13. Dezember 2007 · 00:00
SCHWERPUNKT UKRAINE Jurko Prochasko ist Essayist und zurzeit damit beschäftigt, den „Mann ohne Eigenschaften“ ins Ukrainische zu
übersetzen. Ein Gespräch über die Konjunktur ukrainischer Literatur
im Westen, über die Suche nach neuen Identitäten,
Kommunismusverklärung und über das Scheitern der Orangen Revolution. JOSEPH GEPP
„Eine leere Muschel, die übriggeblieben ist“ nannte der ukrainische
Essayist und Übersetzer Jurko Prochasko seine Heimatstadt in einem
Interview mit der Zeit. Wer die Geschichte von Lemberg kennt, weiß,
was der studierte Germanist damit meint: Früher lebten in der
einstigen Hauptstadt Galizien-Lodomeriens Polen, Deutschsprachige,
Juden, Rumänen, Armenier und jene Volksgruppen, die die Habsburger
unter dem Begriff „Ruthenen“ zusammenfassten (Russen, Ukrainer und
Weißrussen). Joseph Roth hat hier studiert, Stanislaw Lem ist hier
aufgewachsen. Dann kamen Nationalsozialisten und Sowjets.
Heute leben überwiegend Ukrainer und Russen in Lviv, wie Lemberg
auf Ukrainisch heißt. Die Stadt ist eine der schönsten und
meistunterschätzten in ganz Osteuropa. Ihr literarisches Erbe ist
lebendig geblieben und wird heute von einer Reihe westukrainischer
Schriftsteller aufgegriffen und verarbeitet. Jurko Prochasko, 37,
entstammt dieser Generation. Er übersetzte Werke von Joseph Roth,
Franz Kafka und Sigmund Freud. Zurzeit arbeitet er gerade an einer
ukrainischen Übersetzung von Robert Musils „Der Mann ohne
Eigenschaften“: „Ich bin jetzt ungefähr bei Seite 1200. Ich wünsche
mir nichts mehr, als damit fertig zu werden.“ Darüber hinaus verfasst
er Novellen und Essays. Vor kurzem hat er gemeinsam mit seinem Bruder
Taras Prochasko und der Wiener Fotografin Magdalena Blasczcuk den
Bild- und Essayband „Galizien-Bukowina-Express“ publiziert.
Falter: Herr Prochasko, können Sie einige Bücher für jemanden
empfehlen, der die Ukraine und Galizien literarisch kennen lernen
möchte?
Jurko Prochasko: Gerne. Ich empfehle auf jeden Fall die Bücher von
Bruno Schulz. Weiters Juri Andruchowytsch, am besten die Essaybände
und „Zwölf Ringe“. Oksana Sabuschkos „Feldstudien über ukrainischen
Sex“ würde ich auch lesen. Und Andrzej Stasiuks „Unterwegs nach
Babadag“.
Die Ukraine erlebt derzeit ein kleines Literaturwunder. Lesungen
im In- und Ausland sind gutbesucht, ukrainische Autoren publizieren
im deutschen Suhrkamp-Verlag. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist ganz klar mit einem Namen verbunden: Juri Andruchowytsch.
Andruchowytsch ist der bekannteste Schriftsteller der Ukraine und
publizierte als Erster bei Suhrkamp. Er spricht Deutsch und reiste
schon früh in den Westen, um Lesungen zu halten. Als er berühmt
geworden war, empfahl und protegierte er dort seine ukrainischen
Schriftstellerkollegen. Auf diese Art sind auch sie bekannt geworden.

Foto von Elvira Faltermeier
War es auch Andruchowytsch, der die Brücke zu Suhrkamp legte?
Ja. Dazwischen lag eine fruchtbare Kooperation mit dem polnischen
Czarne-Verlag. Dessen Leiterin, Monika Schneidermann, ist die Frau
des Schriftstellers Andrzej Stasiuk. Abgesehen davon steht der
Suhrkamp Verlag mittel- und osteuropäischer Literatur generell offen
gegenüber. Für uns wurde er so zu einer Art Tür zur Weltliteratur.
Immer mehr Menschen aus dem Westen lesen Bücher aus dem Osten. Ist
die Ukraine, die hier besonders prominent vertreten zu sein scheint,
Teil eines allgemeinen Booms?
Eigentlich erlebt den zurzeit ganz Osteuropa. Es gibt aber zwei
Unterschiede zwischen der Ukraine und den anderen Ländern: Zum einen
hat die Ukraine für viele westliche Leser noch wenig Konturen, was
sie interessant macht, denn im Gegensatz zu Russland oder Polen gilt
sie als eine Art Entdeckung. Zum anderen ist die Orange Revolution
ein Grund für das westliche Interesse an der Ukraine. Als sie
stattfand, empfanden Menschen aus ganz Europa plötzlich ein Gefühl,
das sie aus der Zeit der Wende kannten, und begannen sich aus einer
Wendenostalgie heraus für die Ukraine zu interessieren. Und die
Jüngeren sind ein bisschen neidig, dass es noch ein europäisches Land
gibt, in dem so etwas möglich ist.
Die in Österreich bekannte ukrainische Literatur ist fast
ausschließlich westlich-liberal, proeuropäisch und tendenziell
antirussisch. Gibt es andere Richtungen, die im Westen nicht bekannt
sind?
Große Teile unserer Literatur sind zwar russlandkritisch, aber die
Autoren stehen den ukrainischen Nationalisten genauso distanziert
gegenüber wie Russland. Es gibt außerdem Schriftsteller, die das
Thema gar nicht streifen. Und es gibt ukrainische Autoren, die in
russischer Sprache schreiben. Manche von ihnen kennt man im Westen,
beispielsweise Andrej Kurkow. Österreicher und Deutsche stehen der
sogenannten Spaltung der Ukraine in einen ukrainischen Westen und
einen russischen Osten zu schematisch und einseitig gegenüber. In
Wahrheit stellt sich das Land die Frage nach einer kulturellen
Identität, die nicht an ein bestimmtes Land oder eine nationale
Zugehörigkeit gekoppelt sein muss. Es gibt in der Ukraine Menschen,
die ukrainisch- oder russischsprachig sozialisiert wurden, ohne dass
das mit einer staatsbürgerlichen Identität verbunden wäre. Russisch
war hierzulande immer Sprache der Hochkultur. Und so fragen sich
ukrainische Autoren: Soll das so bleiben? Oder ist die Ukraine ein
kulturell bilinguales Land? Oder werden sich die Russischsprachigen
langfristig für das Ukrainische als Hochkultursprache entscheiden?
Die meisten bekannten ukrainischen Autoren stammen aus dem
westukrainischen Galizien. Die Region ist Heimstätte des ukrainischen
Nationalismus und wird auch als „ukrainisches Piemont“ bezeichnet.
Vertreten diese Autoren damit nicht eine dezidiert ukrainische
Haltung?
Das stimmt zwar im Großen und Ganzen. Aber Serhji Zhadan
beispielsweise stammt aus Luhansk und lebt in Charkiw in der
Ostukraine. Oksana Sabuschko lebt in Kiew. Es werden neue Autoren
kommen, die nicht aus dem Westen stammen. Es ist jedoch richtig, dass
die erste Welle von Autoren aus Galizien stammt und in ihrem Werk
diese Herkunft auch häufig thematisierte, indem sie sich mit
Mitteleuropa beschäftigen. Bei den Österreichern oder Deutschen
entsteht so eine Art kultureller Wiedererkennungseffekt. Das macht
die ukrainische Literatur zusätzlich populär.
Sucht die Ukraine eine neue Identität in Mitteleuropa?
Ein Teil der Ukrainer schon. In Galizien oder der Bukowina fällt
es leicht, sich mit diesem Mitteleuropakonzept zu identifizieren. In
Kiew ist das schon deutlich schwerer. Generell glaube ich aber, dass
dieses Thema in den Neunzigerjahren wichtiger war.
Warum hat es an Bedeutung verloren?
Die Orange Revolution war eine Zäsur. Unter Präsident Kutschma
wollten die Intellektuellen Galiziens mit diesem peinlichen Staat
nichts zu tun haben. Das Mitteleuropakonzept diente als Schutz und
Absonderung. Die Orange Revolution hat dann gezeigt, dass es viel
mehr gesamtukrainische Gemeinsamkeiten gibt als angenommen. Jetzt
sucht man eine neue Identität für die ganze Ukraine, statt sich mit
Mitteleuropa zu beschäftigen.
Und wo sucht man?
Manche suchen sie in der ukrainisch-nationalen Vergangenheit – mit
oder ohne Europa -, andere in der russisch-sowjetischen. Eine dritte
Fraktion definiert sich über keines der beiden Konzepte: also weder
über das neo-autoritäre Russland noch über die EU, zu der die Ukraine
ohnehin keinen Zugang hat.
Kann es einen Kompromiss zwischen diesen beiden Polen geben?
Es gibt eine Schule des dritten Wegs. Ihre Vertreter bezeichnen
sich als „Nativisten“. Überspitzt gesagt ist das eine Blut-
und-Boden-Ideologie, die nach den Wurzeln sucht, ihr Heil in der
Isolation sucht und Autarkie predigt. Das liegt gefährlich nah am
Totalitarismus.
In Westeuropa beschäftigen sich nur wenige Autoren mit ihrer
nationalen Identität.
In der Ukraine auch immer weniger. Autoren der Generation Zhadan
beispielsweise setzen sich gar nicht mehr damit auseinander. Falls
doch, dann keinesfalls mit einer nationalen. Der Schwerpunkt
verlagert sich immer mehr auf das Individuum. Deswegen unterscheiden
sich die nationalen Literaturen in Europa auch immer weniger
voneinander. Ich bin ganz und gar kein Fürsprecher des Verschwindens
von Unterschieden, aber sie sollten nicht entlang nationaler Grenzen
verlaufen. Es gibt genügend andere.
Eine Kehrseite dieser Hinwendung zum Individuum ist die
gesellschaftliche Desillusionierung – etwa bei dem von Ihnen
erwähnten Serhji Zhadan.
Ein gesellschaftlicher Umstand, der dennoch in sein Werk
hineinspielt, ist der große Schock für den postsowjetischen Menschen,
plötzlich nicht mehr um- und versorgt zu werden – das ist eine
fundamentale Erfahrung.
Trauern die Ukrainer dem Kommunismus hinterher?
Das mag sein. Ich persönlich kenne zwar niemanden, der das tut,
aber die Statistik behauptet, dass sich eine große Zahl an Menschen
die Sowjetunion zurückwünscht. Sie reden aber immer nur von
Teilaspekten, die im Nachhinein verklärt werden. Ich glaube nicht,
dass jemand im Ernst die Wiederherstellung dieser vergangenen Welt in
ihrer Totalität möchte. Man will sich nur das herauspicken, was man
gern hatte.
Würden Sie sagen, dass die Orange Revolution ihr Ziel erreicht
hat?
Nein. Überhaupt nicht. Sie hat Wichtiges bewirkt. Die Menschen,
die sich daran beteiligt haben, sind anders geworden, als sie vorher
waren. Mit ihnen ist etwas passiert, das man ihnen nie wieder
wegnehmen kann.
Was ist das?
Ich weiß es nicht genau. Vielleicht die Erfahrung, dass man große
Veränderungen durch kleine persönliche Teilnahme bewirken kann – eine
kleine Verantwortung, die sich zur großen formiert. Für viele war das
ein Abschied von der Minderwertigkeit. Es war die Möglichkeit des
Unmöglichen. Trotzdem: Politisch hat die Orange Revolution alle Ziele
verfehlt.
Aber zumindest auf der Ebene der Spitzenpolitik ist die Ukraine
heute demokratischer als vor der Revolution.
Eine Spur vielleicht. Aber es ist weit von dem entfernt, was man
sich von einer Demokratie wünscht und vorstellt. Die letzten beiden
Jahrzehnte in der Geschichte der Ukraine waren ein Übergang von einem
Scheinsystem ins andere. Wobei es sich um zwei unterschiedliche
Scheinsysteme handelt: Das sowjetische System war ein Scheinsystem,
weil es systematisch Schein produzierte; und das ukrainische System
ist ein Scheinsystem, weil es nur vorgibt, ein System zu sein.
Also herrscht heute die Anarchie in der Ukraine?
Es herrscht zumindest Chaos: Das Alte ist weg und das Neue noch
nicht da.
Großer Bahnhof
Bahnhöfe und Züge sind konstituierende Elemente der ukrainischen
Gesellschaft. Inlandsflüge gibt es im flächenmäßig größten Staat
Europas praktisch keine, den Autofahrern machen Schlaglöcher und
Checkpoints mit korrupten Beamten das Leben schwer. Also nimmt man
den Zug: Um 120 Hrywnja, etwa 20 Euro, kann man das Land von West
nach Ost durchqueren (etwa 1500 Kilometer). Das Schienennetz ist
dicht und defizitär. Bahnhöfe gibt es in jedem Dorf, im Westen
weitgehend noch aus der k. u. k. Zeit.
„Galizien-Bukowina-Express“ zeigt Fotos westukrainischer Bahnhöfe
und Züge der Wiener Fotografin Magdalena Blaszczuk, die Essays der
Brüder Taras und Jurko Prochasko erzählen die Geschichte der
östlichen k. u. k. Kronländer Galizien-Lodomerien und Bukowina, wo
die Wiener Beamten für den Fall eines Kriegs gegen das nahe Russland
ein dichtes Schienennetz errichten ließen; und jene der sowjetischen
Aneignung des galizischen Erbes: Statt Personen sollten nun plangemäß
Industriegüter transportiert werden. Heute sind es wieder Menschen,
die durch die Ukraine reisen.
Jurko und Taras Prochasko, Magdalena Blaszczuk:
Galizien-Bukowina-Espress. Eine Geschichte der Eisenbahn am Rande
Europas. Verlag Turia + Kant, 127 S., E 26
Erschienen im Falter 50/07
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