28. Januar 2008 · 14:44
Eine Leuchte war er nicht. Berühmt werden wollte er trotzdem. Wo
immer er auch hinkam, schmierte der kaiserliche Beamte Joseph Kyselak
seinen Namen auf Steine. Auf den Spuren eines Biedermanns auf
Taggingtour..
Text: Joseph Gepp
Fotos: Projekt Kyselak
Es war einmal ein Mann, der wollte berühmt werden. Es gab bloß
nichts, was diese Berühmtheit gerechtfertigt hätte: Er hatte keine
besondere Gabe, war nicht außergewöhnlich schön, und genug Geld, um
sich das Celebritytum zu erkaufen, hatte er auch nicht. Er tat also
etwas, das bis heute viele Menschen tun, die am selben Problem leiden
wie er: Er schrieb ein Buch. Einen Wanderführer, für den er Teile des
heutigen Österreich und Bayern durchquert hatte. Der Mann war kein
besonders talentierter Schriftsteller, daher verfasste er seinen
Reisebericht in jenem Beamtendeutsch, das ihm in seinem Beruf als
Registratur-Accessist bei der k.u.k. Privat-, Familien- und
Avitikalfondskassenoberdirektion – seine Aufgabe bestand darin, das
Privatvermögen des Kaisers zu verwalten und nach Möglichkeit zu
vermehren – gelehrt worden war. Verschraubt, trocken, ohne
Schwärmerei und oft betont desinteressiert beschreibt der Reisende
seine Route, die er über weite Strecken in Kutschen oder auf Booten
zurücklegt.

Einzig sein Zynismus scheint nicht der Amtsstubensozialisation,
sondern seinem Naturell zu entspringen. „Dieses aus neun Häusern
bestehende Dörfchen, so unahnsehnlich und verbogen es in einem
Waldkessel liegt, soll doch eine besondere Einwirkung auf Kranke
besitzen; ich konnte aber nicht erfahren, ob diese in wunderbarer
Hebung des Krankheitsstoffes oder baldigem Tode bestehe. Erstere möge
wenigstens dem Gebrechlichen so lange Trost seyn, bis Schwermuth als
natürliche Folge dieses quälenden Wohnortes letzteren herbeizieht“,
lautet etwa sein freundliches Urteil über den steirischen Kurort
Tobelbad nahe Graz. Das Buch interessiert heute allenfalls als
biedermeierliches Kuriosum, und es gibt wohl nicht viele, die es
freiwillig lesen würden – aber sein Autor Joseph Kyselak hat es
trotzdem geschafft, berühmt zu werden. Es war nicht das Buch
(„Skizzen einer Fußreise durch Oesterreich, Steiermark, Kärnthen,
Salzburg, Berchtesgaden, Tirol und Bayern nach Wien nebst einer
romantisch pittoresken Darstellung mehrerer Ritterburgen und ihrer
Volkssagen, Gebirgsgegenden und Eisglätscher auf dieser Wanderung,
unternommen in Jahre 1825“), das ihm zu Berühmtheit verhalf.
Reiseschriftsteller gab es erstens weit bessere als Joseph Kyselak,
zweitens entsprachen romantische Wanderungen damals der Mode der Zeit
und wurden von vielen Schriftstellern in schwärmerischer Prosa
verewigt. Der Mann, der berühmt werden wollte, erkannte bald, dass
ihm sein sperriger Reisebericht keinen bleibenden Nachruhm einbringen
würde. Eine andere Idee musste her. Sie kam angeblich eines Tages
während eines feuchtfröhlichen Abends mit Freunden im Kaffeehaus. Es
war wohl ein Rauscheinfall, der dazu führte, dass man sich bis heute
an Joseph Kyselak erinnert: Innerhalb dreier Jahre, wettete er
angeblich mit seinen Freunden, würde jeder in der
kaiserlich-königlichen Monarchie seinen Namen kennen. Mit Hilfe einer
Methode, die so ganz und gar nicht ins Denkmuster seiner Zeit passte.
Kyselak entwickelte eine Angewohnheit, die selbst im Jahr 2008
noch abstrus erscheint. In der Zeit des Biedermeiers, einer
korporatistisch-ständischen Gesellschaft, muss sie geradezu bizarr
gewesen sein: Mit Schablone und dicker Ölfarbe malte er an alle
möglichen Stellen seinen Namen – auf Gebäude, Türme, Felsen, in
unzugängliche Schluchtwände und auf Berggipfel. Versteckt oder
weithin sichtbar stand da plötzlich in krakeliger, altertümlicher
Schrift: „Kyselak“. Immer so professionell hingemalt, dass es sehr
viel Mühe erfordert hätte, das Geschmiere wieder wegzuputzen. Niemand
weiß, wie Kyselak auf sein unkonventionelles Hobby gekommen ist:
Vielleicht litt er, aufgewachsen in einer kleinbürgerlichen
Beamtenfamilie im allzu beschaulichen Wien, an einem
Aufmerksamkeitsdefizit. Vielleicht geschah es, wie Zeitgenossen nach
seinem Tod mutmaßten, infolge einer unglücklichen Liebesgeschichte –
Kyselak wollte das untreue Mädchen durch die Verbreitung seines
Namens allerorts an den immer noch Liebenden erinnern. Aber die
Mädchengeschichte passt nicht so ganz zu Joseph Kyselaks Charakter.
Eher wollte er schlicht berühmt werden – einfach um der Berühmtheit
willen. Im Vorwort seines Reisebuchs schreibt Kyselak, er habe die
Reise „nur mit dem nothwendigsten Gepäcke“ durchgeführt: einem Gewehr
„mit einem kleinen Vorrath von Pulver und Blei“, Schreibzeug,
Landkarten, einem Fernrohr, einer Feldflasche, einem seiner „treuen
Wolfshunde“ und einigem mehr. Von Farbtopf, Pinsel und Schablone
erwähnt er nichts. Dass er sie aber dabeigehabt haben muss, beweisen
die wenigen originalen Kyselak-Schriftzüge, von denen man heute weiß
und die die Zeit überdauert haben. Sie finden sich unter anderem in
Wien, bei Loiben in der Wachau, in Perchtoldsdorf und in Kilb bei St.
Pölten.
Die gesicherten Daten über sein Leben sind so dürr wie die Tiefe
seines künstlerischen Schaffens: Joseph Kyselak, Sohn von Joseph und
Josephine Kyselak, geboren vermutlich am 22. Dezember 1799 in Wien,
gestorben wahrscheinlich am 16. September 1831 ebenda. Kyselak
besucht das Piaristengymnasium in Wien-Josefstadt und studiert danach
ein Jahr Philosophie an der Universität Wien. Das Glanzvollste, das
über sein Studium zu sagen wäre, ist die Tatsache, dass er ein
Kommilitone von Johann Nepomuk Nestroy war. Ansonsten soll er weder
als Schüler noch als Student sonderlich motiviert gewesen sein.
1817 bricht er das Studium ab und wechselt als Praktikant in
besagte Privat-, Familien- und Avitikalfondskassenoberdirektion –
unterstützt von seinem Vater, der derselben Behörde dient. Dort und
in der k.k. allgemeinen Hofkammer, dem heutigen Finanzministerium,
wohin er später versetzt wird, bringt er es auf die – selbst für
heutige Verhältnisse – ansehnliche Praktikantenzeit von sieben
Jahren. Danach wird er, nach einigen vorangegangenen erfolglosen
Versuchen und angeblich eher gnadenhalber als verdientermaßen, fix
angestellt und befördert: zum regelmäßig besoldeten
Registratur-Accessisten. Kyselak ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre
alt, und sein Leben scheint gelaufen zu sein.
Doch Joseph Kyselak stellt sein Beruf nicht zufrieden. Noch vor
seiner Beförderung nimmt er drei Monate Urlaub und geht auf jene
Reise, deren Verlauf er in seinem Buch festhält. 1828 bricht er
erneut für Monate auf. Niemand weiß genau, wohin es ihn beim zweiten
Mal zog und an wie vielen Stellen er diesmal seinen Namen hinterließ.
Im Nachwort seines Reiseberichts behauptet er, „Ungarn, Italien, die
Schweiz, Wittenberg, Preussen, Sachsen, ganz Böhmen und Mähren“
bereist und dazu den Dachstein erklommen zu haben, und kündigt einen
zweiten Teil seines Reisetagebuchs an, in dem er jene Länder
beschreiben werde. Doch dazu kommt es nicht mehr: Im Jahr 1831 bricht
in Wien die Cholera aus. Kyselak weigert sich nicht nur, die Stadt zu
verlassen, er isst angeblich auch noch mit trotziger Inbrunst
Unmengen an Zwetschken, die als besonders ansteckungsgefährdend
galten. Im September 1831 stirbt Joseph Kyselak im Alter von 30
Jahren an der Cholera in seinem Haus in der heutigen Kirchberggasse
37 in Wien-Neubau. Die Wiener Zeitung druckt seinen Namen in einer
Liste mit unzähligen anderen Verstorbenen ab: „Dr. Joseph Kyselak,
Accessist der k. k. allg. Hofkammer, alt 30 Jahr, von Nr. 144 am
Spittelberg.“
Als Joseph Kyselak starb, war er längst berühmt geworden. Seine
Wettkumpane hatten ihm angeblich schon nach eineinhalb Jahren – die
Wette war auf drei Jahre angelegt – zugestanden, dass er sie
geschlagen habe, und den vereinbarten Einsatz ausbezahlt. Das
„Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich“ führte ihn unter
dem Stichwort „Sonderling“. Der deutsche Schriftsteller Joseph Victor
von Scheffel ehrte den Verstorbenen mit einem Gedicht („Schwindlig ob
des Abgrunds Schauer/ Ragt des höchsten Giebels Zack/ Und am höchsten
Saum der Mauer/ Prangt der Name KISELAK“). Als der Geschmack der
bürgerlichen Masse im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts immer
mehr zur Idyllisierung vergangener Epochen neigte, wurde Kyselak zum
Inbegriff des schrulligen biedermeierlichen Junggesellen, seine
Wanderungen und Malaktionen Gegenstand kitschiger Radierungen und
schwülstiger Romane.
In den Zwanzigerjahren des folgenden Jahrhunderts galt Kyselak als
romantischer einzelgängerischer Naturbursch, als konservatives
Gegenbild zum neuen Solidaritätsdenken der erstarkenden
Sozialdemokratie. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts
schließlich rief man ihn zum Urvater der Graffiti-Bewegung aus –
sozusagen als allerersten Sprayer, der die Beweggründe der
rebellischen schwarzen Jugend New Yorks schon so früh vorempfunden
hatte. „Mangelnde Bindung an alte Konventionen paart sich häufig mit
einem untrüglichen Gefühl für publicityträchtige
Repräsentationsformen, um ihren Namen im öffentlichen Bewusstsein zu
verankern“, zitiert der User Decibel Royal aus einem
Forschungsprojekt in einem Internetforum zum Thema HipHop, um gleich
darüber zu schreiben: „Ich bin der Meinung, er [Kyselak] gehört
genauso zur, history of graffiti-writing‘ wie Taki 183 oder Phase 2!“
Ein anderer User antwortet mit dem Satz: „Respect & R.I.P. Kyselak!“
Eine Berühmtheit kann viele Gesichter haben.
Mit dem Mythos kamen die Legenden. Als der preußische Gelehrte
Alexander von Humboldt bei seiner Forschungsreise nach Südamerika den
Andengipfel Chimborazo im heutigen Ecuador bestieg, soll er dort den
Schriftzug „Kyselak 1837“ vorgefunden haben. Das ist aus mehreren
Gründen unmöglich: Zum einen war Joseph Kyselak 1837 seit sechs
Jahren tot, zum anderen hielt sich Humboldt schon im Jänner 1802 im
damals spanischen Ecuador auf, als Kyselak gerade erst drei Jahre alt
war. Abgesehen davon hat nicht einmal Joseph Kyselak von sich selbst
behauptet, jemals in Südamerika gewesen zu sein. Die Legende hielt
sich trotzdem und fehlt heute in keiner Beschreibung des verwegenen
Einzelgängers.
Eine zweite, noch bekanntere Anekdote liegt eher im Bereich des
Möglichen: Nachdem er sich auf einer Säule im Schwarzenbergpark im
Wiener Stadtteil Neuwaldegg verewigt hatte, wurde Joseph Kyselak zu
einer Audienz in die allerhöchsten Amtsräume von Kaiser Franz I. in
der Wiener Hofburg zitiert. Der Kaiser bat ihn, er möge sich künftig
seiner Malaktionen enthalten. Kyselak gelobte Besserung. Als sein
Beamter das Zimmer verlassen hatte, entdeckte der Kaiser den leidigen
Namen und das Datum – auf dem kaiserlich-königlichen Aktendeckel, der
auf dem Schreibtisch gelegen war. Franz‘ Reaktion ist nicht
überliefert.
Um im Reich der biedermeierlichen Legenden zu bleiben:
Wahrscheinlich hat der Kaiser es nach kurzem Ärger nicht für wert
befunden, sich weiter über die Causa aufzuregen, und seinen
sonderlichen Accessisten – lächelnd über die Sturheit, mit der dieser
seiner merkwürdigen Obsession folgte – seiner Wege gehen lassen. „Es
ist durchaus möglich, dass der Kaiser wegen so einer Sache einen
subalternen Beamten zu einer Audienz bittet“, beschreibt Margarete
Grandner vom Institut für Geschichte der Universität Wien die
Anekdote. „Kyselak war als Bediensteter der
Avitikalfondskassenoberdirektion quasi ein Privatbeamter des Kaisers.
Im Fonds war das Vermögen deponiert, das Franz Stephan von Lothringen
bis zu seinem Tod 1765 angesammelt hatte.“ Ein solcher Beamter könnte
dem Kaiser schon eine Audienz wert gewesen sein: Der
geschäftstüchtige Lothringer und Ehemann Maria Theresias hatte bis zu
seinem Tod so viel Vermögen akkumuliert wie kaum ein Habsburger vor
und nach ihm – angesichts seines Wissens darum konnte da selbst ein
kleiner Beamter mit egozentrischen Anwandlungen Schaden anrichten.
„Der Kaiser gab täglich Unmengen von Audienzen“, bestätigt Gabriele
Goffriller, die seit eineinhalb Jahren ein Forschungsprojekt zu
Joseph Kyselak leitet. „Es ist schon möglich, dass Kyselak nach
seiner Malaktion im Schwarzenbergpark zum Kaiser zitiert wurde.“ Dass
sich das Ende der Anekdote, die Geschichte vom beschmierten
Aktendeckel – nach anderer Überlieferung war es sogar die
Schreibtischplatte selbst -, ebenfalls in der beschriebenen Weise
abgespielt hat, zweifeln allerdings beide an.

Aber wenn es um Joseph Kyselak geht, wird die Frage nach Wahrheit
oder Unwahrheit solcher Anekdoten ohnehin unwichtig. Das
Aussagekräftigste an ihnen ist wohl das Bedürfnis, sie
weiterzuerzählen. Es sind weder die Einzelheiten seiner Biografie
noch sein Wanderführer noch die schrulligen Details seines Lebens,
die an Joseph Kyselak faszinieren. Jene kamen ohnehin erst mit dem
Mythos um seine Person – einem Mythos, der heute vielleicht sogar
leichter nachempfunden werden kann als damals. Denn Joseph Kyselak
hat viele Erben gefunden: Das „Gefühl für publicityträchtige
Repräsentationsformen“ bleibt dasselbe, auch wenn es heute eher
Bilder als Schriftzüge sind, die von Hauswänden, Fernsehschirmen und
Zeitungstitelblättern prangen. Die ganze Welt hört hin, wenn Paris
Hilton wegen Alkohol am Steuer für 45 Tage ins Gefängnis muss. Ganz
Österreich schaut zu, wenn sich Peter Licht beim
Bachmann-Lesewettbewerb weigert, sein Gesicht zu zeigen, um das
öffentliche Interesse auf sich zu lenken. Joseph Kyselak hat seiner
Zeit mit unzeitgemäßen Methoden seinen Stempel aufgedrückt und damit
vielleicht mehr bewirkt als jemand, der sie bloß durch künstlerische
Reflexion widerspiegelt.
Erschienen im Datum 1/08
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