OSTUKRAINE Serhij Zhadan, junger Stern der ukrainischen Literatur, hat mit den Themen seiner Vorgänger abgeschlossen. Jetzt ist sein neuer Roman „Anarchy in the UKR“ auf Deutsch erschienen. JOSEPH GEPP
In einer Gesellschaft, die Ziel und Richtung verloren hat, muss es
sich nicht schlecht leben. Glaubt zumindest Serhij Zhadan. Hat man
den Dauerzustand der Anarchie erst einmal akzeptiert, dann kann man
es sich in ihrer poetischen Unmittelbarkeit wohlig einrichten.
„Unerforschlich sind deine Wege, o Herr, was für sinnlose Begegnungen
bereitest du uns auf unseren nicht weniger sinnlosen Touren“,
schreibt er in seinem neuen Buch „Anarchy in the UKR“.
Die interesselose Betrachtung der Zwecklosigkeit gilt dem Autor
mehr als die zielgerichtete Suche. Das hängt auch mit seiner Herkunft
zusammen. Serhij Zhadan, 33, kommt aus Charkiw. Die zweitgrößte Stadt
der Ukraine liegt im äußersten Nordosten des Landes, nur wenige
Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Leute hier sprechen
mehrheitlich russisch. Den halbverfallenen galizisch-lodomerischen
k.u.k. Glanz der westlichen Landeshälfte kennen sie, wenn überhaupt,
nur vom Hörensagen. Industriearchitektur und Plattenbauten prägen
Charkiw. Einziger Prunk sind die Zuckerbäckerbauten Stalins. Der
Zerfall der Sowjetunion ließ die Bevölkerung Charkiws noch
desorientierter zurück als die Westukrainer: Die westliche
Landeshälfte träumt immerhin von Mitteleuropa und lebt in
verheißungsvoller Nähe zur westlichen Hemisphäre. Dem Osten der
Ukraine, der fast seine ganze Geschichte lang zur russischen
Peripherie zählt, bleibt nichts zur Rückbesinnung. Nur das
sowjetische Arbeiterklassenethos lieferte ein bisschen Identität, und
das ist vor den Augen der Menschen zerfallen.
Serhji Zhadans poetische Unmittelbarkeit entstammt dieser
Unmöglichkeit der Orientierung. Sein Roman „Depeche Mode“ erschien im
Frühjahr in deutscher Übersetzung und schildert vier Tage der
Adoleszenz im chaotischen Charkiw aus dem Jahr 1993: „Die Fabrik
zerfiel wie alles im Land, was zu stehlen war, stahl der Direktor,
was nicht – machte er kaputt, sagen wir, er hielt sich an die
Instruktionen der Zivilverteidigung.“
Es folgten Gedichtbände (von denen „Geschichte der Kultur zu
Anfang des Jahrhunderts“ ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde) und
schließlich „Anarchy in the UKR“. Serhji Zhadan wurde damit zum
Gegenpol der westukrainischen Literatur, die es sich zur Aufgabe
gemacht hat, dem Land eine neue Identität zu geben. „Charkiw hat eine
ebenso pulsierende Literaturszene wie Lemberg oder Ivano-Frankivsk.
Nur weiß das niemand“, erklärt Zhadan. In Lemberg, westliche Ukraine,
Schauplatz der größten, alljährlich im September stattfindenden
Literaturmesse des Landes, leben und schreiben beispielsweise Ljubko
Deresch und Jurko Prochasko. In Ivano-Frankivsk, ebenfalls im Westen,
wohnt der bekannteste ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch
und eine Reihe anderer Autoren, die sich unter dem Schlagwort
„Stanislauer Kreis“ versammelt haben – Stanislau ist der
deutschsprachige Name der ehemals österreichisch-ungarischen Stadt.
Diese Autoren publizieren im Suhrkamp Verlag und gelten im Westen als
vitale Vertreter ihres literarisch so aktiven Landes. „In der Ukraine
nennen wir sie die Achtzigerjahre-Generation“, sagt Zhadan, der sich
nicht zu ihnen zählt. „Ich habe von Juri Andruchowytsch viel gelernt.
Aber wir sind in vielen Dingen verschiedener Ansicht.“
Andruchowytsch ist alles andere als ein Vertreter poetischer
Unmittelbarkeit. In seinen Essays (siehe auch S. 68) setzt er sich
mit Kultur und Geschichte seines Landes auseinander, seine Romane
sind wohlkonstruierte Sinnsuchen, immer im Hinblick auf die
versunkene Welt Österreich-Ungarns. „Das sind Bücher über
Mitteleuropa, alle liberal in ihrer politischen Haltung, alle dem
europäischen Kurs verpflichtet.“
Serhij Zhadan behauptet nicht, dass er all das nicht wäre. Es ist
bloß zu spät, um noch ernsthaft solche Haltungen zu propagieren: 17
Jahre nach der Wende geht alles seinen schleppenden Gang – ohne
Aussicht auf Besserung. Und so beschreibt Zhadan die Schönheit
flüchtiger Zugsbekanntschaften und die Poesie von Wodkabesäufnissen
im Bahnhofsbeisl. „Sag Nein zur nationalen Wiedergeburt, dich hängen
sie als Ersten auf, du störst ihren Politbetrieb, störst ihre
Absprachen, ihre frisierten Fernsehratings, du störst sie dabei, dich
zu verarschen, das Internet zu kontrollieren, Wahlkämpfe zu gewinnen,
die Demokratie aufzubauen“, heißt es in seinem jüngsten Buch, das im
Titel die Sex Pistols zitiert.
Bloß ist UKR-Anarchismus im Gegensatz zum UK-Anarchismus kein
jugendkulturelles Phantasma, er prägt das ganze Land – oder zumindest
eine Landeshälfte. Keine Identität ist anstelle des
Arbeiterklassenethos getreten: „Vielleicht wird es irgendwann
abgetragen, dieses (Lenin-) Denkmal, sie schicken einen Kran und
demontieren es einfach, und an seine Stelle wird irgendeine
allegorische Figur installiert, die in den Augen der Nachkommen die
Vollendung der nationalen Befreiungsbewegung symbolisiert.“ Das ist
die Ostukraine seit der Wende. Und so handelt „Anarchy in the UKR“
davon, dass sich Zhadans Icherzähler in seiner Heimatgegend auf die
Suche nach den Spuren des ostukrainischen, nach dem Zweiten Weltkrieg
von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus macht. Nach
irgendwas muss man ja doch suchen. Auch wenn es nichts zu finden
gibt.
Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR. Aus dem Ukrainischen von
Claudia Dathe. edition suhrkamp, 216 S., € 10,30
Erschienen im Falter 50/07