einem durchschnittlichen Lohnniveau von 270 Euro brutto sind 35 Euro viel Geld. Wer zudem bedenkt, dass die Grenzen für das blockfreie Jugoslawien früher offen waren, kann sich ausmalen, was die rigiden Visabestimmungen für das heutige Serbien bedeuten, in dem 70 Prozent der Bevölkerung unter 27 noch nie im Ausland waren. Doch der Gebührenerlass war nicht die einzige frohe Botschaft: Tage zuvor hatte sich die EU zu einem Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) mit Serbien entschlossen. Voller Stolz fuhr Boris Tadic´, Staatspräsident und Chef der proeuropäischen Demokratischen Partei, nach Brüssel, um dort seine Unterschrift unter das Abkommen zu setzen. Sogar das bettelarme Albanien hat bereits ein SAA-Abkommen. Im Fall Serbien jedoch war das Ansinnen bisher stets mit Verweis auf die mangelnde Kooperation mit dem Tribunal von Den Haag abgewiesen worden.

Prompt folgte Kritik aus dem letzten Balkanland ohne SAA-Abkommen, Bosnien-Herzegowina: Die beiden mutmaßlichen Verantwortlichen für das Massaker von Srebrenica 1995 seien noch immer flüchtig, monierte der bosnische Außenminister Sven Alkalaj. Tatsächlich weckt das Vorgehen der EU den Verdacht, die internationale Kriegsverbrecherjustiz gelte nur, wenn Europa nichts zu verlieren hat.

Und diesmal hatte Europa etwas zu verlieren, und zwar ein ganzes Land. Am vergangenen Sonntag fanden in Serbien Parlamentswahlen statt. Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo war die alte Regierung zerfallen. Nun stand ein proeuropäischer Block um Präsident Tadic´ einem nationalistischen und ultranationalistischen um Vojislav KosÇtunica und Tomislav Nikolic´ gegenüber. Die Wirtschaftslage ist wegen der Lebensmittelpreise kritisch, der Kosovo seit knapp zwei Monaten unabhängig – mit einem Sieg der Nationalisten wurde allgemein gerechnet.

Stattdessen geschah, was sogar nüchterne Nachrichtenagenturen als „Sensation“ bezeichneten. Das proeuropäische Bündnis von Boris Tadic´ erhielt 38,8 Prozent der Stimmen. Tadic´ und seine Partner erreichen zwar mit diesem Ergebnis keine Mandatsmehrheit in der SkupsÇtina, dem serbischen Parlament – aber seine Gegner, die Nationalkonservativen und Ultranationalisten, tun dies ebenso wenig. Zünglein an der Waage ist nun die kleine Partei der MilosÇevic´-Sozialisten. Ihre 7,6 Prozent könnten Nationalisten wie Liberalen zur Regierungsmehrheit verhelfen. In welche Richtung ihr junger Parteichef Ivica DacÇic´ tendieren wird, ist derzeit nicht absehbar. Bis September jedenfalls muss die neue Regierung stehen.

Eine Pattsituation wird also zum kleineren Übel. Die Negativszenarien für die Zeit nach der Wahl hatten bis dorthin gereicht, dass Vojislav SÇesÇelj, in Den Haag inhaftierter Vorsitzender der Ultranationalisten, aus Mangel an Beweisen freikäme und nach einem fulminanten Wahlsieg seiner Partei serbischer Innenminister würde. Das hätte einen Schritt in eine neuerliche Diktatur bedeuten können. Alle Experten waren von einem Sieg der SRS ausgegangen – auch deshalb, weil die Proeuropäer in der Kosovo-Krise ein erbärmliches Bild abgegeben hatten: Sie hatten sich auch nicht weniger als die Nationalisten für einen Verbleib des Kosovo eingesetzt. Aber ihre Diktion war weniger radikal. Und die Bereitschaft, mit der EU zusammenzuarbeiten, machten die Nationalisten von der Kosovo-Frage abhängig, die Liberalen jedoch nicht. Dies alles weckte den Eindruck, als wäre der Einsatz der Proeuropäer für den Kosovo bloßes Lippenbekenntnis. Trotzdem hat Boris Tadic´ gewonnen. Hat sich Europas Politik der Geschenke und des Containment von Nationalisten ausgezahlt?

Nur scheinbar. Denn Europa hat im Fall Serbien viele Fehler gemacht. Die Erfolge der EU im Osten – Beitrittsprozesse unter Bedingungen – konnten in Serbien nicht greifen. Als der Kosovo nach dem NATO-Bombardement 1999 der UN unterstellt wurde, ließ man seinen Status zunächst offen. Jahrelang schwebte die Frage im Raum. Bei den Serben entstand so der Eindruck, der Status des Kosovo sei verhandelbar. Dass das Ergebnis der Verhandlungen die Unabhängigkeit, in Wahrheit allerdings von Anfang an feststand, gab den Albanern einen Trumpf in die Hand. Viele Serben wollten diese Situation nicht akzeptieren – deswegen machten sie die Ultranationalisten bei den letzten beiden Wahlen jeweils zur stärksten Kraft.

Umso erstaunlicher ist es, dass die SRS nun von den proeuropäischen Kräften überrundet wurde. Gerade jetzt, da das gefürchtete Szenario der Unabhängigkeit des Kosovo Wirklichkeit wurde. Vor zwei Monaten noch brannte in Belgrad die amerikanische Botschaft. Dass die aktuelle Abschaffung der Visagebühren und das SAA-Abkommen nur Instrumente einer europäischen Anlasspolitik sind, durchschauen die Serben natürlich ebenso sehr wie ihre Medien. Zwei hastige Freundschaftsbeweise können Jahre einer verfehlten Politik nicht ausgleichen. Man stelle sich – nur um sich die Situation Serbiens zu vergegenwärtigen – das Medienecho in der Kronen Zeitung vor, wenn die Österreicher vor einer Wahl mit EU-Geschenken zum richtigen Kandidaten bewegt werden sollen. Es ist erfreulich, dass sich die Serben trotz dieser Umstände für die Annäherung an Europa entschieden haben. Die Wirtschaft wird sich mit höheren Investitionen bedanken, die europäische Politik sollte es mit einer forcierten Annäherung tun – vor allem mittels weiterer Erleichterungen der Visaregelungen. Damit Serben endlich wie andere Europäer ins Ausland reisen können.

Detail am Rande: Tage vor der Wahl hatte SRS-Kandidat Nikolic´ Besuch aus Österreich. FPÖ-Obmann Strache warb in Belgrad für die Ultranationalisten. Wenn Strache die SRS für eine Art balkanisches Pendant der FPÖ hält, dann liegt er falsch. Es handelt sich dabei um ein ganz anderes Kaliber: SRS-Vorsitzender SÇesÇelj, Autor von Büchern wie „Die EU ist ein satanistisches Gebilde“, sitzt derzeit im Haager Gefängnis, unter anderem wegen mutmaßlicher Vergewaltigung und Folter während des Kriegs. Sein Stellvertreter Nikolic´ sagte in den 90ern, er würde wenn nötig auch Wien bombardieren lassen. Kritiker der SRS werden mit rüden Methoden eingeschüchtert: Jovan Mirilo, der das berüchtigte Srebrenica-Video nach Den Haag schickte, wurde beispielsweise von SRS-Sympathisanten mit Morddrohungen aus seiner serbischen Heimatstadt vertrieben und hält sich seitdem in Wien auf. Für eine Handvoll serbischstämmiger Wähler in Österreich hat H. C. Strache nun dieser Clique von Demokratieverächtern und ehemaligen Kriegsverbrechern die Hand gereicht. In Serbien hat ihr das Wahlvolk allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht – es bleibt nur zu hoffen, dass auch die 300.000 Serben in Österreich das Kalkül solch einer Politik durchschauen.

Erschienen im Falter 20/08

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Eingeordnet unter Balkan, Osteuropa

Die Brücke nach Nirgendwo

NACHBARN Der Raum zwischen Wien und Bratislava hat Potenzial – in wirtschaftlicher und touristischer Hinsicht. Erschlossen ist er aber erst zum Teil. Jetzt wollen beide Seiten den Brückenschlag. Joseph Gepp

Dreihundert Meter hinter der herausgeputzten Barockfassade von Schloss Hof im Marchfeld endet die Zivilisation. Die Schuhe versinken im Schlamm. Die Geräusche der Vögel und Insekten klingen hier so laut wie andernorts Motoren und Menschenstimmen. Ein kleiner Ort namens Markthof liegt in der Nähe, daneben führt ein Fußweg in die Auwälder der March. Einst überquerte er den Fluss auf einer steinernen Bogenbrücke. Heute endet er kurz hinter dem Schloss, mitten im Gestrüpp. Die Verbindung in die Slowakei wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von tschechoslowakischen Kommunisten gesprengt. Nur zwei der Bögen ragen noch aus dem sumpfigen Fluss. Betritt man sie, dann warnt ein Verbotsschild vor der Einsturzgefahr. In Jahrzehnten hat meterhohes Unterholz ihr Pflaster verdrängt. Die Gesteinsbrocken, die von ihren Bögen heruntergebrochen und in den Schlamm gestürzt sind, haben schon Moos angesetzt. Es ist, als hätte der Ostblock hinter Markthof nie zu existieren aufgehört.

Das war nicht immer so. Vor 100 Jahren überspannten zwölf Brücken den 74 Kilometer langen Marchverlauf zwischen tschechischer Grenze und Donaumündung. Heute ist es eine einzige. Im 18. Jahrhundert, als Prinz Eugen das kleine Jagdschlösschen Hof zur prachtvollen Residenz ausbauen ließ, galt die heute gesprengte Marchbrücke als wichtige Verbindung in den Osten. Nicht weit von ihrer slowakischen Seite steht die Ruine Devín. Auf Deutsch trägt die Burg, die auf einem Felsvorsprung am Zusammenfluss von March und Donau steht, den schönen Namen Theben. Ihre strategische Bedeutung war enorm. Aus ihren Schießscharten kontrollierte man die Schiffe, die die Donau hinabfuhren, und die Stämme, die die Donau hinaufkamen. Zu Zeiten Prinz Eugens hat sogar der italienische Landschaftsmaler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, die Macht der Burg Theben und der nahe gelegenen Residenz Schloss Hof festgehalten. Doch im 20. Jahrhundert wurde die Region zum Niemandsland. Wo früher Brücken waren, trennte nun die bestbewachte Grenze Europas die Welt in zwei Wirtschaftssysteme, zwei Militärblöcke, zwei Hemisphären. Neben der Ruine von Devín steht heute eine Säule, die an jene Menschen erinnern soll, die beim Fluchtversuch aus der Tschechoslowakei ums Leben gekommen sind.

Dann fiel der Eiserne Vorhang. Für den Westen der Slowakei begann in den Neunzigerjahren eine Zeit der Prosperität. Devínska Nová Ves, deutsch Theben-Neudorf, läge keine zwanzig Gehminuten von Markthof entfernt – gäbe es noch die alte Brücke. Durch die Baumwipfel des Auwalds leuchten die frisch renovierten Plattenbauten der slowakischen Kleinstadt. Wer allerdings von Markthof nach Devínska Nová Ves will, der muss in den Süden fahren, die Donau über- und das gesamte Stadtgebiet von Bratislava durchqueren, um danach auf slowakischer Seite wieder in den Norden zurückzureisen. Das dauert etwa eine Stunde. Ein großes Volkswagen-Werk in Devínska Nová Ves beschäftigt 7000 Mitarbeiter und hat der Stadt Wohlstand beschert. Weiter nördlich produzieren Fabriken Autoteile für Citroën, Peugeot und Kia. Das Netz an Autozulieferbetrieben, das rund um Devínska Nová Ves entstanden ist, reicht im Süden bis Bratislava und im Norden bis über die polnische Grenze. Ein OECD-Bericht aus dem Jahr 2003 bescheinigte der Region zwischen Wien und Bratislava eine hohe Wirtschaftsdynamik und gute Entwicklungsmöglichkeiten. „Wenn chinesische und japanische Investoren über europäische Boomregionen sprechen, dann dauert es nie lange, bis das Gespräch auf Wien und Bratislava kommt“, sagt Konstantin Bekos, österreichischer Handelsdelegierter in Bratislava.

Doch in Markthof gilt das nicht viel. Die Straßenverbindungen sind schlecht und die geografische Nähe zu den beiden großen Städten lässt sich kaum in einen ökonomischen Vorteil ummünzen. „Die österreichische Wirtschaft war von Anfang an im Osten stark engagiert. Aber die Verkehrspolitik hinkt nach“, meint Bekos.

Das stimmt nur zum Teil. Es sind hauptsächlich die zwischenstaatlichen Verbindungen nördlich der Donau, die auch 18 Jahre nach dem Mauerfall kaum existieren. Im Süden hingegen wurde – spät, aber doch – gebaut: Seit im November 2007 im Burgenland die Autobahnspange Kittsee fertiggestellt wurde, muss man sich nicht mehr über eine abenteuerliche Bundesstraße in die slowakische Hauptstadt quälen. Die ÖBB veranschlagen exakt 59 Minuten für die Fahrt von Wien nach Bratislava, seit die Verbindungen in das Nachbarland ausgebaut und die Intervalle verkürzt wurden. Und sogar ein schneller Tragflügelkatamaran, der Twin City Liner, verbindet inzwischen mehrmals täglich den Wiener Schwedenplatz mit der Bratislaver Novy´ Most, der neuen Brücke im Zentrum der Stadt. Was die beiden Bürgermeister Michael Häupl und Andrej DÇurkovsky´ eigentlich als Geste des guten Willens ins Leben riefen, hat sich zum unerwarteten Erfolg entwickelt: Die Nachfrage ist groß – trotz des stolzen Preises von 26 Euro pro Fahrt und einer kleinen Strandung des Boots in Erdberg vergangenes Jahr. Mitte Mai findet die Jungfernfahrt eines zweiten Twin City Liners statt. Zusätzlich soll die Badner Bahn über Bruck an der Leitha bis nach Bratislava geführt werden. Und auch die Schnellbahnlinie 7 mit Endstation Wolfsthal, ehemals Pressburger Bahn, soll bald – wie früher – bis Bratislava reichen.

65 Kilometer liegen zwischen Wien und der slowakischen Hauptstadt. Misst man von Stadtgrenze zu Stadtgrenze, sind es gar nur 35. Keine zwei europäischen Hauptstädte liegen so nahe beieinander. Früher verband sie eine Straßenbahn. Ihre luxuriöse Garnitur steht noch immer in der Remise des Eisenbahnmuseums Schwechat. Auf ihrer alten Trasse fährt heute die S7. Hinter dem kleinen Bahnhof von Wolfsthal, des letzten Orts vor der slowakischen Grenze, verliert sich die stillgelegte Verbindung allerdings zwischen Feldern und Böschungen. 44 Jahre lang, von 1945 bis 1989, lag das kleine Wolfsthal im toten Winkel Europas. Nun, seit dem Wegfall der Schengengrenze im November 2007, benötigt man nicht einmal mehr einen Reisepass, um die österreichisch-slowakische Grenze zu überqueren.

Und so profitiert auch der Zwischenraum von den vertieften Beziehungen der beiden Hauptstädte. 40 slowakische Familien haben sich in den vergangenen Jahren im Grenzort Wolfsthal angesiedelt; nur fünf Autominuten liegen zwischen dem kleinen Ort und der Altstadt von Bratislava. „Es sind vor allem Junge, die sich bei uns niedergelassen haben“, sagt Gerhard Schödinger, ÖVP-Bürgermeister von Wolfsthal. „Wolfsthal liegt nah an den Arbeitsplätzen in der Altstadt von Bratislava. Und die Grundstücke sind billiger als in der Westslowakei.“ Voll Stolz erzählt der Bürgermeister, wie sich sein Ort verändert und von der Wende im Osten profitiert habe: Die Grundpreise seien in den vergangenen Jahren explodiert, Wolfsthaler Bauern würden Schulmilch an die Grundschulen von Bratislava liefern, und nun soll der Ort sogar an das Nahverkehrsnetz der slowakischen Hauptstadt angeschlossen werden. „Wir haben ein hervorragendes Verhältnis zu den Slowaken, die sich hier angesiedelt haben“, sagt Schödinger. Er selbst könne Zuzügler bei der Ankunft sogar in ihrer Muttersprache willkommen heißen. „Die Liebe hat mich dazu gebracht, Slowakisch zu lernen“, sagt der Bürgermeister und lächelt.

Es ist keine einseitige Zuneigung. „Ich glaube, es gibt in ganz Bratislava keinen einzigen Bewohner, der nicht mindestens einmal im Leben in Wien war,“ sagt Dorota Kráková, die im Bratislava-Ressort der liberalen Tageszeitung Sme arbeitet. „Die Slowaken lieben beispielsweise die Christkindlmärkte in Wien. In der Adventzeit fahren ganze Busse voller Bratislaver nach Österreich.“ Umgekehrt nutzen Wiener die nahe gelegene Stadt vor allem für Ausflüge, Einkaufstouren und – immer noch billiger als in Wien – Restaurantbesuche. Zwischen Österreich und der Slowakei hat ein reger Austausch von Menschen und Ideen begonnen – und von Geld: In Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Slowenien und Kroatien ist Österreich größter ausländischer Investor, in der Slowakei liegt der Achtmillionenstaat immerhin auf Platz drei.

Es handelt sich allerdings um einen Austausch, den der Ausbau der Infrastruktur nur begrenzt widerspiegelt: Während Orte wie Wolfsthal von der Öffnung profitieren, wurde der Norden bisher vergessen. „Gerade im Norden, wo der große Autocluster liegt, fehlen die Verkehrsverbindungen völlig“, sagt der Handelsdelegierte Bekos. Abgelegene Marchfeldorte wie Markthof oder das nahe gelegene Marchegg merken nichts vom Industrieboom der Westslowakei. Eine geplante Brücke bei Marchegg wurde bislang nicht realisiert. Und das, obwohl die Region neben ihrer industriellen Bedeutung auch über touristisches Potenzial verfügt, wie Thomas Dillinger, Regionalplaner an der TU Wien, meint: „Es gibt die Ruine Devín. Es gibt Schloss Hof. Es gibt die March- und Donauauen. Das alles liegt ziemlich knapp zwischen zwei Großstädten. Dieses Gebiet könnte den Bewohnern beider zugutekommen.“ Mit entsprechenden Verbindungen sei ein großer Naherholungsraum zwischen Wien und Bratislava möglich, meint der Planer. Dillinger spricht über die alte Brücke, die einst Markthof und Devínska Nová Ves verband. „Man könnte sie wiederaufbauen und einen Fahrradweg daraus machen.“ Und er hat auch schon eine Route im Kopf: „Der stark frequentierte Donauradweg würde an der österreichisch-slowakischen Grenze nach Norden abzweigen, danach geht’s die March entlang, über die Brücke und auf slowakischer Seite wieder zurück.“ Schloss Hof und Devín lägen direkt nebenan – und der Weg ginge durch die reizvollen Auwälder. „Das wäre eine sehr schöne Route. Und die Au würde geschont, weil man die Radfahrer auf einem geregelten Weg hält.“

Thomas Dillinger und seine Projektgruppe erstellen gemeinsam mit österreichischen und slowakischen Behörden einen Entwicklungsplan für den Raum zwischen Wien und Bratislava. „Ich glaube nicht, dass die beiden Städte im Wortsinn zusammenwachsen“, sagt er, „zumindest nicht in absehbarer Zeit. Dafür ist die Bevölkerungsdynamik der Region nicht groß genug.“ Aber: Das funktionelle Zusammenwachsen der beiden Städte könne man Tag für Tag beobachten. Funktionelles Zusammenwachsen heißt zum Beispiel, dass Slowaken in Wolfsthal leben und in Bratislava arbeiten. Oder, dass österreichische Studenten per Billigflug von Bratislava nach London oder Barcelona reisen und umgekehrt slowakische Geschäftsleute von Wien-Schwechat in osteuropäische Hauptstädte fliegen. „Es gibt vieles, das man gemeinsam nutzen könnte. Nur sollte es einem geregelten Plan folgen.“ Die Nähe der beiden Städte schaffe Möglichkeiten, die erst langsam von den Menschen wahrgenommen würden, glaubt Dillinger. „Unser geistiges Auge schaut nach wie vor nach Westen. Viele Österreicher realisieren noch nicht, dass Belgrad nur fünf und Bratislava nur eine Stunde von Wien entfernt liegen.“

Es ist ein geistiges Auge, das seine Blickrichtung nur langsam wendet. Vielgerühmt sind zwar die historisch bedingten Gemeinsamkeiten von Österreichern und Osteuropäern – aber auch die Auffassungsunterschiede reichen tief. „In Bratislava gibt es nicht einmal einen Flächenwidmungsplan. Vieles hat sich unkontrolliert entwickelt“, sagt Dillinger. „Wenn niemand zuständig ist, dann erschwert das natürlich die Zusammenarbeit.“ Auch der Journalistin Kráková fehlt eine geregelte Stadtentwicklung in Bratislava: „Die Leute bauen einfach überall hin.“ Endlose Reihen hingewürfelter Einfamilienhäuser prägen die Hänge der ersten Karpatenhügel rund um die slowakische Hauptstadt. „Es wurden zwar viele Ideen zur Beseitigung dieser Missstände präsentiert“, sagt Kráková. „Aber passiert ist bislang noch nichts.“ Jetzt würden die Angestellten der Bratislaver Stadtverwaltung immerhin nach Wien geschickt. Dort sollen sie in Seminaren korrektes Kundenmanagement lernen. In Wien wisse man es ja möglicherweise doch besser, vermutet die Journalistin lächelnd.

Wenn man will, ist es ein einziger riesiger Gebirgszug, der sich 2400 Kilometer durch halb Europa erstreckt. Er reicht von der südfranzösischen Küste bis vor die rumänische Hauptstadt Bukarest. Von der Côte d’Azur bis zum Wiener Leopoldsberg heißt er Alpen, vom Braunsberg bei Hainburg bis ins rumänische Siebenbürgen Karpaten. Dazwischen liegen nur 40 Kilometer Ebene. Wer auf dem Braunsberg, dem ersten Hügel der Karpaten, steht, hat Wien im Rücken und die großen Plattenbauviertel des Bratislaver Vororts PetrzÇalka im Auge. Heute wirkt der Vorort nur noch aus der Ferne heruntergekommen. Vor 18 Jahren jedoch lag PetrzÇalka hinter einem Labyrinth aus Wachttürmen und Stacheldrahtsperren, mit bröckelnden Fassaden und Wäldern aus Fernsehantennen auf den Dächern, abgewohnt und armselig bis zur Bedrohlichkeit. „Als ich klein war, ist mein Großvater oft mit mir auf den Braunsberg raufspaziert“, erzählt ein Bewohner der nahe gelegenen Gemeinde Bad Deutsch Altenburg. „Dann hat er nach PetrzÇalka gezeigt und gesagt:, Schau, da drüben, da wohnen die Bösen.'“ Der alte Mann hatte eben keine Gelegenheit, nach Bratislava zu fahren.

Erschienen im Falter 19/08

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