Monatsarchiv: Mai 2008

Der Teufel trägt Prater

AFFÄRE Ein umstrittenes Bauwerk, ein Auftrag ohne Ausschreibung –
und jetzt Probleme mit der Bauordnung. Beim neuen Pratereingang hat
die Stadt Wien vorgeführt, wie man es nicht macht. Chronik eines
kommunalen Scheiterns.
JOSEPH GEPP

Fotos von Gianmaria Gava

Am besten hat es wohl die Neue Zürcher Zeitung getroffen:
Stilistisch, schrieb sie, läge die Gestaltung des neuen Praterentrees
irgendwo zwischen Las Vegas und Disneyland. Aber es sind auch andere
Assoziationen, die beim Blick auf das gerade eröffnete Areal
hochkommen: die Villa eines neureichen Russen am noblen Stadtrand von
Moskau zum Beispiel. Oder die Neverland Ranch. Oder das
Einkaufszentrum von Parndorf.

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Über Geschmack lässt sich streiten. Als am vergangenen Freitag ein
Teil des neuen Pratervorplatzes der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
wurde, war die heftigste Kritik an der eigenwilligen Gestaltung schon
abgeklungen. Lauter tönte sie vor einem halben Jahr, als die ersten
Pläne präsentiert wurden. „Das gewählte Dekor aus dritter und vierter
Hand ist nur mehr peinlich und spricht städtebaulichen und mindestens
architektonischen Standards Hohn“, sagte beispielsweise Franziska
Mayr-Keber von der Architektenkammer. Vier Gebäude sind es,
Stahlbeton, 19.000 Quadratmeter Baufläche, und gemeinsam bilden sie
den neuen Pratereingang – eine wilde Mischung aus verschiedenen
pseudohistorischen Stilen, die sich vage auf Barock, Biedermeier und
Jugendstil beziehen (siehe Architekturkritik, Seite 72). Die Wände
zieren aufgemalte Fenster, die Türbögen ebensolche Ornamente. Die
gezeichneten Büsten von Falco und österreichischen KlassikGrößen
wirken wie professionelle Graffiti. Ganz ruhig, ohne große Zeremonie,
wurde der umstrittene Bau nun eröffnet. „Es geht ja um die
Attraktionen innerhalb der Gebäude, und die haben noch gar nicht
eröffnet“, begründet Eva Gaßner, Sprecherin der verantwortlichen
SPÖ-Stadträtin Grete Laska, den stillen Einstand. Aber es ist nicht
nur die Gestaltung, die am neuen Pratereingang Missfallen erregt.

Verantwortlich dafür, dass der Praterkitsch nun wieder
Tagesgespräch wurde, ist Sabine Gretner, 35, Planungssprecherin der
Wiener Grünen. An einem Abend vor zwei Wochen schlich die engagierte
Oppositionelle auf das Baustellengelände. In der Hand trug sie Pläne
und ein Messgerät. „Ich weiß halt, wie man sich auf Baustellen
verhält“, sagt Gretner, die selbst jahrelang als Architektin
gearbeitet hat. Die Höhe der einzelnen Gebäudeteile war ihr von
draußen ein wenig zu groß erschienen, nun schritt sie mit einem
Vermessungsexperten zur Tat – und maß nach. Das Ergebnis, sagt sie,
entspreche nicht den Vorgaben des Wiener Flächenwidmungsplans: 9,5
statt der vorgeschriebenen 7,5 Meter beträgt beispielsweise die Höhe
eines Bauteils, 16,2 statt der erlaubten zwölf sind es bei einem
anderen. Würde ein Privater wagen, vier Meter zu hoch zu bauen, dann
hätte das wohl einen sofortigen Baustopp und eine Geldstrafe zur
Folge. Nun haben die Wiener Grünen Anzeige wegen Missachtung der
Wiener Bauordnung erstattet. Doch Herbert Cech, Leiter der Wiener
Baupolizei, sagt: „Das Vorgehen ist rechtens. Im Fall des
Riesenradplatzes wurde eine Ausnahmebewilligung erteilt.“

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Unwesentliche Abweichungen“ von der Bauordnung sind laut Gesetz
Bezirksangelegenheit und werden in den zuständigen Bauausschüssen
behandelt. Im Bezirksamt der Leopoldstadt stand der Platz allerdings
nie auf der Agenda. Es „wurde keine Überschreitung der maximal
zulässigen Gebäudehöhe beantragt“, heißt es dazu in der Anzeige an
die Baupolizei. Wie kann es also eine Abweichung geben? Die Lösung
liegt im Paragraf 71 der Bauordnung. Er befasst sich mit
„provisorischen Bauvorhaben“, die jederzeit abgebaut werden können.
Angewandt wird der Paragraf etwa auf Autodrome im Prater oder
Badehütten am Gänsehäufel – und nun auf einen Stahlbetonbau mit der
Grundfläche eines Wohnhauses. Der Unterschied zwischen einem Autodrom
und dem Vorbau liege nur darin, dass der Vorbau „fester betoniert“
sei, sagt Baupolizeileiter Cech.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Gemeinde im Prater auf solch
elegante Lösungen zurückgreift. Es begann im Jahr 2003, als sie den
französischen Themenparkspezialisten Emmanuel Mongon engagierte. Sein
Masterplan sollte dem weltbekannten Vergnügungspark, der irgendwo
zwischen Streichelzoo und Reeperbahn oszilliert, ein einheitliches
Konzept geben. Ob das gelang, darüber teilen sich die Meinungen:
„Alles, was in den letzten Jahren im Prater passiert ist, ist auf
Emmanuel Mongon zurückzuführen“, zeigt sich Georg Wurz,
Geschäftsführer der stadteigenen Stadt Wien Marketing und Prater
Service GmbH, überzeugt. ÖVP-Mandatar Günther Kenesei hingegen
kritisierte, dass nach drei Jahren Arbeit nicht viel mehr als ein
„Pappmascheemodell und ein paar halbgefüllte Aktenordner“
übriggeblieben seien. Kritiker behaupten außerdem, dass die Gemeinde
den Vertrag mit dem Spezialisten nicht ordentlich ausgehandelt hatte.
Nachträglich gab ihnen das Wiener Kontrollamt Recht: In einem Bericht
vom Mai 2006 kritisierten die Prüfer, dass der Plan mehr als zwei
Jahre zu spät, 2006 statt 2004, abgegeben worden sei – ohne eine
Strafklausel für den Planer. „Es wurde verabsäumt, den Vertrag
entsprechend zu pönalisieren.“ 31.000 Euro an Reisespesen und
Flugtickets zahlte die Stadt zudem extra, obwohl sie laut Vertrag im
Honorar von 1,4 Millionen Euro inkludiert hätten sein sollen. Ein
kleines Modell des neuen Praters ohne Farbe und Beleuchtung belief
sich laut Kontrollamt auf 59.000 Euro. Dazu kommt eine allgemeine
Kritik der Behörde am Geschäftsgebaren der Gemeinde: „Es war zu
bemängeln, dass ordnungsgemäß verwaltete und damit nachprüfbare
Investitionsrechnungen (…) dem Kontrollamt nicht vorgelegt wurden.“

Georg Wurz von Wien-Marketing hält diese Kritik für nicht
gerechtfertigt. Er findet die Kosten der Expertise angebracht –
immerhin habe es ja sich um „Grundsatzplanung“ gehandelt, meint er,
und an Details wie die Reisespesen könne er sich jetzt nicht mehr
erinnern. Außerdem basiere auch der neue Vorbau ja auf einer Idee des
Spezialisten, rechtfertigt Wurz das Engagement. Als jener allerdings
im Sommer 2007 präsentiert wurde, sorgte das neuerlich für Kritik:
„Explore 5D“ heißt die Firma, die den Auftrag zur Neugestaltung bekam
(siehe Kasten). Ihre bisherigen Projekte sprechen nicht gerade für
den Erfolg der Firma: Ein von Firmengründer Gerhard Frank
konzipierter Themenpark namens „Anderswelt“ in Heidenreichstein im
Waldviertel musste nach zwei Jahren Konkurs anmelden. Einem
Wasserpark im Salzkammergut blühte vor einem halben Jahr dasselbe
Schicksal. Eine Dracula-Welt im rumänischen Siebenbürgen kam wegen
Protesten gar nicht erst zustande. Die Homepage von Explore 5D
verliert über all das kein Wort, lediglich der Prater wird breit
präsentiert und per Webcam können die tagtäglichen Baufortschritte
mitverfolgt werden.

Warum vergibt man den Auftrag an eine Firma, die sich nicht eben
durch Erfolge auszeichnete? Noch dazu ohne Ausschreibung? Es stimme
zwar, dass Explore 5D keine Referenzen vorzuweisen habe, antwortet
Georg Wurz. Aber: „Die Firma war die einzige, die ein brauchbares
Projekt vorlegte. Wir brauchen ja keinen Architekten, der sich hier
verwirklicht. Wir brauchen einen Dramaturgen. Und rechtlich hatten
wir ja keine Verpflichtung zur Ausschreibung.“

Das stimmt formell. Zwar muss ein öffentliches Unternehmen wie die
Gemeinde Wien sein Vorhaben ab einem Grenzwert von 211.000 Euro an
Planungskosten europaweit ausschreiben – aber im Fall Pratervorplatz
war der Auftraggeber offiziell nicht die Stadt Wien oder ein
stadteigener Betrieb, sondern eine Tochterfirma der Immoconsult, eine
Leasinggesellschaft, die für die Finanzierung des Projekts zuständig
ist. Da die verantwortliche Wien-Tochter Riesenradplatz
Errichtungsgesellschaft mbH den Auftrag nicht vergab, muss auch nicht
öffentlich ausgeschrieben werden – argumentieren zumindest Georg Wurz
und die Gemeinde.

Das ist eine sehr strittige Frage“, meint hingegen ein Wiener
Vergaberechtsexperte, der aus beruflichen Gründen ungenannt bleiben
möchte. „Funktional gesehen handelt es sich schon um einen
öffentlichen Auftrag.“ Warum? „Erstens wird das Projekt durch
öffentliche Gelder finanziert.“ Knapp die Hälfte des Budgets von
bislang 32 Millionen Euro schießt die Gemeinde zu. „Und zweitens geht
das Projekt auf den Willen und die Initiative der Gemeinde zurück.“
Nun prüft erneut das Kontrollamt, ob die Entscheidung gegen die
Ausschreibung rechtmäßig war. „Die Gemeinde Wien versteckt sich gerne
hinter Leasing- und Public-Private-Partnership-Konstruktionen, um das
Vergaberecht zu umgehen“, meint der Experte. Bei einem ähnlichen Fall
vor drei Monaten stoppte das Bundesvergabeamt den Plan der ÖBB, den
neuen Wiener Hauptbahnhof ohne vorherige Ausschreibung errichten zu
lassen.

Ein mögliches Hasardspiel mit der Bauordnung, ein zweifelhafter
Vertrag mit einem Experten, eine Auftragsvergabe ohne Ausschreibung
und ein umstrittenes Bauwerk – was sind die Gründe für all diese
Verwicklungen, diese undurchsichtigen Entscheidungen, diese
Missgeschicke? Die verantwortliche Stadträtin Grete Laska ist für den
Falter lediglich per Mail zu erreichen. Auf die Frage nach den
Misserfolgen der letzten Jahre antwortet sie: „Als Misserfolg würde
ich bezeichnen, dass manche Medien immer noch von einem Gegeneinander
im Prater ausgehen, das es längst nicht mehr gibt, und die positive
Akzeptanz des Publikums kaum zur Kenntnis nehmen.“ Eine
aufschlussreichere Antwort liefert Gerhard Frank, Gründer und Chef
der Firma Explore 5D. Auch er steht für ein Interview nicht zur
Verfügung: Im Landstraßer Büro der Planungsfirma heißt es, die für
die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Stelle sei ausgetauscht worden.
Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass der Gründer noch vor
wenigen Monaten dem Wirtschaftsmagazin Trend ein ungewöhnlich offenes
Interview gab. Es handelte von seiner Freundschaft zu zwei
Spitzenkräften im Wiener Rathaus, Grete Laska und Michael Häupl. „Die
Gretl hat gesagt, da ist der Masterplan. Ich will, dass ihr das
umsetzts“, zitiert das Magazin den Firmenchef. Und auch Michael
Häupl, so Frank, sei ein alter Bekannter aus Studientagen im
Biologieinstitut: „Ich habe über Frösche gearbeitet, er über Lurche,
da lernt man sich kennen.“ Und: „Ich habe alle anghaut, auch den
Michl, und gesagt: Wenns was habts, denkts an mich.“

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Hereinspaziert!
Sechzig Meter ist der neue Pratervorplatz breit, neben
Souvenirgeschäften und einem Info-Point eröffneten auch zwei
Restaurants in der neuen Anlage: Italienische Küche bietet das
„Salamucci“ neben dem Riesenrad, Edel-Hausmannskost das
gegenüberliegende „Eisvogel“, das von Ex-Steirereck-Koch Herbert
Schmidt geleitet wird (siehe S. 77). Den hinteren Bereich werden die
Attraktionen „Flyboard“ und „Miraculum“ einnehmen, daneben sperrt ab
Oktober eine Großdisco auf.

Stadt der Gaukler

PRATER Wie der Planer des neuen Pratereingangs gleichzeitig zum
Betreiber gemacht wird.
Mario Scalet und Horst Blume

Der Satz ging in der Feierstimmung fast unter. Nur wenige Gäste
dachten an eine andere Baustelle, als Stadträtin Grete Laska bei
einer Hoteleröffnung im Jänner meinte: „Wir haben in Wien echte
historische Fassaden. Wir müssen sie nicht nachbauen.“ Genau das
haben ihr im vergangenen Jahr Architekten und Praterunternehmer
vorgeworfen.

„Wien um 1900“ lautet das Motto des neuen Pratereingangs.
Kritisiert wurde nicht nur die Gestaltung, sondern auch die Vergabe
des 32-Millionen-Euro-Projekts. Die Firma „Explore 5D“ bekam den
Auftrag ohne Ausschreibung – von einer als Bauherr agierenden
Leasinggesellschaft der Volksbanken-Gruppe. Dass es unüblich ist,
dass eine Finanzierungsgesellschaft die Entscheidung über eine
stadtplanerische Gestaltung trifft, kommentierten die
Verantwortlichen nicht.

Jetzt gibt es erneut Kritik. Die Riesenradplatz
Errichtungs-Gesellschaft, eine Tochterfirma der Gemeinde, hat auch
bei der Vergabe der Pachten einschlägig entschieden: Ein Restaurant,
ein Eissalon, ein Veranstaltungsbereich und zwei neue Attraktionen
gingen an die Calafatti Marketing- und Betriebs GmbH. Und die wurde
von Architekt und Explore-5D-Geschäftsführer Martin Valtiner
gegründet. Explore 5D wurde laut Georg Wurz, Geschäftsführer der
Errichtungsgesellschaft, Anfang 2007 mit dem Bau beauftragt.
Valtiners Firma Calafatti wurde am 9. Februar 2007 ins Firmenbuch
eingetragen. Er scheint schon sehr früh gewusst zu haben, dass er
auch Pächter sein wird.

„Wir haben zuerst mit Betrieben gesprochen, die schon vorher am
Riesenradplatz ein Geschäft hatten“, sagt die Sprecherin der
Errichtungsgesellschaft, Karin Mahdalik. Warum dann Calafatti? Das
Unternehmen hatte keine Geschäfte – und bekam trotzdem die besten
Flächen. Ausweg war, dass ein halbes Jahr nach der Gründung der Firma
Hans-Peter Petritsch, Betreiber des Riesenrads, bei Calafatti
einstieg. Damit war dieser Anspruch erfüllt.

Pikant an der Rollenverteilung ist, dass Valtiner mit Calafatti
vom Planer zum (Mit-)Betreiber der Geschäfte wurde. „Calafatti hat
mit Explore 5D nichts zu tun“, beschwichtigt Petritsch. Die
Beteiligung Valtiners an beiden Unternehmen sei „Zufall“. „Man hat
mit uns und anderen Unternehmen verhandelt. Wir waren die beste
Lösung.“ Und: Betreiber sei Calafatti ohnehin nicht, lediglich
Pächter.

Stimmt: Gastronomie und Fahrgeschäfte werden von zwei anderen
Firmen betrieben. Aber die gehören beide zu 100 Prozent Calafatti.
Geschäftsführer sind Petritsch und Valtiner. An den Fahrgeschäften
verdient die Explore 5D erneut mit – sie liefert die Technik.
Verbindungen zwischen den Unternehmen will Petritsch nicht erkennen:
„Blödsinn. Da könnte jeder andere Name auch stehen.“ Valtiner selbst
war zu keiner Stellungnahme bereit.

Wurz räumt ein, zumindest bei der Vergabe der Gastro-Betriebe nur
mit Calaffati gesprochen zu haben – und widerspricht damit Petritsch,
der vorgibt, einer von mehreren Interessenten gewesen zu sein.

„Wir hatten keine anderen Interessenten. Wir müssen das nicht
formal ausschreiben“, sagt Wurz. Die Gesellschafterstruktur sei ihm
bei der Vergabe „egal“ gewesen. „Das war nicht
Verhandlungsgegenstand.“

Vergaberechtlich dürfte das Vorgehen auf diese Weise gedeckt sein.
Dennoch bleibt die Optik schief – nicht nur bei der Gestaltung.

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Schlimt, Kliele, Schokoschka

ARCHITEKTUR Das Praterentree zeigt den seltsamen Bauhumor der
Wiener Sozialdemokratie.
JAN TABOR

Blass, offensichtlich unter einem erheblichen ästhetischen Schock
stehend, erschien Wolf D. Prix auf dem Fernsehschirm und rang um ein
passendes Wort. Um den richtigen Begriff für das, was im Hintergrund
zu sehen war. Und was er für die Zuschauer der ORF-Nachrichten
anlässlich der bevorstehenden Eröffnung fachmännisch kommentieren
sollte: den neuen Eingang in den Volksprater. Das Prater-Schönbrunn.

Dem eloquenten, um avantgardistischen Sarkasmus nie verlegenen
Architekturprofessor hatte es die Sprache verschlagen. Verlegen und
doch pflichtbewusst murmelte er, dass es ja in Wien so viele junge
talentierte Architekten gäbe, die spielend und auf höchstem Niveau
mit so einem interessanten Thema wie einem zeitgemäßen
Vergnügungspark fertig geworden wären. Hätte man sie bloß beauftragt.
Dann stieß er erleichtert, mit seiner Wortwahl aber nicht restlos
einverstanden, das Wort doch noch heraus: Kitsch.

Nicht dass Prix Angst hätte, diese sonderbare Manifestation des
sozialdemokratischen Bauhumors als Kitsch zu bezeichnen. Aber Kitsch
scheint er dort im neuen Prater für keinen zutreffenden Begriff
gehalten zu haben. Ein anderer wollte ihm nicht einfallen. Konnte ihm
nicht einfallen. Es gibt noch keinen Begriff dafür, was man hier,
gleich hinter der geräumigen Shell-Tankstelle, zu sehen bekommt. Für
das, was man hier, unter dem Riesenrad, dem Wahrzeichen Wiens und der
Erinnerung daran, dass in einem Vergnügungspark auch architektonisch
spannende Novitäten möglich waren, erleben muss.

Kitsch greift zu kurz für diese billigen Betonbunker, die den
harten Kern des neuen Entree-Ensembles bilden, mit billigen
theaterartigen Kulissen aus buntbemaltem Gips, mit Styropor behängt.
Hoffentlich sind die Farben nicht allzu billig gewesen und überstehen
ein paar saure Regen. Einen passenderen Ausdruck für diese Wiener Art
des Bauens als historisierendes Blödeln gibt es noch nicht.

Unschwer hingegen ist die kulturhistorische Folie zu erkennen: die
legendäre internationale Musik- und Theaterausstellung „Alt-Wien“ von
1892. Mit der Pappendeckel-Rekonstruktion des Hohen Marktes wurde
damals zum ersten Mal die Sehnsucht nach Wien als ein History-Land
oder, wie es Adolf Loos einst ausdrückte, als ein Potemkin’sches Dorf
geweckt. Wie lebendig dieser Retrotraum in Wien ist, kann man nun im
Prater erleben.

Damit kann auch ein Schuldiger an dem Praterdesaster genannt
werden: Wolfgang Kos, Direktor des Wien-Museums. Seine erfolgreiche,
wiewohl kritisch gemeinte Großausstellung „Alt-Wien“ hat vielleicht
den Weg geebnet für die langgeplante Neugestaltung.

Man redet sich auf einen französischen Masterplaner aus, der die
Idee für das Entree gehabt haben soll. Das dürfte ein Gerücht sein.
Denn dies hier ist keine französische Arbeit. Das ist pures Wien. Es
sei denn, der Mann aus Frankreich verfüge über exzellente Kenntnisse
einiger Konstanten der ranzig gewordenen Wiener Kultur.

Zum Beispiel die Informationsstelle gleich am Anfang, noch vor dem
Tor, die eine Nachbildung der Jugendstilbrücke über den Hohen Graben
sein könnte. Sie ist mit der Großaufschrift „Habe die Ehre“ versehen.
An der Torbrücke: „Hereinspaziert!“ Auf der anderen Seite, für den
Abschied, der altwienerische Gruß „Servus“. Dann die Aufschrift
„Schlimt Kiele Schokoschka Malercompagnie“. Was drinnen tatsächlich
sein soll, ist noch nicht erkennbar. Nur Beton, eine Betonstiege
gleich im Schaufenster. Wir werden sehen. Das alte Autodrom aus den
Sechzigerjahren hat eine neue Verpackung (wegen der stilistischen
Einheit des Platzes) bekommen, ebenfalls in dem Schönbrunner Stil,
wie die Arbeiter hier die Kulissen bezeichnen. Der Schönbrunner Stil
ist eine Mischung aus erlesenen Architekturreminiszenzen von Wischer
von Erlach, Otto Fagner, Joseph Holbricht, Hans Ollein und anderen.
Er ist nicht als Kitsch zu bezeichnen. Er ist etwas Neues, bisweilen
Unbekanntes. Gänzlich würdelos.

Normaler Kitsch enthält zumindest Spuren irgendeiner Würde. Spuren
einer – letztlich vergeblichen – geistigen Anstrengung, etwas über
die gegenwärtige Welt auszusagen. Und sei es weit über die Grenzen
jeglicher Verlogenheit hinaus. Nichts davon da. Das ist pures
Unvermögen, selbst falsche Emotionen zu kreieren.

Die Neugestaltung des Praters sagt nichts über die heutige Welt
aus und viel über den kulturellen Zustand der Stadt Wien. Demnach ist
Wien eine geistig völlig ausgelaugte Stadt. Leere. Ein buntes Vakuum.

Einer süßen Illusion soll man sich nicht ergeben: dass die
Gestaltung des neuen Pratereingangs eine einmalige Entgleisung ist.
Sie ist nur die konsequente Fortsetzung dessen, was man vom Hof des
Rathauses kennt. Das ehrgeizige Ziel, die Designer-Outlet-City
Parndorf und die neue Albertina zu übertreffen, wurde erreicht.

Erschienen im Falter 18/08

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Lonely Vienna

TOURISMUS Der Autor des „Lonely Planet“-Reiseführers für Kolumbien
hat das Land nie betreten. Was steht eigentlich im Lonely Planet für
Wien?
JOSEPH GEPP

Wie würde Ihr perfekter Tag in Wien ausschauen? Neal Bedford hat
eine genaue Vorstellung davon: Es wäre ein warmer Septembersamstag.
Er würde mit einem späten Frühstück mit Paradeiseromelette und
türkischem Tee im Kent beginnen, danach ein Einkaufsbummel am
Brunnenmarkt, schließlich eine Fahrradtour in den Wienerwald
inklusive Jause beim Heurigen (wine tavern) oder im Gasthaus (inn).
Abends folgt ein gedrängtes Ausgehprogramm zwischen Museumsquartier,
Flex und Schleifmühlgasse. Und die Heimfahrt am Rad durch die
menschenleere nächtliche Innenstadt eignet sich hervorragend, um die
historische Prunkarchitektur an sich vorbeiziehen zu lassen.

Was Neal Bedford schreibt, hat Gewicht. Tausende werden seinem
Beispiel folgen, werden versuchen, den Tag mehr oder weniger so zu
erleben, wie er ihn erlebte. Der 37-jährige Neuseeländer ist Autor
des „Lonely Planet Vienna“. Was „Lonely Planet“ empfiehlt – seien es
entspannende Tagesabläufe, originelle Herbergen oder verwinkelte
Plätzchen -, dem folgen seit mehr als dreißig Jahren Backpacker auf
der Suche nach Authentizität und der besonderen Erfahrung. Off the
beaten tracks, abseits abgetretener Pfade, lautet das Leitmotiv. Das
Verlagsprogramm reicht von fernöstlichen Inselgruppen über
amerikanische Nationalparks bis zu marokkanischen Wüstenstädten – und
wer ein paar Sätze in der Landessprache lernen will, kann etwa unter
Pidgin, Quechua oder Suaheli wählen.

Alles begann 1973 auf einer Bank im Londoner Regent’s Park, wo
sich Tony und Maureen Wheeler, eine Irin und ein Australier,
begegneten. Sie verliebten sich, heirateten und reisten kurz darauf
für sechs Monate per Überlandroute nach Sydney. Dort angekommen – mit
angeblich nur noch 27 Cent in der Tasche -, schrieb das Paar ein
Handbuch über die Reiseroute. „South-East Asia on a Shoestring“ ist
bis heute ein Bestseller im Programm. Und der Beginn in einer Reihe
vieler.

Jetzt hat Thomas Kohnstamm, „Lonely Planet“-Autor für Kolumbien,
dem Mythos Kratzer zugefügt. Kürzlich verriet der US-Amerikaner einer
australischen Zeitung, dass er das Land niemals betreten habe.,
Lonely Planet‘ zahlte mir einfach nicht genug dafür“, behauptet er.
Stattdessen hätte ihn eine Praktikantin aus dem kolumbianischen
Konsulat in San Francisco mit den nötigen Informationen versorgt.
Kohnstamm warf dem Verlag vor, nicht ausreichend für die Spesen
aufzukommen; er selbst hätte sich sogar als Drogenkurier verdingen
müssen, um seine Arbeit als Autor zu finanzieren. „Lonely Planet“
wies die Vorwürfe zurück. Auf Anfrage will das Londoner Büro des
Konzerns die Autorenhonorare nicht bekanntgeben, aber sie seien unter
„den höchsten der Branche“. Bedford selbst verrät ebenfalls keine
exakten Löhne. Aber: „Reich wird man nicht als Reiseführerschreiber.“
Bei einigen seiner Bücher sei er knapp dem Minus entgangen, sagt er.

Hat er Wien betreten? Vor Jahren verbrachte der Autor ein
Au-pair-Jahr in der Stadt, es folgten weitere Aufenthalte. Und er hat
den Geist der Stadt – im Guten wie im Schlechten – ganz gut erfasst.
Kleine Infokästen behandeln Hundekot, Würstelstand und Kronen
Zeitung. Fünf Tipps für den alternativ Reisenden empfehlen Arsenal,
Zentralfriedhof, Brunnenmarkt, eine Fahrradtour durch die Stadt und
Museumsquartier. Dieser interessanten und unkonventionellen Auswahl
stehen allerdings reichlich konventionelle Herbergen und Lokale
gegenüber, die empfohlen werden: Hotel König von Ungarn und Sacher
zeigen, wie sehr sich „Lonely Planet“ gewandelt hat – in den
Siebzigerjahren empfahl man noch Plätze für den problemlosen Kauf von
hochwertigem Cannabis in Afrika. Heute liest man mit den Hinweisen
auf etwa Flex, U4 oder Roxy Erwartbares und Akzeptables.

Und weil der wahre Rucksackreisende neben essen und schlafen auch
mit Einheimischen in Kontakt treten möchte, empfiehlt Neal Bedford
eingangs auch fünf Hot Conversation Topics. Für das zwanglose
Gespräch, schreibt der Autor, eigne sich jammern über Wien und die
Wiener besonders. Oder reden über H.C. Strache, Hundekot, die
„Goldene Adele“ oder die Grünen. Wann hat Sie eigentlich das letzte
Mal ein amerikanischer Tourist auf die „Goldene Adele“ angesprochen?
Er kann nur „Lonely Planet“ gelesen haben.

Erschienen im Falter 17/08

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„Politiker, sei auf der Hut“

Geschichten zur Euro-Nullacht

FREIKARTEN 3600 Tickets für die Euro sind für österreichische
Politiker reserviert. Transparency-Chef Franz Fiedler findet: viel zu
viel.
JOSEPH GEPP

Für den gemeinen Fußballfan ist der EM-Zug abgefahren. Abgesehen
von Tombolagewinnen sind die Tickets ausverkauft. Politikern hingegen
steht ein Kontingent von 3600 Karten zur Verfügung – 570 davon
gratis. Franz Fiedler, früher Rechnungshofpräsident und heute
Österreich-Vorsitzender der Anti-Korruptions-NGO Transparency
International, über Politikerkarten und den schmalen Grat zwischen
unverbindlicher Geschenkannahme und Korruption.

Falter: Herr Fiedler, nehmen wir an, ein Konzernmanager bietet
einem hohen Wiener Kommunalpolitiker eine EM-Karte als Geschenk an.
Darf er sie annehmen?

Franz Fiedler: Wenn diese Firma in geschäftlicher Verbindung mit
der Gemeinde Wien steht, sollte er die Finger davon lassen. Das ist
zwar nicht strafrechtlich relevant – aber von der Optik her ganz und
gar nicht schön.

Gibt es eine Grenze, ab der eine solche Geschenkannahme
strafrechtlich relevant ist? Wann ist der schmale Grat zwischen
unverbindlicher Geschenkannahme und Korruption überschritten?

Das hängt von zwei Faktoren ab. Einerseits dem Wert des Geschenks.
Andererseits der Frage, ob eine bestimmte Absicht des Schenkenden
dahintersteckt. Im Wesentlichen geht es darum, ob von Geberseite
erwartet werden kann, dass sich die beschenkte Seite irgendwann
geneigt zeigen wird. Das sogenannte Anfüttern ist durch eine
Strafgesetzbuchnovelle im Vorjahr verboten worden.

Erwartet man in der Beziehung zwischen Politikern, Journalisten
und Firmenmanagern nicht immer einen Vorteil, wenn man etwas
verschenkt?

Nicht unbedingt. Es könnte ja sein, dass die Firma gar nicht in
einer Geschäftsbeziehung zur Gemeinde steht. Oder es handelt sich um
eine langjährige Freundschaft zwischen Manager und Politiker.

Nehmen wir an, ein Betreiber von Kläranlagen schenkt einem Manager
der Wasserwerke ein Ticket für das Endspiel. Ist das Korruption?

Wenn es mit der Absicht geschieht, den Beamten anzufüttern, dann
ja.

Wie hoch ist das Strafmaß?

Bis zu sechs Monate Haft oder eine entsprechende Geldstrafe. Oder
höher, wenn der Manager auf eine ganz konkrete Amtshandlung,
beispielsweise eine Auftragsvergabe, abzielt. Dann reicht das
Strafmaß bis zu drei Jahren.

In österreichischen Medien diskutiert man darüber, dass abseits
aller Tickettombolas 3600 EM-Karten für Politiker reserviert werden,
davon 570 Freikarten. Halten Sie das für legitim?

Bei den Freikarten sollte man schauen, wer sie bekommt: Wenn die
Person beruflich damit zu tun hat, ist das akzeptabel. Bei den
anderen Karten, wo der betreffende Politiker den vollen Preis zahlt
und nur im Auswahlverfahren bevorzugt wird, halte ich die Zahl von
3600 Politikerkarten eindeutig für zu hoch. Sie müssen bedenken, dass
nur 21 Prozent des Gesamtkontingents an Fans verlost werden.
Trotzdem: Dass Bundespräsident, Bundeskanzler oder
Regierungsmitglieder Karten bekommen, halte ich für absolut
tragfähig.

Und alle Nationalratsabgeordneten?

Jeder einzelne muss sich fragen, wie er das vor seinen Wählern
verantwortet.

Wenn ein Politiker ein Ticket für das EM-Endspiel im Wert von bis
zu tausend Euro geschenkt bekommt, muss er das irgendwo anmelden?

Ein Beamter ist gut beraten, es seinem Vorgesetzten zu melden.
Dieser Wert liegt zweifellos über jenem Betrag, der als übliches
Geschenk durchgeht. Es ist ja keine Flasche Wein. Strafrechtlich muss
das keine Konsequenzen haben, aber disziplinär gehe ich davon aus,
dass es Probleme gäbe.

Und steuerlich?

Hier sehe ich keine abgabenrechtliche Verpflichtung.

Fassen wir zusammen: Wenn die UEFA Politikern ein bestimmtes
Kontingent zur Verfügung stellt, dann ist das akzeptabel.

Abgesehen von der hohen Anzahl schon.

Und wenn private Firmen Karten schenken?

Das würde ich mir als Politiker gründlich überlegen. Ich kann nur
raten: Politiker, sei auf der Hut! In welchem Verhältnis stehst zu
diesem Mann? Ist es ein Geschäftspartner oder jemand, der einen
Auftrag von dir bekommen kann? Hier muss man extrem aufpassen.

Erschienen im Falter 16/08

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Wien

Siebzig Jahre Einsamkeit

JUDENTUM 1938 mussten sie aus Österreich fliehen. 1948 mussten sie
den neuen Staat Israel aufbauen. Heute betreiben sie gemeinsam
Seniorenturnen. Ein Besuch beim Klub der Altösterreicher in Tel Aviv.
JOSEPH GEPP, Tel Aviv

Wenn Gideon Eckhaus über Sand spricht, dann hört man ihn fast
rieseln. Er hat seine Hand zur lockeren Faust geballt und reibt die
zittrigen Finger aneinander, als würde ihm der Sand durch die Finger
rinnen. „Straßen, Plätze, Gebäude. Alles, was sie hier sehen. Das war
alles nur Sand“, sagt Eckhaus. Er sitzt in einem modernen Café im
ruhigen Norden Tel Avivs, auf dem Tisch eine Tasse Cappuccino und ein
Sandwich mit Roastbeef – und kein Sandkorn weit und breit. „Als ich
herkam, hat es das alles noch nicht gegeben. Wir haben es aufgebaut.
Ich habe sieben Jahre lang in einem Zelt geschlafen. Es hat mich
nicht gestört.“ Er sei ja immerhin mit dem Leben davongekommen, sagt
er.

Es ist viel Zeit vergangen, seit Gideon Eckhaus, 85, aus
Wien-Leopoldstadt hierherkam. Das war am 9. Jänner 1939. Er kam und
brachte tatsächlich nichts mit als sein Leben. Der Staat, in dem er
später leben sollte, existierte noch nicht einmal. Dessen tragende
Bevölkerungsgruppe war größtenteils gerade erst angekommen, schuf
erste staatliche Strukturen im Untergrund, bekämpfte Naturgewalten
und schleuste Neuzuwanderer am britischen Kolonialherrn vorbei. Die
Stadt, die er verlassen musste, verfügte zwar über Straßen, Plätze
und Gebäude – aber nicht mehr für Gideon Eckhaus: Ihm und seiner
Familie hatten die Nationalsozialisten, die zehn Monate zuvor in
Österreich einmarschiert waren, alles weggenommen. Das Geschäft des
Vaters wurde „arisiert“, das Firmeneigentum requiriert, er selbst in
eine Schule in der Czerningasse im zweiten Bezirk gesteckt, wo
ausschließlich jüdische Kinder zusammengefasst waren. „Einmal kam der
Fotograf vom Stürmer. Der wollte Bilder machen von Judenkindern, wie
sie Eselsgrimassen schneiden oder Ähnliches. Unser Lehrer hat uns
schnell durch den Hintereingang nachhause geschickt.“ Das rechne er
dem Lehrer bis heute hoch an, sagt Eckhaus. Als Jugendlicher sah er,
wie Synagogen geplündert und orthodoxe Juden zum Tanz um brennende
Thorarollen gezwungen wurden. Dann floh er ins damalige Palästina.
Schon vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich hatte
er als freiwilliger Helfer bei der Wiener Dependance des
zionistischen Palästina-Amts mitgearbeitet – das kam ihm zugute, als
sein Leben von einer der raren Einreisebewilligungen für Palästina
abhing. „Ich kam in Palästina an. Hier war ich nicht wehrlos wie in
Wien. Ich hatte eine Waffe in der Hand. Ich dachte: Sollen sie
kommen. Ich werde mich zumindest verteidigen.“

Fünf Kilometer weiter südlich, im geschäftigen Zentrum von Tel
Aviv, hebt Lisbeth Rosenthal ihren rechten Arm. Ganz langsam. Es
fällt nicht mehr so leicht wie früher. Dann sinkt er zurück auf die
Sessellehne, auf die sie sich stüzt. Es folgt der linke. Und wieder
der rechte. Die Gymnastiklehrerin scheint nicht allzu streng.
Rosenthal steht in einer Reihe mit 15 anderen alten Menschen, mehr
Frauen als Männern, geschätztes Durchschnittsalter etwa achtzig. Eine
Dreiviertelstunde dauert das Seniorenturnen. Darauf folgt ein
Kaffeekränzchen im Raum nebenan. Dann setzt sich Lisbeth Rosenthal
mit ihren Freundinnen an einen Tisch, sie spielen Scrabble und reden
darüber, wo sich die Kinder gerade aufhalten und wie es den Enkeln
geht. Sie grüßen mit „Shalom“, aber abgesehen davon ist ihre
Umgangssprache Deutsch. Es ist eine Sprache, deren Entwicklung vor
siebzig Jahren stehengeblieben ist. Man könnte sie als bürgerlich
bezeichnen: Die Sätze enden mit einem fragenden „Nicht?“ und statt
„dort“ sagen sie „dort’n“. Wenn sie von der Vergangenheit erzählen,
benutzen sie das Imperfekt. Und wenn ihnen etwas aus der Hand fällt
und man es aufheben will, dann sagen sie: „Bemühen Sie sich nicht.“
Die Ausdrücke klingen altmodisch und die Mimik unterstreicht heftig
das Gesagte. Jakob Stiassny, 61, Chef des Klubs der
altösterreichischen Pensionisten in Tel Aviv, sagt, dass er mit den
Senioren hin und wieder Artikel aus Fachzeitschriften durchgehe. Auf
solche Art würden sie ihren Wortschatz auf den neuesten Stand
bringen. Schließlich konnte vor siebzig Jahren niemand ahnen, dass
„Handy“ und „Computer“ einmal Eingang in den Duden finden würden.

Stiassnys kleines Büro liegt im Hinterzimmer des Klubs. Er
gründete ihn vor fünfeinhalb Jahren. Damals waren die
österreichischen Juden alt geworden. Die Zeit hatte begonnen, in der
sie auf Unterstützung angewiesen waren. Lebensqualität im Alter hat
viel mit Erinnerung zu tun, meint Jakob Stiassny. Diese Leute hätten
eine schwierige Vergangenheit gehabt: erst die Vertreibung aus
Österreich, dann die entbehrungsreiche Pionierzeit in Israel. „Je
älter die Menschen werden, desto lebendiger wird ihr
Langzeitgedächtnis. Die gemeinsame Vergangenheit ist dann eine
wichtige Stütze.“ Er druckt eine Liste mit dem Programm für März 2008
aus. Neben der wöchentlichen Turnstunde steht da „Bridge für
Fortgeschrittene“, „Kaffee, Kuchen und Salzgebäck“, „Blutdruckmessen
und Beratung“, aber auch ein Treffen mit österreichischen Schülern,
eine Gedenkveranstaltung zu 1938 und ein Vortrag über das iranische
Urananreicherungsprogramm. Der Klub finanziere sich aus
Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Geldern des österreichischen
Nationalfonds, sagt Jakob Stiassny. Er untersteht der Vereinigung der
Pensionisten Österreichs in Israel, dessen Vorsitzender, und Stimme
der vertriebenen Juden Österreichs, Gideon Eckhaus ist.

Der Pensionistenverein – vier Räume im Untergeschoß eines
schlichten gräulich-weißen Hauses, ein paar Tische, eine kleine
Bibliothek, ein Ständer mit einigen österreichischen und israelischen
Zeitschriften und ein Podium für Gymnastik und Vorträge – liegt in
der Esther-Hamalka-Straße von Tel Aviv, mitten in einer Stadt, die
mit Wien ganz und gar nichts gemein hat: Tel Aviv ist wild, quirlig,
südlich und vorwärtsgewandt. Aus den Autos, die die palmengesäumte
Strandpromenade entlangkurven, dröhnt westlicher und orientalischer
Discobeat. Die Israelis sagen, dass Haifa arbeitet, Tel Aviv feiert
und Jerusalem betet. Tel Aviv, das ist leichtbekleidetes
Beachpartyfeeling à la Ibiza, versetzt mit einem kleinen Schuss
Orient – vor dem Hintergrund eines uniformen grauen Häusermeeres aus
der Zwischen- und Nachkriegszeit. Getragene mitteleuropäische
Existenzen wie Frau Lisbeth Rosenthal würden sich hier wohl nicht
freiwillig ansiedeln.

Aber sie wurden nicht danach gefragt. Selbst ihre Sprache – für
viele Zionisten die Sprache der Unterdrückung, des Schtetls, der
Diaspora – war im jungen Israel nicht erwünscht. Ob sie sich gar
nicht schäme, kein Hebräisch zu sprechen, sei sie vor Jahrzehnten
gefragt worden, erzählt Lisbeth Rosenthal. Es sei leichter, sich zu
schämen, als Hebräisch zu lernen, habe sie geantwortet. Schon vor
mehr als einem halben Jahrhundert hätten Rosenthal und ihre beiden
Freundinnen die deutsche Muttersprache ablegen und durch das
Hebräische ersetzen sollen – auch im privaten Umfeld. Aber Frau
Rosenthal weigerte sich: „Aus dem Kibbuz warfen sie mich nach zwei
Jahren hinaus, weil ich weiter darauf bestanden habe, Deutsch zu
sprechen“, erzählt sie über die Jahre nach der Ankunft. „Der Kibbutz
bestand zwar fast ausschließlich aus deutschen und österreichischen
Juden – aber sie hatten sich fest entschlossen, nur noch Hebräisch zu
sprechen.“ Bis heute lese sie regelmäßig eine Zeitschrift namens
Sha’ar, zu Deutsch „Das Tor“, sagt Rosenthal. Sha’ar richtet sich,
seinem Namen gemäß, eigentlich an Neueinwanderer in Israel. Im
Gegensatz zu anderen Medien des Landes druckt das Heft seine
hebräischen Lettern mit kleinen Punkten und Strichen über oder unter
den Buchstaben – sie zeigen Vokale an, die normalerweise im
Hebräischen nicht geschrieben, sondern lediglich mitgedacht werden.
Aber Frau Rosenthal liest selbst siebzig Jahre nach ihrer Ankunft in
Israel noch flüssiger, wenn die Vokale bereits aus dem geschriebenen
Wort hervorgehen. Es scheint, als sei sie für immer in der
Toreinfahrt stehengeblieben. Die Landessprache spricht sie, wie alle
anderen ehemaligen Wiener Juden, nach wie vor mit deutschem Akzent:
„Im Hebräischen gibt es so viele Akzente wie Einwanderergruppen“,
sagt sie. „Als ich herkam, waren viele Einwanderer aus Russland da –
also dachte ich, der russische Akzent sei eigentlich das
Hochhebräische. Damals sprachen sie sogar am Nationaltheater mit
russischem Akzent. Und genauso reden andere Einwanderer eben bis
heute mit deutschem Akzent.“

Lisbeth Rosenthal erzählt, und der Kaffee in der Thermoskanne wird
langsam kalt. Ihre Erinnerungen sprudeln, sie lacht, wird kurz ernst,
lacht wieder. Sie stamme aus Wien-Alsergrund und sei im Frachtschiff
nach Palästina gekommen, sagt sie. „Auf dem Schiff habe ich zum
ersten Mal Oliven gekostet. Seitdem esse ich sie jeden Tag zum
Frühstück.“ Sie lacht. Nach ihrer Ankunft in Palästina habe sie
angefangen, im Kibbuz zu arbeiten, im gemeinschaftseigenen Kuhstall.
Das sei schwere Arbeit gewesen, sagt sie. „Aber es war schön. Sie
haben mich gebraucht.“ Sie kam alleine, denn die Mutter war in
Auschwitz gestorben und der Vater nach Shanghai geflohen, wo er noch
einige Jahre blieb. In Wien war sie, wie sie es ausdrückt, in einem
„bürgerlichen Elternhaus“ aufgewachsen. „Wir hatten eine Hausgehilfin
und eine schöne Wohnung, auf der Liechtensteinstraße, direkt
vis-à-vis der Polizeidirektion. Ich kann mich noch an den März 1938
erinnern. Da habe ich durchs Fenster beobachtet, wie die Polizisten
in der Direktion die Hakenkreuzbinde umgelegt haben.“ Die folgenden
Monate rissen Lisbeth Rosenthal aus ihrer alten Welt, warfen sie in
eine neue, für sie völlig fremde. „Als wir im Kibbuz in den Bus
stiegen, hat der Fahrer gesagt: Wenn jemand auf uns schießt, dann
sollen wir uns auf den Boden legen. Und ich dachte mir: Der Boden ist
doch viel zu dreckig. Da leg ich mich doch nicht hin.“ Sie lacht
wieder.

Als sie auf ihr Verhältnis zu Wien zu sprechen kommt wird sie
ernst: Ja, sie sei seit 1945 schon dort gewesen, mehrmals sogar, sagt
sie. „Aber recht wohl fühle ich mich dort nicht.“ Wie sich das
äußere? Lisbeth Rosenthal sagt einen Satz, der im Lauf des Gesprächs
schon öfters fiel: „Ich weiß nicht, ob sie sich das vorstellen
können.“ Es sei eben merkwürdig, wenn man in der Straße, wo man die
erste Liebe kennengelernt, auch die ersten Prügel abbekommen habe.

Das ist nicht bei allen einstigen Wienern so. „Also, ich fahre
nach wie vor gerne nach Wien“, unterbricht Nora Shaw, die daneben
sitzt, ihre Tischgenossin. Shaw, ebenfalls 85, hieß früher einmal
Nora Schön, aber ihr Mann, der in Großbritannien arbeitete, ließ den
Namen ändern. Und so heißt sie wie jener Dichter, dessen gesammelte
Werke auf ihrer Wohnzimmerkommode stehen. Neben Goethe und Oscar
Wilde, neben Büchern in deutscher, englischer, französischer und
hebräischer Sprache, neben einer versprengten Mozartkugel und ein
paar kleinen Souvenirs aus Paris und Barcelona. „Das hier schaut
wahrscheinlich nicht viel anders aus als in Wien“, scherzt sie. Tel
Aviv, sagt sie, sei heiß, und die verrosteten Klimaanlagen, die aus
den Hausfassaden ragen, schauen aus wie Warzen. Sie sei oft in Wien
gewesen, denn ihre Schwester habe dort gelebt. Sie erzählt, wie sie
einen Weinkrampf bekommen habe, als sie vor Jahren zum ersten Mal
wieder ihr altes Stiegenhaus in der Glasergasse in Wien-Alsergrund
betrat. Denn „alle Erinnerungen kommen auf einmal wieder hoch, die
guten wie die schlechten“. Es sind jedoch eher die guten, an die sie
sich jetzt erinnert, die sich offenbar eingeprägt haben: Nora Shaw
redet über den Turm im Dianabad, von dem sie sich nicht springen
traute, über den Türkenschanzpark, durch den sie so oft spazierte,
und über das Café Industrie im neunten Bezirk, wo „mein Vater immer
stundenlang gesessen und Zeitung gelesen hat“.

Wenn Gideon Eckhaus über Wien spricht, dann sind es eher die
schlechten Erinnerungen, die hochkommen. Er geht härter ins Gericht
mit Österreich als die anderen einstigen Wiener. Vielleicht hängt das
damit zusammen, dass Eckhaus Monate später ging als die anderen – und
bis Anfang 1939 das äußerste Maß der Diskriminierung miterleben
musste. „Unter den Menschen, die uns damals schikaniert und
vertrieben haben, waren viele Leute, die gebildet waren, die eine
gewisse Kultur hatten. Ich verstehe das nicht“, sagt er. Er beklagt
das Schweigen des Nachkriegsösterreichs, die Ignoranz gegenüber den
Überlebenden, die hauptsächlich nach Israel und in die USA emigriert
waren. „Wir hatten nichts und wir wurden nicht unterstützt. Erst der
Vranitzky hat das dann ein bisschen eingesehen.“ Nun seien sie alt,
etwa 5000 altösterreichische Juden habe es im Jahr 1996 noch in ganz
Israel gegeben, heute sei es vielleicht die Hälfte. „Die Leute haben
es nicht leicht gehabt“, sagt Eckhaus. Viele seien weggestorben,
manche hätten sich auch umgebracht. Die Pensionistenklubs in Haifa,
in Jerusalem, in Tel Aviv sollen in dieser Situation dafür sorgen,
dass die Menschen mit ihrer Erinnerung nicht alleine bleiben. Wenn
Gideon Eckhaus nach Wien fährt, dann hauptsächlich, um dort Gräber
aufzusuchen. „Meine Mutter hatte das Pech, in Wien begraben zu
werden“, sagt er. Er sei dort gewesen, vor langer Zeit, am
Zentralfriedhof, bei den – zwischenzeitlich renovierten – jüdischen
Gräbern hinter Tor Nummer vier. „Aber es war alles mit Brennnesseln
überwachsen. Ich konnte beinahe gar nichts sehen.“

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Von Gott und Transdanubien

KIRCHEDer gelernte Schlosser Johann Randa leitet die kleine
Herz-Jesu- Kirche in Stadlau. Drei Tage im Leben eines Wiener
Vorstadtpfarrers.
JOSEPH GEPP

Die Erfolge der Kirche passieren im Kleinen. Johann Randa wirkt
mächtig angesichts der Horde quirliger Siebenjähriger, die sich ihm
gegenüber auf einer Kirchenbank ausgebreitet hat. „So, liebe Kinder“,
beginnt er. Die Vokale zieht er in die Länge, die Worte spricht er
langsam, lädt sie auf mit Emotionen – nach Güte und
Vertrauenswürdigkeit sollen sie klingen. Die Kinder richten die
Blicke nach oben. Sie sind in dem Alter, in dem man noch gespannt
zuhört. Sie sollen am heutigen Mittwoch zum ersten Mal das Sakrament
der Beichte empfangen. „Es geht nicht so sehr darum, dass ihr mir
eure Sünden erzählt“, sagt Pater Randa. „Es geht darum, dass Gott
euch liebt. Und dass er für euch da ist.“ Und dann: „Also: Wer traut
sich?“ Sieben Hände schießen gleichzeitig und pfeilschnell in die
Höhe. Randa scheint von der Durchschlagskraft seines Appells
überrascht. Ein Volksschüler mit Stehfrisur und blauem T-Shirt, der
seinen Kompagnons noch schnell einen verwegenen Blick über die
Schulter zuwirft, folgt dem Priester in die Sakristei. Dort hat Pater
Randa ein Tischchen bereitgestellt, auf dem eine brennende Kerze
steht, daneben zwei Sessel. Ein eher informeller Rahmen. Er will die
Kinder ja nicht einschüchtern.

Nicht einschüchtern. Vertrauen wecken. Die katholische Kirche ist
in eine Konkurrenzsituation geraten. Sie muss werben, muss
überzeugen. Sie will zeigen, dass sie Zweck hat. Dass die
Mitgliedschaft eine Art geistigen Mehrwert für das einzelne Mitglied
bringt. Sie will Bindungen schaffen und möglichst früh damit
beginnen. Und das fällt einer Institution, die jahrhundertelang eine
Selbstverständlichkeit war, nicht gerade leicht.

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Johann Randa
Foto von Heribert Corn

Johann Randa, 58, verrichtet seine Arbeit unter erschwerten
Bedingungen. Die kleine Pfarre des Donaustädter Bezirksteils Stadlau,
der er vorsteht, liegt in einem schwierigen Viertel. Stadlau
oszilliert irgendwo zwischen Stadt und Land, hat gewissermaßen von
beidem das jeweils Schlechte abbekommen. Aneinandergereihte,
einstöckige Bauernhäuser wie im Marchfeld gehen fließend über in
graue Gemeindebauten wie in der Großfeldsiedlung. Im Beisl gegenüber
der Kirche kippen alte Männer um neun Uhr morgens ihr erstes Bier und
knallen Schnapskarten auf den Tisch. Im Pfarrzentrum unterhalten sich
Jugendliche in schlechtem Deutsch über ihre Tischtennissiege. Viele
von ihnen werden um ihre Chancen hart kämpfen müssen. Stadlau hat von
der Stadt die Zusammenhaltslosigkeit, von der Provinz die Langeweile
geerbt. Pater Randa sagt, dass der Anteil an Muslimen und sonstigen
Andersgläubigen recht hoch sei. Er gehört zu jenen Priestern, von
denen man sonst nicht viel hört. Er ist weder schwul noch pädophil
noch extrem reaktionär. Er hat keine versteckte Freundin und hält
keine brennenden Predigten. Johann Randa tut angesichts schwieriger
Umstände sein Bestes. Und das tut er nicht allzu schlecht.

Da sei diese Frau gewesen, erzählt Pater Randa, während er durch
seine Kirche und das angeschlossene Jugendzentrum führt. Jung, um die
dreißig und völlig verzweifelt wegen eines Seitensprungs, mit dem sie
nicht mehr umgehen konnte. Irgendwann hätte dann ihr behandelnder
Psychotherapeut bei ihm angerufen. „Er hat zu mir gesagt: Ich habe
mit dieser Frau jetzt ihr ganzes Leben durchgesprochen. Die Ursachen
der Probleme liegen vor ihr auf dem Tisch. Jetzt bist du gefragt, wo
es um Versöhnung und Vergebung geht, dass du ihr wieder Mut und
Hoffnung gibst.“ Randa traf die Frau und half ihr, wieder Mut zu
fassen. Oder dieser Schützling vor 14 Jahren, als Randa noch als
katholischer Jugendheimleiter in Klagenfurt arbeitete. „Ein
schwieriger Bursch, der war oft bsoffn und manchmal brutal.“ Viele
Jahre später habe er ein E-Mail von ihm erhalten. Randa geht hinauf
in seine Wohnung, ein Zimmer plus Küche und Bettnische, bescheiden
eingerichtet und ordentlich gehalten, im zweiten Stock eines grauen
Sechzigerjahre-Zweckbaus neben der Kirche. Er kramt den Zettel mit
dem ausgedruckten Mail aus einer Lade. „Mein Leben war eine Berg- und
Talfahrt“, steht da. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass mein
Bruder jemandem das Leben genommen hat.“ Und: „Ich habe dich immer
eher als Freund und weniger als Priester betrachtet.“ Dann ein paar
Dankesworte für den Beistand während der schwierigen Jugendjahre.
Randa hat den Brief aufgehoben. Solche Dinge seien schöne Erlebnisse,
sagt er. Und es sei doch interessant, dass der Boom der
Psychotherapeuten genau in dem Moment begonnen habe, als die Anzahl
der Beichten so stark zurückging.

Seit sechs Jahren lebt er in diesem schlichten Zimmer. Nach dem
Studium und seiner Zeit in Klagenfurt ging Johann Randa für sieben
Jahre nach Graz, dann in die Donaustadt. Er teilt sich die Wohnung
mit zwei anderen Geistlichen, die – wie er – dem Salesianerorden Don
Boscos angehören. Don Giovanni Bosco, der den Orden vor 149 Jahren
gründete, ist der Arbeiterheld unter den Heiligen. Das rasant
industrialisierte Norditalien der 1880er-Jahre hatte andere Probleme
als Martyrium und Fegefeuer. Bosco kämpfte für gerechte
Arbeitsverträge und Ausbildungsmöglichkeiten für Lehrlinge. Johann
Randa versuchte dasselbe, im Kleinen, im Österreich der Siebziger-
und Achtzigerjahre: Er kommt aus Amstetten, Niederösterreich,
aufgewachsen ist er in einer Eisenbahnerfamilie im
Eisenbahnerwohnblock, inmitten von „Familienproblemen, Brutalität und
Scheidungen“, wie er sagt. „Ich war nie der große Intellektuelle,
immer eher der aktiv tätige Typ.“

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Die kleine Herz-Jesu-Kirche in Stadlau
Foto von Heribert Corn

Er hätte Schlosser werden sollen, machte eine Lehre und begann in
der Fabrik zu arbeiten. „Dort erklärten sie mir: Man sagt nicht, Grüß
Gott‘! Das heißt morgens, Guten Morgen‘, mittags, Mahlzeit‘ und,
Guten Tag‘ am Nachmittag und am Abend.“ Doch die Salesianer von
Amstetten hatten es Johann Randa angetan. Sie motivierten ihn zum
Nachholen der Matura, zum Theologiestudium, zur Priesterlaufbahn. Der
Orden betreibt bis heute Kindergärten, Berufsschulen und
Jugendzentren in ganz Europa. Es ist dieser Geist, der auch Johann
Randa sozialisierte. „Ich war in der Schule nie der Draufgänger, nie
der Raufertyp. Deshalb mochten sie mich nicht. Ich habe an mir selber
erlebt, wie es ist, an den Rand gedrängt zu werden“, erzählt er. „Und
dann, als ich selbst die Möglichkeit dazu hatte, fragte ich mich: Wie
kann man den anderen helfen?“ Er habe nie ein Gotteserlebnis gehabt,
sagt er. Wenn man Johann Randa reden lässt, landet er bald beim Thema
Jugendarbeit und Sozialdienst – theologische Fragen und Dogmen
beschäftigen ihn dagegen eher am Rande. Es ist keine subjektive
Kirche, die sich in ihm manifestiert. Kein innerliches Ringen mit
Gott, keine verzweifelte Suche nach Sinn, keine großen Konflikte
zeichnen sich hinter seiner Oberfläche ab. Pater Randa ist gesellig,
organisiert, freundlich und sozial. Er wirkt stabil und ausgeglichen.
Gewiss, er habe Konflikte gehabt, es habe Krisen gegeben, auch mit
dem Zölibat, sagt er. Aber das sei lange her. In einem großen,
akkurat voll geschriebenen Kalender trägt er heute alle seine Termine
ein: Pfarrgemeinderatssitzung, Gottesdienst für die Geburtstagskinder
des Monats, Beichtstunde, Artikel fürs Pfarrblatt. Dazwischen spricht
er mit Menschen, die ein Anliegen haben, und spendet Trost für
Angehörige, die unter einem familiären Todesfall leiden.

Manchmal läutet sein abgegriffenes Handy, und dann redet Johann
Randa über das Zurechtstutzen der Bäume vor der Kirche oder darüber,
wann der Installateur endlich kommt. Seinen priesterlichen Ornat
wirft er nur dann über, wenn es sein muss. Sonst trägt er Jeans und
ein kariertes Sakko über einem grauen Pullover – schlicht und
ordentlich, wie seine Pfarre, seine Wohnung, seine durchgeplanten
Tagesabläufe. Nur ein kupfernes Kreuz am Revers weist den
Gottesdiener aus. „Es gibt keine größere Liebe, als wer sein Leben
für seine Freunde hingibt“, zitiert er das Bibelzitat, das er sein
„Lebensmotto“ nennt. Die zugehörige Verszahl fällt ihm nicht gleich
ein. Johannes, Kapitel 15, Vers 13, glaubt er. Wenn Pater Randa etwas
sagt, hat man nicht das Gefühl, angelogen zu werden.

Sonntag, zehn Uhr morgens. Stadlau zeigt sich von seiner
ländlichen Seite: Die Menschen strömen in die Kirche. Sie wurde in
der Zwischenkriegszeit errichtet, aber ihr renoviertes Inneres wirkt
wie die Aula einer Volksschule, mit Steinfliesenboden und gelb
gestrichenen Wänden, Kinderzeichnungen und einem Beichtstuhl, dessen
Licht rot leuchtet, wenn er besetzt ist. Zu den wochentäglichen
Messen würde oft nur eine Handvoll Menschen kommen, sagt Randa.
Sonntags ist das Haus voll. Vor allem alte Leute und junge Familien
gehen dann in die Messe und hören Randas Predigten. Er hat die Hände
erhoben und lächelt. Eine ganze „Lebenseinstellung“ entstehe aus der
christlichen Idee der Auferstehung, sagt er. „Unser Leben soll
gelingen, obwohl uns der Tod bewusst ist – es ist ein Leben mit dem
Tod trotz dem Tod.“ Er spricht mit theatralischer Mimik, in einfachen
Worten und mit einigen Mostviertler Dialekteinsprengseln. „Eine
Gesellschaft wie die unsere, die nicht mehr religiös ist, kennt viele
Formen des Tötens. Wer an ein höheres Leben glaubt, an Gott, der geht
mit dem Leben anders um als unsere Gesellschaft. Abtreibung und
Euthanasie – das heißt, dass wir das Leben am Anfang und am Ende
missachten.“

Das Leben am Anfang und am Ende, das ist Pater Randas eigentliches
Refugium. Hier ist die Kirche noch kraftvoll. Am Anfang des Lebens –
bei den Kindern und Jugendlichen – bemüht sie sich um Bindungen, will
sie vom Sinngehalt des Katholizismus überzeugen. Hier kommen Randa
die noch immer ländlichen Elemente der Stadlau entgegen: Die Eltern
gehen mit ihren Kindern noch in die Messe, schicken sie noch in die
Jungschar. Das Ende des Lebens dagegen – die Alten – kommt ganz von
alleine zur Kirche. Wenn Menschen im Alter Hoffnung und Beistand
notwendig haben, ist die Kirche oft als einzige Institution zur Hilfe
bereit. Auf der Autofahrt zur HTL Donaustadt, wo Randa eine
Schulmesse lesen wird, erzählt er von einem Ehepaar, das vor
Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten ist. Nun sei das Paar alt und
krank – und hätte um einen Termin gebeten wegen eines
Wiedereintritts.

Dienstag, 9 Uhr früh, zweite Schulstunde. Im Konferenzzimmer der
HTL liest Randa die Messe vor einem Haufen Technikschüler, die ihr
weitgehendes Desinteresse an Religion teils offen zeigen und teils
hinter bemühter Aufmerksamkeit verbergen. Vor dem Fenster liegt eine
Industrieruine aus dem 19. Jahrhundert, vereinzelte Strommasten,
dahinter verläuft die Südosttangente. „Wir mögen das Singen und die
Gemeinschaft“, begründet ein 17-Jähriger ironisch sein Erscheinen.
Der wahre Grund liegt vor der Tür: eine Liste, auf der sich die
Schüler eintragen müssen, damit ihnen die Teilnahme an der Schulmesse
keine Fehlstunde einbringt. Gelfrisuren und lange Haare,
Kapuzenpullover und Sportjacken, fast ausschließlich junge Männer,
finden sich nach und nach im Konferenzraum ein. Nur wenige zeigen an
den Worten des Priesters Interesse. Nur wenige lauschen dem „Herr,
erbarme Dich“-Singsang und dem Gitarrenspiel der assistierenden
Religionslehrer, die der Messe ein bisschen feierliche Stimmung
verleihen wollen. Die meisten dösen still vor sich hin oder
unterhalten sich leise. Johann Randa lächelt. Nichts scheint ihm
ferner zu liegen als der Gedanke, sich jemals entmutigen zu lassen,
jemals verunsichert zu sein. Seine Sanftheit rennt an gegen die Härte
der Welt, immer wieder, ohne jemals an diesem Vorgang zu zweifeln.
Auf einem Schultisch zündet er eine goldumfasste Kerze an, ein
hölzernes Kreuz lehnt dahinter an einer Projektionswand. Dann liest
er die Messe. „Der Weg zu Gott beginnt bei der Neugier. Forscht immer
weiter, bleibt niemals stehen, auch im Religiösen“, sagt er zu den
Schülern. Die Messe beginnt und endet. Johann Randa sagt, es sei
schön gewesen, hier zu sein. Dann drängen die Schüler zur Liste. Die
Religionslehrer zupfen immer noch an ihren Gitarren.

Erschienen im Falter 12/08

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Eingeordnet unter Arbeitswelten, Religion, Reportagen

Allah und die Anderen

ISLAM Vier Neuerscheinungen zum Themenbereich Extremismus/Islam
beschäftigen sich mit Vorurteilen, dem Einfluss der Moderne auf
islamische Gesellschaften und der Affinität nicht nur dieser Religion
zur Gewalt.
JOSEPH GEPP

Manche Dinge sind einer kritischen und differenzierten Diskussion
eher abträglich. Die Anschläge vom 11. September 2001 bildeten den
Auftakt für eine neue Ära der weltpolitischen Unsicherheit. Es
folgten Kriege, Terroranschläge, imperiale Ambitionen von
Supermächten und wachsende Ambitionen von Schurkenstaaten – all das
machte die Einordnung der vergangenen Ereignisse in einen
religionswissenschaftlichen Kontext nicht gerade leichter. Der Islam
sei per se böse und gewaltbereiter als etwa Christen- oder Judentum,
heißt es von der einen Seite des Atlantiks. Die andere entgegnet: Der
Islam sei lediglich vorgeschobene Rechtfertigung der Terroristen und
habe als Religion ganz und gar nichts mit Krieg und Terror zu
schaffen. Es klingt klischeehaft, aber es lässt sich wohl nicht
anders sagen: Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Gewiss: Im Gegensatz zu einem demokratischen System rechtfertigt
eine Religion – nicht nur der Islam, sondern die Religion an sich –
ihre Existenz mit mehr als nur der eigenen Notwendigkeit. Man lebt
und stirbt ja mehr oder weniger im Dienste Gottes. Und was Gott will,
ist recht breit interpretierbar. In diesem Sinn trägt also jede
Religion zumindest mehr Gewaltpotenzial in sich als etwa
westlich-liberale Gesellschaftssysteme. Aber berücksichtigt man nur
diesen Maßstab, dann hätte das Christentum mit Kreuzzügen und
Inquisition längst seine Existenzberechtigung verloren. Der Islam ist
weder Kriegs- noch Friedensreligion. Er besteht aus einer Vielzahl
von Strömungen, Richtungen, Denkweisen und Auslegungen. Ebenso wie
die anderen Weltreligionen. Wer also dem Islam gerecht werden will,
der sollte am besten die vergleichende Methode anwenden.

„Gewalt als Gottesdienst“, die soeben erschienene Studie des
deutschen Religionswissenschaftlers Hans Kippenberg, untersucht aus
diesem Grund die Gewaltbereitschaft mehrerer Religionen seit der
Nachkriegszeit. Kippenberg geht dabei auf gewalttätige Auswüchse des
US-amerikanischen Protestantismus ebenso ein wie auf radikale
Schiiten im Iran und im Libanon oder den Fundamentalismus
zionistischer Siedler in den besetzten Gebieten Israels. Detailreich
und fundiert beschreibt er die wachsende Macht der iranischen
Ayatollahs nach der Revolution 1979 oder die pseudoreligiösen
Heilsbewegungen der amerikanischen Hippieära, die in blutigen
Massakern mündeten – beispielsweise 1993 in Waco, Texas, oder 1979 in
Jonestown im südamerikanischen Guayana. Er schildert, wie
evangelikale Anhänger der „Peoples Temple“ – jene, die später in
Jonestown kollektiven Selbstmord begingen – in Kalifornien neue
Mitglieder warben. Dort hatten „viele der amerikanischen Kultur den
Rücken gekehrt“ und „ideale Bedingungen für alternative
Gemeinschaften gefunden“.

Man fühlt sich an die Kommune des Österreichers Otto Mühl
erinnert: Auch Flower-Power kann offenbar den Boden für
quasitotalitäre Strukturen schaffen. Kippenberg beschreibt nicht nur
an diesem Beispiel, wie gerade in der totalen Freiheit der
Radikalismus gedeiht. Im vorrevolutionären Iran dagegen hatte eine
überhastete Modernisierung der Bevölkerung ihren Zusammenhalt
geraubt, was den Spielraum des Fundamentalismus erweiterte: „In den
überbevölkerten Städten (des Iran, Anm.) waren es die religiösen
Netzwerke, die (…) willens waren, die Entwurzelten und Enttäuschten
aufzufangen.“

Kippenberg durchsucht diese doch recht unterschiedlichen Phänomene
auf ihre Gemeinsamkeiten. Die Mudschaheddin im Afghanistankrieg
dienen ihm ebenso als Forschungsmaterial wie die manchmal religiös
legitimierten Entscheidungen in der neukonservativen US-Politik oder
erwähnte Zionisten und Evangelikale. Der gemeinsame Nenner dieser
Bewegungen ist Kippenberg zufolge der „Machtzuwachs religiöser
Vergemeinschaftung“: Religion löst ihm zufolge staatliche Ordnungen
ab, die „in Krisen und Kriegen zerbrechen“. Oder sie geben Halt in
Zeiten eines Wirtschaftssystems, das die „Individualisierung der
Risiken des Lebens“ begünstigt.

Darüber kann man streiten. Genauso plausibel klingt jedenfalls die
Annahme, dass das Gewaltpotenzial in Gottes Namen immer gleich hoch
ist – und in gefestigten Gesellschaften genauso viel Schaden
anrichten kann wie in porösen. Das bestätigt beispielsweise ein Blick
auf die spanische Inquisition, die der Machtzementierung des
Königshauses diente und nicht Resultat eines bröckelnden Systems war
– ganz im Gegenteil. Aber die Lektüre von „Gewalt als Gottesdienst“
lohnt sich auch, wenn man Kippenbergs Hauptthese skeptisch
betrachtet: Das Buch vermittelt Hintergrundwissen und Zusammenhänge,
es ist ansprechend geschrieben und hervorragend recherchiert.

Eine andere Neuerscheinung zur Islamdebatte erfordert mehr
Überwindung bei der Lektüre: Wer sich in Youssef Courbages und
Emmanuel Todds Buch zur Bevölkerungsentwicklung in islamischen
Staaten, „Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die
islamische Welt verändern“, vertiefen will, braucht große Liebe zu
demografischen Tabellen und möglichst profundes einschlägiges
Vorwissen. Der syrische und der französische Historiker beschreiten
einen anderen Weg als Kippenberg: Nicht die wachsende Stärke
religiöser Gemeinschaft, sondern die Erkenntnis des eigenen
Anachronismus begründet ihnen zufolge die Gewalt des Islamismus.

„Einen Kampf der Kulturen wird es nicht geben“, schreiben Courbage
und Todd, denn die Gewalt sei ein Auswuchs der „letzten Zuckungen
einer sterbenden Ideologie“. Als Beleg für diese These dienen die
Geburtenraten im islamischen Raum: Sie liegen zwar weit auseinander:
zwischen 7,6 (im Niger) und 1,7 (in Aserbaidschan) Kindern pro Frau.
Doch alle haben eines gemeinsam: Seit etwa dreißig Jahren ist ein
drastischer Geburtenrückgang zu beobachten, der, so die Autoren, aus
einem sozialen Wandel resultiert, mit dem auch andere Veränderungen
einhergehen – Veränderungen, die den Werten des traditionellen Islam
oft entgegengesetzt sind, wie etwa die wachsende Emanzipation der
Frau.

Courbage und Todd postulieren eine Entwicklung, die – griffig
formuliert – „von der Alphabetisierung über die Verhütung zur
Revolution“ führt. Das ist nachvollziehbar und schlüssig – und
dennoch: Mit wahrer Leidenschaft werden wohl nur studierte Demografen
„Die unaufhaltsame Revolution“ verschlingen. Ein Wörterbuch mit
demografischen Fachausdrücken sei jedenfalls als Begleitlektüre
anempfohlen.

Viel näher am politischen Tagesgeschehen liegt „Der falsche Krieg“
von Olivier Roy. Fundiert und in journalistischer Manier erklärt der
französische Politikwissenschaftler die Gründe für den Irakkrieg, das
Scheitern der Demokratisierung im Gazastreifen, in Afghanistan und im
Irak und den Mythos von – wie Roy es bezeichnet – „Eurabia“. Diese
Wortneuschöpfung aus „Europa“ und „Arabien“ ist Schlagwort für die
Islamisierung Europas. „In der Rede von Eurabia verbindet man die
Muslime Europas mit Konflikten im Ausland, die sie selbst indes gar
nicht beschäftigen“, meint Roy – und zeichnet als Widerlegung der
Stereotype vom radikalislamischen Schläfer in Europas Städten ein
differenzierteres Bild der islamischen Gesellschaften. Darin geht er
auf nationale, regionale und konfessionelle Eigenheiten ebenso ein
wie auf die allgegenwärtigen Verschwörungstheorien, das Clanwesen,
den arabischen Nationalismus oder – als dessen Gegenkonzept – den
Panislamismus. Alles, was in keinem Zeitungskommentar mehr Platz
findet und doch als Grundlagenwissen unentbehrlich ist -, es steht in
„Der falsche Krieg“.

Von der Wissenschaft zur Populärwissenschaft: Der deutsche
Journalist Alfred Hackensberger hat ein „Lexikon der Islamirrtümer“
geschrieben. Die aufzuklärenden Irrtümer reichen von „Al Jazeera ist
ein islamistischer Sender“ über „Die Beschneidung von Frauen ist eine
Tradition des Islam“ bis zu „In islamischen Ländern gibt es keine
Prostitution“. Die Auseinandersetzung mit ihnen soll laut
Verlagsinformation „Einblicke in die Vielfalt, Dynamik und Moderne
der muslimischen Welt geben und zeigen, warum der viel zitierte Kampf
der Kulturen eine Erfindung der westlichen Medien ist“. Das ist gut
gemeint. Trotzdem: Bei der Mehrzahl der Beispiele handelt es sich um
so grundlegende Irrtümer, dass sich der Verdacht einschleicht, dass
jene Leute, die diese immer noch hegen, auch kein Interesse daran
haben, sie jemals aufzuklären. Wer beispielsweise den Unterschied
zwischen Muslimen und Arabern nicht kennt, sollte wohl besser eine
Einführung in den Islam lesen (zum Beispiel: Heinz Halm: „Der Islam.
Geschichte und Gegenwart“, C.H. Beck Wissen), als gleich mit der
Aufklärung etwaiger Irrtümer zu beginnen. Denn um Grundlagen zu
erfassen, muss man ja nicht gleich ein Buch über Vorurteile lesen.

Youssef Courbage/Emmanuel Todd: Die unaufhaltsame Revolution. Wie
die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Aus dem
Französischen von Enrico Heinemann. Piper, 218 S., € 17,40

Alfred Hackensberger: Lexikon der Islamirrtümer. Vorurteile,
Halbwahrheiten und Missverständnisse von Al-Qaida bis Zeitehe.
Eichborn, 273 S., € 20,60

Hans G. Kippenberg: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im
Zeitalter der Globalisierung. C.H. Beck, 272 S., € 19,90

Olivier Roy: Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die
Irrtümer des Westens. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer.
Siedler, 188 S., € 20,60

Erschienen im Falter 11/08, Buchbeilage

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Eingeordnet unter Bücher, Religion, Weltpolitik