Monatsarchiv: Dezember 2007

Bushtrommeln

Bei der US-Präsidentschaftswahl 2008 wird das Internet eine entscheidende Rolle spielen. Der Pfeil im Köcher der Republikaner: die Videoplattform QubeTV, das rechte Pendant zum angeblich linkslastigen YouTube.

Joseph Gepp

„Scheich von Starhemberg“ hat ein Video online gestellt. Sein „Islam Quiz“ besteht aus jeweils zwei Fotos und einer Frage und soll dem US-Bürger den Islam näherbringen – auf unzweideutige Weise: Einen Imam sieht man da zum Beispiel, der einen Koranschüler küsst, daneben den gefallenen Pop-Engel Michael Jackson und darunter den Schriftzug: „Mullah or pedophile?“ Dann den Koran und eine Rolle Klopapier: „Quran or Toilet Paper?“ Eine Moschee und einen Schweinestall: „Mosque or Hog House?“ Oder einen betenden Muslim und eine Pornofilmszene, in der die Stellung der Frau jener des Betenden ähnelt: „Praying or Bent Over?“ Hasspropaganda pur, komprimiert auf 52 Sekunden.

Politischer und religiöser Extremismus ist in westlichen Gesellschaften in der Regel eine Sache von Minderheiten. Das US-Onlineportal QubeTV hat ihn zum Mainstream geadelt. Amerikas Konservative, vor der Präsidentschaftswahl im November 2008 innenpolitisch unter Zugzwang und außenpolitisch durch den Irakkrieg in der Bredouille, bedienen sich zunehmend des Internets, um Wähler zu mobilisieren – mit den immergleichen Themen, die sich dann alle auf QubeTV wiederfinden: der Terrorismus als immanenter Bestandteil des Islam; das heroische Durchhaltevermögen der US-Soldaten im Nahen Osten; und der Dämon des Liberalismus, der die Bürger Amerikas verblendet, die Schöpfungstheorie an den Schulen bekämpft und dafür sorgt, dass immer mehr Latinos über die mexikanische Grenze kommen. Auch wenn vieles weit weniger radikal ist als das „Islam Quiz“ – ausgeprägtes Demokratiebewusstsein kann man den meisten Videomachern auf QubeTV nicht nachsagen.

Begonnen hat alles mit der konservativen Bloggerin und Politaktivistin Michelle Malkin. Eigenen Aussagen zufolge wurde ihr islamkritisches Video „First They Came“ gegen ihren Willen von der Internet-Videoplattform YouTube gelöscht. Der Fall wurde für Charles Gerow, einst Berater der republikanischen Präsidenten Ronald Reagan und George Bush senior, zum Anlass, eine neue Plattform zu gründen. Seine PR-Agentur Quantum Communications mit Sitz im US-Bundesstaat Pennsylvania erledigte den technischen Part. Anfang des Jahres ging QubeTV ans Netz – mit „First They Came“ auf der Hauptseite, versehen mit der Aufschrift „Banned by YouTube“ und einer Botschaft: QubeTV solle von nun an das konservative Pendant zum angeblich linkslastigen YouTube bilden.

Im Vergleich mit dem „Islam Quiz“ ist „First They Came“ eine intellektuelle Glanzleistung: Ein Zusammenschnitt von Bildern zeigt eine Reihe von Personen, die von islamischen Extremisten umgebracht oder mit dem Tod bedroht wurden. Die Palette reicht vom ermordeten niederländischen Filmemacher Theo van Gogh über den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq bis zu dessen britischem Kollegen Salman Rushdie. Dazwischen sorgen Bilder von Hamas-Mitgliedern aus Palästina und brennenden dänischen Flaggen – Aufnahmen, die nach dem Karikaturenstreit entstanden – für jene Stimmung, die die Produzentin erzeugen will.

Was die Geschichte von der Zensur unglaubwürdig macht: „First They Came“ findet sich heute Dutzende Male auch auf YouTube, jeweils versehen mit dem markigen Satz „Originally banned by YouTube“. Ein Sprecher von YouTube, das dem Webgiganten Google gehört, reagierte auf die Zensurvorwürfe kurz angebunden: „Unabhängig von jeder Weltanschauung bieten wir allen die Möglichkeit, auf unserer Plattform zu publizieren.“ Tatsächlich finden sich viele QubeTV-Videos auch auf YouTube.

Für Aufsehen sorgte ein Folksong, den ein im Irak stationierter US-Soldat 2006 im abendlichen Truppenlager zum Besten gegeben hatte. In beschwingtem Ton, nur begleitet von seiner Gitarre, macht er sich in „Hadji Girl“ darüber lustig, dass er die Familie eines irakischen Mädchens mit seinem M-16-Sturmgewehr aus Notwehr erschießt. Ein Mitschnitt des Auftritts erschien kurz danach auf YouTube und löste eine Welle der Empörung aus: Mehrere Nachrichtenagenturen berichteten über den Fall, der Soldat musste sich entschuldigen. Kurz danach gab es das Video auch auf QubeTV – mit durchwegs positiven Userkommentaren.

„Bei der Präsidentschaftswahl 2008 werden benutzergenerierte Videos eine wichtige Rolle spielen“, sagte QubeTV-Gründer Gerow dem Nachrichtensender ABC, „und es gibt viele konservative Aktivisten, die – bewaffnet mit Handys und Camcordern – den nächsten schlechten Scherz John Kerrys mit Freuden aufzeichnen und publizieren werden.“ Gerows Prognose hat sich als richtig erwiesen: Ende Juli brachte CNN eine Diskussion mit den demokratischen Präsidentschaftskandidaten, die Fragen dafür waren von US-Bürgern auf YouTube gepostet worden. Kommentatoren sprachen von einer neuen Form der politischen Partizipation, wenn Wähler derart direkt Politiker mit ihren Problemen konfrontieren.

Millionen folgten der Diskussion – YouTube ist heute mit angeblich 20 Millionen täglichen Usern nach Google, Yahoo und der Microsoft-Website die meistbesuchte Seite der Welt. Von einer solchen Breitenwirkung kann QubeTV freilich nur träumen. Angaben zu den Userzahlen macht man vorsorglich nicht.

Erschienen im Datum 11/07

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Eingeordnet unter Medien, Weltpolitik

STADTRAND – Marken-Uhren

„Unaufdringlich“, hat es geheißen. Unaufdringlich soll das Logo
der Wiener Städtischen auf den Ziffernblättern der bekannten Wiener
Würfeluhren prangen. Im Austausch für 550.000 Euro, mit denen die
Versicherung ein Jahrzehnt lang Renovierung und Erhalt der nützlichen
Stadtmöbel sponsert. Viel Geld? 550.000 Euro, dividiert durch zehn
Jahre zu je zwölf Monaten, dividiert durch 72 zu restaurierende
Würfeluhren zu je vier Ziffernblättern. Ergibt 16 Euro pro Monat und
Ziffernblatt. Kein schlechtes Geschäft für einen derart exponierten
Werbeträger. Die Präsentation der ersten gebrandeten Würfeluhr beim
Ringturm zeigte zudem, dass das Wörtchen „unaufdringlich“ recht weit
definiert werden kann: Der Schriftzug der Firma reicht
ziffernblattbreit von neun bis drei. Rechts oben prangt das
Blumenlogo der Versicherung. Ihr Auftritt gibt den alten Uhren ein
ganz neues Gepräge. Ähnlich wie bei den zugepflasterten
U-Bahn-Stationen und den werbebepickten Straßenbahnen. Oder den
Riesenplakaten auf Stephansturm und Staatsoper. Wer schützt uns
eigentlich vor visuellem Müll? Die Wiener Städtische offenbar nicht.
J. G.

Erschienen im Falter49/07

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtrand

STADTRAND – U-Bahn-Fahndung

Nestroyplatz, U1-Station. Gerade ist ein Zug abgefertigt worden,
die Fahrgäste strömen zum Ausgang. Oben erwartet sie eine Handvoll
Kontrolleure. Seit einiger Zeit berechtigt sie ein OGH-Urteil, beim
Festhalten von Schwarzfahrern „angemessene Gewalt“ anzuwenden. In der
Praxis läuft das offenbar so ab: Ein älterer Mann wird brüsk
aufgefordert, seinen Fahrschein herzuzeigen. Dadurch eingeschüchtert
bekommt er Angst, nestelt nervös in seiner Tasche, sucht panisch den
Schein. Er spricht mit dem Kontrolleur respektvoll, fast devot. Ob er
nun schwarzfährt oder nicht – Fluchtgefahr völlig ausgeschlossen!
Doch der Kontrolleur schreit ihn an: Er brauche sich gar nicht
einbilden, weglaufen zu können. Denn drüben stünden genauso
Kontrolleure. „Stell dich nur blöd, und ich hol sofort die Polizei.“
Andere Fahrgäste drehen sich um, wundern sich über so viel Aggression
bei einem so folgsamen Fahrgast. Je mehr der Schwarzkappler schreit,
desto mehr fürchtet sich der alte Mann. Vielleicht sollten die Wiener
Linien ihren Kontrolleuren ein wenig Einfühlungsvermögen beibringen.
Denn was „angemessen“ ist, hängt vor allem davon ab. J. G.

Erschienen im Falter 50/07

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Eingeordnet unter Behörden, Das Rote Wien, Verkehr, Wien

Der Super-Eignungstest

SICHERHEIT Das Freundschaftsspiel Österreich gegen England galt
als Generalprobe für die Euro 08. Ein Erfahrungsbericht aus der
Perspektive einer Sicherheitskraft.
JOSEPH GEPP

Eine Securitykarriere beginnt mit einem sorgsam auszufüllenden
Fragebogen: chronische Krankheiten? Vorstrafen? Waffenschein? Wenn
ja, woher? „Wir weisen darauf hin, dass falsche Angaben die sofortige
Entlassung nach sich ziehen“, steht kleingedruckt darunter. Die
journalistische Arbeit wird bei der Frage nach Schulbildung und
Berufserfahrung sorgfältig ausgespart. Später kommt der Personalchef,
setzt sich breitbeinig hin, und der mündliche Teil des
Bewerbungsverfahrens beginnt: Ja, sagt er, es gäbe einen
Einführungskurs für die Sicherheitsleute bei der Fußball-EM. Er
dauere zwei Tage, der Termin stehe noch nicht fest, irgendwann im
Jänner. Aber am besten lerne man ohnehin in der Praxis. „Vorläufig
kann ich Ihnen nur unseren Super-Eignungstest ans Herz legen.“ Das
Freundschaftsspiel Österreich gegen England am 16. November. „Da
können Sie gleich mal dabei sein.“

Der Super-Eignungstest: 45.500 Menschen im ausverkauften
Ernst-Happel-Stadion, davon 41.500 Österreicher und 4000 Engländer.
600 Polizisten und 650 private Ordner sollen für den reibungslosen
Ablauf sorgen. Die Radionachrichten am Morgen verkünden vierzig
Zentimeter Neuschnee in Niederösterreich und minus zwei Grad in Wien.
Auf der Wiener Außenringautobahn werden Notquartiere für
steckengebliebene Autofahrer errichtet. Wenn dieses Spiel problemlos
ablaufe, dann bestehe für die Fußball-EM im Juni des kommenden Jahres
kaum noch Grund zur Sorge, berichten Medien. Treffpunkt:
Ernst-Happel-Stadion, Sektor A, 15.30 Uhr.

Eine Menschentraube hat sich dort versammelt. Der erste Eindruck:
Private Sicherheitskräfte müssen offenbar nicht ausschließlich
breitschultrige junge Männer sein. Denn die Menge gibt ein unerwartet
durchmischtes Bild ab. Händchenhaltende ältere Ehepaare stehen da,
Pensionisten, junge Mädchen mit breiten Hosen, die ihre
Pferdeschwänze unter Sportkappen verstecken. Eine ältere Dame mit
breiten Sonnenbrillen richtet sich ihr goldenes Handtäschchen, ein
Mann trägt Lodenjanker und einen Filzhut mit den Aufsteckern
verschiedener Wanderrouten. Alle warten auf Einlass. Sie drängen vor
ein Stahlgitter, das ein höherrangiger Ordner fallweise öffnet. Er
deutet dann mit den Fingern, wie viele Leute er einzulassen gedenkt,
die jeweils Vordersten huschen eilig hinein, werden auf einer Liste
ausgestrichen und einer Gruppe zugeteilt. „Nummer fünf.“ Bei Nummer
fünf wartet Heinzi, der Supervisor.

Heinzi, etwa fünfzig, bierbauchig, trägt Oberlippenbart und
spricht breitestes Wienerisch. Er ist jovial, man hat aber trotzdem
Respekt vor ihm. 15 Leute sind ihm unterstellt. Jeder bekommt eine
neonorange Jacke mit zwei reflektierenden Streifen und dem Aufdruck
„Securitas“ auf der Rückseite. Irgendwann – inzwischen sind alle
angekommen und eingekleidet – empfängt Heinzi eine knappe Anweisung.
„Sektor B, Einlasskontrolle.“ Das Grüppchen setzt sich in Bewegung.
Noch vier Stunden bis zum Anpfiff. Weit und breit ist kein Fußballfan
zu sehen, selbst die Polizei ist noch nicht aufmarschiert.

Sektor B, Einlassbereich. Es dämmert, und abgesehen von den 15
Ordnern ist das Areal menschenleer. Auch Heinzi ist verschwunden.
Erste zaghafte Gespräche beginnen. Manche Leute scheinen einander zu
kennen, andere sind zum ersten Mal hier. Ja, er sei schon lange
Ordner, sagt ein solariumgebräunter junger Mann. Er trägt
Kunstpelzkragen und reflektierende Sportschuhe. Was genau man hier
tun müsse? „Nichts. Nur vorsichtig sein halt.“ Er lächelt ob so viel
Unerfahrenheit. Drei Männer unterhalten sich auf Türkisch, eine etwa
fünfzigjährige rundliche Frau steht stumm da. Sie scheint die Sache
nur hinter sich bringen zu wollen. Die Leute zählen ihre Zigaretten
und beschweren sich über zugesperrte Klos und die Kälte.

Schnell lernt man die Hierarchie im Sicherheitsgeschäft kennen.
„Orange heißt kurzfristig“, erklärt ein türkischstämmiger Ordner mit
Flinserl und gegelten Haaren. Die Supervisors und die fixen
Securitas-Angestellten sind die Langfristigen. Sie tragen gelbe
Jacken. Das zeigt sich auch bei der Aufstellung der Ordner: Die
orangen Ordner stehen bei den Eingängen, die gelben am Spielfeldrand.
Oder sie koordinieren die Hundertschaft der Ordner. „Wenn du lang
dabei bist, steigst du auf“, sagt der Türke, „dann verdienst du mehr
und bekommst die guten Jobs.“ Der Höhepunkt solch einer
Sicherheitskarriere sei die EM: Langgediente Ordner hätten größere
Chancen, an ihr teilzunehmen als kurzfristige, erklärt er. Dort
verdiene man deutlich mehr Geld, 17 bis 24 Euro in der Stunde statt
fünf wie bei den Freundschaftsspielen.

Eineinhalb Stunden vergehen. Es wird spürbar kälter. Der Anpfiff
scheint eher in die Ferne als in die Nähe zu rücken. Zwei Mädchen
spielen sich von ihren Handys gegenseitig House-Musik vor. Ein paar
Verwegene betreten einen beheizten Veranstaltungsraum neben dem
Eingang, um sich aufzuwärmen. Sie werden von einem Kollegen in Gelb
hinauskomplimentiert. „Orange Jacken haben hier nichts verloren.“
Später kommt Heinzi und bringt dreißig Wurstsemmeln und 15
Halbliterflaschen Mineralwasser. „Aber gegessen wird später“, sagt
er, „jetzt stellen wir erst einmal die Gitter auf. Und dann machen
wir die Einteilung.“ Heinzi liest 15 Nachnamen vor. Ihre Träger
melden sich mit einem müden „Hier“ und bekommen einen Ort zugewiesen.
„Dritter Rang, Vorsperre.“

Die Vorsperre ist ein etwa 15 Meter langer Bereich vor jenem
Drehkreuz, das den Weg ins Stadion freigibt. Hier werden die
Fußballfans durchsucht. Oder, wie man hier in amtlicher Manier sagt,
„perlustriert“. Alles, was zum Wurfgeschoss oder zur Hieb- und
Stichwaffe umfunktioniert werden könnte – hauptsächlich Bierdosen,
Regenschirme und Taschenmesser -, muss abgegeben werden. Den
reibungslosen Ablauf der Perlustrierung soll eine Gitterreihe
ermöglichen, die sich, ausgehend von den Drehkreuzen, nach vorne
verengt: Einige stehen vorne und regulieren den Strom der zu
durchsuchenden Gäste, weitere stehen hinten und nehmen die
Perlustrierung vor. Eine Frau muss dabei sein, um die
Stadionbesucherinnen zu durchsuchen. Die Ordner beziehen ihre
Stellungen, merken aber bald, dass das sinnlos ist, weil der Anpfiff
erst in zweieinhalb Stunden erfolgt. Nicht einmal der Einlass hat
begonnen. Sie gehen wieder zurück, um gleich darauf von Heinzi
zurechtgewiesen zu werden. „Alle auf ihre Plätze! Gleich ist
Behördenrundgang!“ Die Behörde, honorige Vertreter von
Österreichischem Fußballbund, Polizei und Securitas, dreht eine Runde
und stellt sicher, dass jeder Eingang ausreichend mit
Sicherheitskräften bestückt ist.

Nach dem Behördenrundgang kommt die Polizei. Hunderte Beamte mit
Knieschützern und gepanzerter Oberbekleidung beziehen ihre Posten vor
dem Stadion. Punkt 19 Uhr beginnt der Einlass, und Heinzi erklärt
noch schnell die Grundregeln der Perlustrierung: „Nie selbst in die
Taschen greifen. Die sollen die Leute selbst aufmachen und
herzeigen“, sagt er und zeigt danach auf Nachfrage, wie das
Durchsuchen exakt abzulaufen hat: „Erst über den Rücken, dann die
beiden Oberarme, dann den Bauch und die Schenkel. Bauchtaschen und
die rot-weiß-roten Zylinder der Fans müssen auch kontrolliert werden.
Da könnten die Leute was drunter versteckt haben.“ Die ersten
Zuschauer passieren die Drehkreuze – aber Sektor B, dritter Rang,
bleibt leer. „So ist das immer. Nur herumstehen. Nie können wir etwas
machen“, sagt einer der vier Perlustrierer. Thomas, 23, erzählt, dass
er ausgelernter Installateur sei. Jetzt mache er die Matura in der
Abendschule nach. „Damit ich solche Jobs in Zukunft nicht mehr machen
muss.“

Ein anderer, etwa 45, ist Schulwart in einer Sonderschule im 22.
Bezirk, wenn er nicht gerade Fußballstadien bewacht. „Aber da habe
ich nicht viel zu tun“, murmelt er. Und beißt in seine gesponserte
Wurstsemmel. „Ich mache das wegen der EM. Die ist halt verlockend.“
Dann sagt er, dass viele Hausfrauen und Pensionisten diesen Job
machen würden, um sich ihr Haushaltsgeld aufzubessern. Er schaut kurz
auf, als der englische Mannschaftsbus den Sektor passiert. „Schau!“,
ruft er, „da ist David Beckham! Der mit den Ohrenstöpseln!“ David
Beckham trägt silberne Kopfhörer. Er sitzt in der Mitte des Busses,
hat den Kopf in die Hand gestützt und schaut teilnahmslos auf die
Menschenmasse, durch die sich der Bus einen Weg bahnt.

Später kommt die österreichische Mannschaft, und auch der
Bundespräsident entsteigt einer Limousine, aber das scheint den
Schulwart weniger zu begeistern. Überhaupt hält sich das Interesse
der Ordner am Fußball in Grenzen: Höhnisches Gelächter erschallt, als
einer der Ordner ein volkstümliches Lied, das aus einem Lautsprecher
erklingt, mit der Nationalhymne verwechselt. Die Stimmung ist
friedlich. Familienväter und Kinder mit rot-weiß-roter Farbe im
Gesicht passieren die Drehkreuze. Ein paar heimische Fußballpatrioten
haben sich in Nationalflaggen eingewickelt und grölen: „Immer wieder
Österreich“. Doch auch sie jubeln, als der Bus mit der englischen
Mannschaft vorbeifährt. Der Glamourfaktor der Briten zählt mehr als
die nationale Zugehörigkeit.

Noch 18 Minuten bis zum Anpfiff. Überall drängen sich jetzt
Hunderte Fußballfans, warten ungeduldig auf den Gang durch das
Drehkreuz. Nur vor Sektor B, dritter Rang, hat sich noch immer kein
Besucher gezeigt. „Ich verstehe das nicht. Gar keiner. Dabei ist das
Stadion ausverkauft“, sagt Thomas. „Wenn jetzt ein paar Reisebusse
voller Fans kommen – so schnell können wir die Leute gar nicht
perlustrieren, damit alle bis zum Anpfiff reinkommen.“ Schließlich
zieht Heinzi die Konsequenzen und schickt drei der Perlustrierer zu
einem anderen Eingang, wo Hunderte wartende Fans schon fürchten,
nicht rechtzeitig bei Spielbeginn auf ihrem Platz zu sein. Hektisches
Durchsuchen beginnt. Tasche – Rücken – Oberarme – Bauch – Schenkel.
Abgesehen von abzugebenden Bierdosen trägt niemand etwas Verbotenes
bei sich. Was der Schulwart vorher gesagt hat – „wenn du eine Stunde
lang perlustrierst, bist du völlig hin“ – kommt einem wieder in den
Sinn: Bücken und sich aufrichten, immer wieder, im schnellstmöglichen
Tempo. Eine anstrengende Arbeit.

Einige Zeit vergeht, bis die Fans allesamt perlustriert sind und
die Helfer in den dritten Rang von Sektor B zurückgeschickt werden.
Dort hat sich immer noch kein Besucher gezeigt. Sieben Minuten
bleiben bis zum Anpfiff. Überall sonst drängen sich die
Menschenmassen. Die Ordner, vorher vollends ratlos, haben
mittlerweile eine Theorie zur Leere des dritten Rangs entwickelt. Als
im Stadion gerade die Nationalhymne erklingt, wird sie von Heinzi
bestätigt: Den dritten Rang zu bewachen war ein Irrtum. Es handelt
sich um die Pressetribüne. Die Journalisten, für die der Rang
vorgesehen ist, passieren das Stadion allerdings durch den
VIP-Eingang. „Das ist wieder einmal typisch“, sagt der Türke, „immer
werden wir fürs Nichtstun bezahlt.“ Als drinnen das Spiel anfängt,
beginnt sich draußen der Platz zu leeren. Heinzi verfügt den Abbau
der Gittersperren. Alle Zuschauer, die jetzt noch kommen, werden nur
formlos überprüft und ins Stadion gelassen. Der Anpfiff erfolgt. Von
den Triumphen und Tragödien, die sich drinnen abspielen, kündet
draußen nur der an- und abschwellende Jubel.

Der Super-Eignungstest neigt sich dem Ende zu. Als die Gitter
hereingeräumt sind, packt Heinzi wieder die Namensliste aus. 15 Namen
fallen, 15 Träger melden sich. „Nächste Woche Österreich gegen
Tunesien. Selbe Zeit, selber Ort?“, fragt er. Diesmal nicht. Er
überreicht ein Kuvert, in dem einige Münzen klimpern. 34,20 Euro in
bar. Das ist der Lohn neben den beiden Wurstsemmeln. So endet die
Securitykarriere.

„Gerade die Einlasskontrolle ist ein besonders sensibler Bereich,
der erfahrene Ordner erfordert“, erklärte Securitas-Chef Martin
Wiesinger dem „Falter“. Dem werde in seiner Firma Rechnung getragen,
und das beweise das Gütesiegel der Österreichischen
Zertifizierungsstelle Sicherheitstechnik (ÖZS), das Securitas
verliehen wurde. Das Zertifikat erhalten laut ÖZS allerdings nur jene
Firmen, die ihren Fußballordnern eine dreitägige Ausbildung
angedeihen lassen. Der Praxistest zeigt, dass man derartige Auflagen
bei Securitas offenbar nicht allzu ernst nimmt. Das Spiel ist
trotzdem friedlich verlaufen, laut Polizei gab es keine einzige
Festnahme.

Erschienen im Falter 49/07

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Eingeordnet unter Arbeitswelten, Reportagen

Wohlstand in den Norden

STADTTEIL Die schummrigen Beisln und Wettcafés der Leopoldstadt
gehören bald der Vergangenheit an. Angesichts der bevorstehenden EM verändert sich der Bezirk rasant.
JOSEPH GEPP

Eine zerbeulte Emailtafel am
Praterstern kündet vom zweiten Bezirk, wie er noch vor wenigen Jahren
war. In ihr schimmerndes Blech hat man einen Straßenplan und die
Adressen einiger längst geschlossener Geschäfte eingestanzt. Sie
steht direkt vor der Glasfront des neuen Nordbahnhofs, die etwas zu
modern für den ansonsten eher heruntergekommenen Praterstern
daherkommt. Die wuchtigen Gemeindebauten an der Nordbahnstraße, die
kupfergrüne Tegetthoff-Säule, die betongrauen
Fußgänger-Unterführungen – noch vor kurzem wirkte der Platz ein wenig
so, als läge er in Bukarest. Weit weg von der Wiener Innenstadt, die
in Wahrheit nicht einmal einen Kilometer weiter südwestlich beginnt.
Heute erinnert er ein bisschen an Berlin. Vor allem wegen der vielen
Baustellen.

Der Bezirk befindet sich im Aufschwung. Nicht nur wegen der
Fußball-EM im Juni nächsten Jahres. Aber die drittgrößte
Sportveranstaltung weltweit fungiert als eine Art „Turbo“, wie es
Gerhard Kubik, SPÖ-Bezirksvorsteher, ausdrückt. „Der U-Bahn-Bau wurde
aufgrund der EM vorgezogen. Das hat eine Dynamik geschaffen, von der
jetzt der ganze Bezirk profitiert.“ Ab 8. Mai 2008 führt die U2 vom
Karlsplatz über den Praterstern bis zum Ernst-Happel-Stadion. Nun
werden eine Reihe von Großprojekten in der Leopoldstadt verwirklicht:
Nordbahnhof, historisierender Pratereingang und Stadion-Center sind
nur die augenscheinlichsten. Unweit des Stadions entsteht zudem ein
ganzes Geschäftsviertel, mit neuer Wirtschaftsuniversität und
OMV-Zentrale. Am Handelskai soll die Bürostadt Marina-City gebaut
werden. „Kurzfristig werden vor allem Gastronomie und Hotellerie
einen Aufschwung erleben“, schätzt Kubik. „Langfristig wird die
U-Bahn den ganzen Bezirk aufwerten.“

Dabei begann das langsame Erwachen der Leopoldstadt schon vor etwa
zehn Jahren. Damals entdeckte die junge kaufkräftige Mittelschicht
die Vorzüge des zentrumsnahen Karmeliterviertels beim Donaukanal.
Heute gilt es als eine der schicksten Adressen Wiens. Der neue
Wohlstand dünnt sich allerdings nach Norden hin aus: Je näher beim
Praterstern, desto mehr dominieren Wettcafés, schummrige Beisln und
bröckelnde Fassaden das Straßenbild. Was oberhalb des Pratersterns
liegt, ist in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt nur noch mit
Kleinkriminalität und illegaler Prostitution verbunden:
Stuwerviertel, Lasallestraße, Mexikoplatz – diese Problemviertel soll
die Fußball-EM und die damit verbundene U-Bahn nun aufwerten.

Das Stuwerviertel beispielsweise besteht weitgehend aus billigen
Mietwohnungen, die von Migranten bewohnt werden. Eine
Genossenschaftswohnanlage auf dem Gelände der ehemaligen
Wilhelm-Kaserne soll nun den Anstoß zur Aufwertung des Grätzls geben.
Kehrseite ist die „soziale Verdrängung“ der finanzschwachen
Migrantenfamilien, wie Bezirkschef Kubik einräumt: „Die Preise ziehen
an. Es gibt beispielsweise deutlich mehr Dachausbauten im
Stuwerviertel. Irgendwann kommen die ärmeren Leute da nicht mehr
mit.“ Wohin sollen die Verdrängten? „In andere durchgängig verbaute
Altbauviertel. Aber in der Leopoldstadt sehe ich diese kaum noch.“
Solche Tendenzen registriert auch Hannes Guschelbauer von der
Leopoldstädter Gebietsbetreuung. Zentrumsnähe, bessere
Verkehrsanbindungen und Grünflächen würden den Wert des Viertels
steigern, sagt er. „Oft rufen Leute an und suchen dezidiert eine
Wohnung im zweiten Bezirk. Die Bevölkerungsstruktur verändert sich – und mit ihr die Immobilienpreise.“

Dabei hat das schummrige Grätzeltum der Leopoldstadt auch seine
sympathischen Seiten: Wohl nirgends sonst in Wien finden sich so
viele kleine, billige Beisln, dazu türkische Greißler und
Marktstände, wie rund um den Volkertplatz nahe beim Praterstern.
Etwas weiter südlich haben sich die Beisln schon in Edelbeisln
verwandelt und die Greißler in kleine Designerläden. Noch weiter
südlich liegen die Ringstraße und der mondäne erste Bezirk. Bald
werden sich die Insignien des Wohlstands auch im Volkertviertel
breitmachen.

Erschienen im Falter 49/07

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Eingeordnet unter Das Rote Wien, Stadtplanung, Wien

„Es herrscht Chaos“

SCHWERPUNKT UKRAINE Jurko Prochasko ist Essayist und zurzeit damit beschäftigt, den „Mann ohne Eigenschaften“ ins Ukrainische zu
übersetzen. Ein Gespräch über die Konjunktur ukrainischer Literatur
im Westen, über die Suche nach neuen Identitäten,
Kommunismusverklärung und über das Scheitern der Orangen Revolution.
JOSEPH GEPP

„Eine leere Muschel, die übriggeblieben ist“ nannte der ukrainische
Essayist und Übersetzer Jurko Prochasko seine Heimatstadt in einem
Interview mit der Zeit. Wer die Geschichte von Lemberg kennt, weiß,
was der studierte Germanist damit meint: Früher lebten in der
einstigen Hauptstadt Galizien-Lodomeriens Polen, Deutschsprachige,
Juden, Rumänen, Armenier und jene Volksgruppen, die die Habsburger
unter dem Begriff „Ruthenen“ zusammenfassten (Russen, Ukrainer und
Weißrussen). Joseph Roth hat hier studiert, Stanislaw Lem ist hier
aufgewachsen. Dann kamen Nationalsozialisten und Sowjets.

Heute leben überwiegend Ukrainer und Russen in Lviv, wie Lemberg
auf Ukrainisch heißt. Die Stadt ist eine der schönsten und
meistunterschätzten in ganz Osteuropa. Ihr literarisches Erbe ist
lebendig geblieben und wird heute von einer Reihe westukrainischer
Schriftsteller aufgegriffen und verarbeitet. Jurko Prochasko, 37,
entstammt dieser Generation. Er übersetzte Werke von Joseph Roth,
Franz Kafka und Sigmund Freud. Zurzeit arbeitet er gerade an einer
ukrainischen Übersetzung von Robert Musils „Der Mann ohne
Eigenschaften“: „Ich bin jetzt ungefähr bei Seite 1200. Ich wünsche
mir nichts mehr, als damit fertig zu werden.“ Darüber hinaus verfasst
er Novellen und Essays. Vor kurzem hat er gemeinsam mit seinem Bruder
Taras Prochasko und der Wiener Fotografin Magdalena Blasczcuk den
Bild- und Essayband „Galizien-Bukowina-Express“ publiziert.

Falter: Herr Prochasko, können Sie einige Bücher für jemanden
empfehlen, der die Ukraine und Galizien literarisch kennen lernen
möchte?

Jurko Prochasko: Gerne. Ich empfehle auf jeden Fall die Bücher von
Bruno Schulz. Weiters Juri Andruchowytsch, am besten die Essaybände
und „Zwölf Ringe“. Oksana Sabuschkos „Feldstudien über ukrainischen
Sex“ würde ich auch lesen. Und Andrzej Stasiuks „Unterwegs nach
Babadag“.

Die Ukraine erlebt derzeit ein kleines Literaturwunder. Lesungen
im In- und Ausland sind gutbesucht, ukrainische Autoren publizieren
im deutschen Suhrkamp-Verlag. Wie ist es dazu gekommen?

Das ist ganz klar mit einem Namen verbunden: Juri Andruchowytsch.
Andruchowytsch ist der bekannteste Schriftsteller der Ukraine und
publizierte als Erster bei Suhrkamp. Er spricht Deutsch und reiste
schon früh in den Westen, um Lesungen zu halten. Als er berühmt
geworden war, empfahl und protegierte er dort seine ukrainischen
Schriftstellerkollegen. Auf diese Art sind auch sie bekannt geworden.

prochasko
Foto von Elvira Faltermeier

War es auch Andruchowytsch, der die Brücke zu Suhrkamp legte?

Ja. Dazwischen lag eine fruchtbare Kooperation mit dem polnischen
Czarne-Verlag. Dessen Leiterin, Monika Schneidermann, ist die Frau
des Schriftstellers Andrzej Stasiuk. Abgesehen davon steht der
Suhrkamp Verlag mittel- und osteuropäischer Literatur generell offen
gegenüber. Für uns wurde er so zu einer Art Tür zur Weltliteratur.

Immer mehr Menschen aus dem Westen lesen Bücher aus dem Osten. Ist
die Ukraine, die hier besonders prominent vertreten zu sein scheint,
Teil eines allgemeinen Booms?

Eigentlich erlebt den zurzeit ganz Osteuropa. Es gibt aber zwei
Unterschiede zwischen der Ukraine und den anderen Ländern: Zum einen
hat die Ukraine für viele westliche Leser noch wenig Konturen, was
sie interessant macht, denn im Gegensatz zu Russland oder Polen gilt
sie als eine Art Entdeckung. Zum anderen ist die Orange Revolution
ein Grund für das westliche Interesse an der Ukraine. Als sie
stattfand, empfanden Menschen aus ganz Europa plötzlich ein Gefühl,
das sie aus der Zeit der Wende kannten, und begannen sich aus einer
Wendenostalgie heraus für die Ukraine zu interessieren. Und die
Jüngeren sind ein bisschen neidig, dass es noch ein europäisches Land
gibt, in dem so etwas möglich ist.

Die in Österreich bekannte ukrainische Literatur ist fast
ausschließlich westlich-liberal, proeuropäisch und tendenziell
antirussisch. Gibt es andere Richtungen, die im Westen nicht bekannt
sind?

Große Teile unserer Literatur sind zwar russlandkritisch, aber die
Autoren stehen den ukrainischen Nationalisten genauso distanziert
gegenüber wie Russland. Es gibt außerdem Schriftsteller, die das
Thema gar nicht streifen. Und es gibt ukrainische Autoren, die in
russischer Sprache schreiben. Manche von ihnen kennt man im Westen,
beispielsweise Andrej Kurkow. Österreicher und Deutsche stehen der
sogenannten Spaltung der Ukraine in einen ukrainischen Westen und
einen russischen Osten zu schematisch und einseitig gegenüber. In
Wahrheit stellt sich das Land die Frage nach einer kulturellen
Identität, die nicht an ein bestimmtes Land oder eine nationale
Zugehörigkeit gekoppelt sein muss. Es gibt in der Ukraine Menschen,
die ukrainisch- oder russischsprachig sozialisiert wurden, ohne dass
das mit einer staatsbürgerlichen Identität verbunden wäre. Russisch
war hierzulande immer Sprache der Hochkultur. Und so fragen sich
ukrainische Autoren: Soll das so bleiben? Oder ist die Ukraine ein
kulturell bilinguales Land? Oder werden sich die Russischsprachigen
langfristig für das Ukrainische als Hochkultursprache entscheiden?

Die meisten bekannten ukrainischen Autoren stammen aus dem
westukrainischen Galizien. Die Region ist Heimstätte des ukrainischen
Nationalismus und wird auch als „ukrainisches Piemont“ bezeichnet.
Vertreten diese Autoren damit nicht eine dezidiert ukrainische
Haltung?

Das stimmt zwar im Großen und Ganzen. Aber Serhji Zhadan
beispielsweise stammt aus Luhansk und lebt in Charkiw in der
Ostukraine. Oksana Sabuschko lebt in Kiew. Es werden neue Autoren
kommen, die nicht aus dem Westen stammen. Es ist jedoch richtig, dass
die erste Welle von Autoren aus Galizien stammt und in ihrem Werk
diese Herkunft auch häufig thematisierte, indem sie sich mit
Mitteleuropa beschäftigen. Bei den Österreichern oder Deutschen
entsteht so eine Art kultureller Wiedererkennungseffekt. Das macht
die ukrainische Literatur zusätzlich populär.

Sucht die Ukraine eine neue Identität in Mitteleuropa?

Ein Teil der Ukrainer schon. In Galizien oder der Bukowina fällt
es leicht, sich mit diesem Mitteleuropakonzept zu identifizieren. In
Kiew ist das schon deutlich schwerer. Generell glaube ich aber, dass
dieses Thema in den Neunzigerjahren wichtiger war.

Warum hat es an Bedeutung verloren?

Die Orange Revolution war eine Zäsur. Unter Präsident Kutschma
wollten die Intellektuellen Galiziens mit diesem peinlichen Staat
nichts zu tun haben. Das Mitteleuropakonzept diente als Schutz und
Absonderung. Die Orange Revolution hat dann gezeigt, dass es viel
mehr gesamtukrainische Gemeinsamkeiten gibt als angenommen. Jetzt
sucht man eine neue Identität für die ganze Ukraine, statt sich mit
Mitteleuropa zu beschäftigen.

Und wo sucht man?

Manche suchen sie in der ukrainisch-nationalen Vergangenheit – mit
oder ohne Europa -, andere in der russisch-sowjetischen. Eine dritte
Fraktion definiert sich über keines der beiden Konzepte: also weder
über das neo-autoritäre Russland noch über die EU, zu der die Ukraine
ohnehin keinen Zugang hat.

Kann es einen Kompromiss zwischen diesen beiden Polen geben?

Es gibt eine Schule des dritten Wegs. Ihre Vertreter bezeichnen
sich als „Nativisten“. Überspitzt gesagt ist das eine Blut-
und-Boden-Ideologie, die nach den Wurzeln sucht, ihr Heil in der
Isolation sucht und Autarkie predigt. Das liegt gefährlich nah am
Totalitarismus.

In Westeuropa beschäftigen sich nur wenige Autoren mit ihrer
nationalen Identität.

In der Ukraine auch immer weniger. Autoren der Generation Zhadan
beispielsweise setzen sich gar nicht mehr damit auseinander. Falls
doch, dann keinesfalls mit einer nationalen. Der Schwerpunkt
verlagert sich immer mehr auf das Individuum. Deswegen unterscheiden
sich die nationalen Literaturen in Europa auch immer weniger
voneinander. Ich bin ganz und gar kein Fürsprecher des Verschwindens
von Unterschieden, aber sie sollten nicht entlang nationaler Grenzen
verlaufen. Es gibt genügend andere.

Eine Kehrseite dieser Hinwendung zum Individuum ist die
gesellschaftliche Desillusionierung – etwa bei dem von Ihnen
erwähnten Serhji Zhadan.

Ein gesellschaftlicher Umstand, der dennoch in sein Werk
hineinspielt, ist der große Schock für den postsowjetischen Menschen,
plötzlich nicht mehr um- und versorgt zu werden – das ist eine
fundamentale Erfahrung.

Trauern die Ukrainer dem Kommunismus hinterher?

Das mag sein. Ich persönlich kenne zwar niemanden, der das tut,
aber die Statistik behauptet, dass sich eine große Zahl an Menschen
die Sowjetunion zurückwünscht. Sie reden aber immer nur von
Teilaspekten, die im Nachhinein verklärt werden. Ich glaube nicht,
dass jemand im Ernst die Wiederherstellung dieser vergangenen Welt in
ihrer Totalität möchte. Man will sich nur das herauspicken, was man
gern hatte.

Würden Sie sagen, dass die Orange Revolution ihr Ziel erreicht
hat?

Nein. Überhaupt nicht. Sie hat Wichtiges bewirkt. Die Menschen,
die sich daran beteiligt haben, sind anders geworden, als sie vorher
waren. Mit ihnen ist etwas passiert, das man ihnen nie wieder
wegnehmen kann.

Was ist das?

Ich weiß es nicht genau. Vielleicht die Erfahrung, dass man große
Veränderungen durch kleine persönliche Teilnahme bewirken kann – eine
kleine Verantwortung, die sich zur großen formiert. Für viele war das
ein Abschied von der Minderwertigkeit. Es war die Möglichkeit des
Unmöglichen. Trotzdem: Politisch hat die Orange Revolution alle Ziele
verfehlt.

Aber zumindest auf der Ebene der Spitzenpolitik ist die Ukraine
heute demokratischer als vor der Revolution.

Eine Spur vielleicht. Aber es ist weit von dem entfernt, was man
sich von einer Demokratie wünscht und vorstellt. Die letzten beiden
Jahrzehnte in der Geschichte der Ukraine waren ein Übergang von einem
Scheinsystem ins andere. Wobei es sich um zwei unterschiedliche
Scheinsysteme handelt: Das sowjetische System war ein Scheinsystem,
weil es systematisch Schein produzierte; und das ukrainische System
ist ein Scheinsystem, weil es nur vorgibt, ein System zu sein.

Also herrscht heute die Anarchie in der Ukraine?

Es herrscht zumindest Chaos: Das Alte ist weg und das Neue noch
nicht da.

Großer Bahnhof

Bahnhöfe und Züge sind konstituierende Elemente der ukrainischen
Gesellschaft. Inlandsflüge gibt es im flächenmäßig größten Staat
Europas praktisch keine, den Autofahrern machen Schlaglöcher und
Checkpoints mit korrupten Beamten das Leben schwer. Also nimmt man
den Zug: Um 120 Hrywnja, etwa 20 Euro, kann man das Land von West
nach Ost durchqueren (etwa 1500 Kilometer). Das Schienennetz ist
dicht und defizitär. Bahnhöfe gibt es in jedem Dorf, im Westen
weitgehend noch aus der k. u. k. Zeit.

„Galizien-Bukowina-Express“ zeigt Fotos westukrainischer Bahnhöfe
und Züge der Wiener Fotografin Magdalena Blaszczuk, die Essays der
Brüder Taras und Jurko Prochasko erzählen die Geschichte der
östlichen k. u. k. Kronländer Galizien-Lodomerien und Bukowina, wo
die Wiener Beamten für den Fall eines Kriegs gegen das nahe Russland
ein dichtes Schienennetz errichten ließen; und jene der sowjetischen
Aneignung des galizischen Erbes: Statt Personen sollten nun plangemäß
Industriegüter transportiert werden. Heute sind es wieder Menschen,
die durch die Ukraine reisen.

Jurko und Taras Prochasko, Magdalena Blaszczuk:
Galizien-Bukowina-Espress. Eine Geschichte der Eisenbahn am Rande
Europas. Verlag Turia + Kant, 127 S., E 26

Erschienen im Falter 50/07

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Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien

Identität war gestern

OSTUKRAINE Serhij Zhadan, junger Stern der ukrainischen Literatur, hat mit den Themen seiner Vorgänger abgeschlossen. Jetzt ist sein neuer Roman „Anarchy in the UKR“ auf Deutsch erschienen. JOSEPH GEPP

In einer Gesellschaft, die Ziel und Richtung verloren hat, muss es
sich nicht schlecht leben. Glaubt zumindest Serhij Zhadan. Hat man
den Dauerzustand der Anarchie erst einmal akzeptiert, dann kann man
es sich in ihrer poetischen Unmittelbarkeit wohlig einrichten.
„Unerforschlich sind deine Wege, o Herr, was für sinnlose Begegnungen
bereitest du uns auf unseren nicht weniger sinnlosen Touren“,
schreibt er in seinem neuen Buch „Anarchy in the UKR“.

Die interesselose Betrachtung der Zwecklosigkeit gilt dem Autor
mehr als die zielgerichtete Suche. Das hängt auch mit seiner Herkunft
zusammen. Serhij Zhadan, 33, kommt aus Charkiw. Die zweitgrößte Stadt
der Ukraine liegt im äußersten Nordosten des Landes, nur wenige
Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Leute hier sprechen
mehrheitlich russisch. Den halbverfallenen galizisch-lodomerischen
k.u.k. Glanz der westlichen Landeshälfte kennen sie, wenn überhaupt,
nur vom Hörensagen. Industriearchitektur und Plattenbauten prägen
Charkiw. Einziger Prunk sind die Zuckerbäckerbauten Stalins. Der
Zerfall der Sowjetunion ließ die Bevölkerung Charkiws noch
desorientierter zurück als die Westukrainer: Die westliche
Landeshälfte träumt immerhin von Mitteleuropa und lebt in
verheißungsvoller Nähe zur westlichen Hemisphäre. Dem Osten der
Ukraine, der fast seine ganze Geschichte lang zur russischen
Peripherie zählt, bleibt nichts zur Rückbesinnung. Nur das
sowjetische Arbeiterklassenethos lieferte ein bisschen Identität, und
das ist vor den Augen der Menschen zerfallen.

Serhji Zhadans poetische Unmittelbarkeit entstammt dieser
Unmöglichkeit der Orientierung. Sein Roman „Depeche Mode“ erschien im
Frühjahr in deutscher Übersetzung und schildert vier Tage der
Adoleszenz im chaotischen Charkiw aus dem Jahr 1993: „Die Fabrik
zerfiel wie alles im Land, was zu stehlen war, stahl der Direktor,
was nicht – machte er kaputt, sagen wir, er hielt sich an die
Instruktionen der Zivilverteidigung.“

Es folgten Gedichtbände (von denen „Geschichte der Kultur zu
Anfang des Jahrhunderts“ ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde) und
schließlich „Anarchy in the UKR“. Serhji Zhadan wurde damit zum
Gegenpol der westukrainischen Literatur, die es sich zur Aufgabe
gemacht hat, dem Land eine neue Identität zu geben. „Charkiw hat eine
ebenso pulsierende Literaturszene wie Lemberg oder Ivano-Frankivsk.
Nur weiß das niemand“, erklärt Zhadan. In Lemberg, westliche Ukraine,
Schauplatz der größten, alljährlich im September stattfindenden
Literaturmesse des Landes, leben und schreiben beispielsweise Ljubko
Deresch und Jurko Prochasko. In Ivano-Frankivsk, ebenfalls im Westen,
wohnt der bekannteste ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch
und eine Reihe anderer Autoren, die sich unter dem Schlagwort
„Stanislauer Kreis“ versammelt haben – Stanislau ist der
deutschsprachige Name der ehemals österreichisch-ungarischen Stadt.
Diese Autoren publizieren im Suhrkamp Verlag und gelten im Westen als
vitale Vertreter ihres literarisch so aktiven Landes. „In der Ukraine
nennen wir sie die Achtzigerjahre-Generation“, sagt Zhadan, der sich
nicht zu ihnen zählt. „Ich habe von Juri Andruchowytsch viel gelernt.
Aber wir sind in vielen Dingen verschiedener Ansicht.“

Andruchowytsch ist alles andere als ein Vertreter poetischer
Unmittelbarkeit. In seinen Essays (siehe auch S. 68) setzt er sich
mit Kultur und Geschichte seines Landes auseinander, seine Romane
sind wohlkonstruierte Sinnsuchen, immer im Hinblick auf die
versunkene Welt Österreich-Ungarns. „Das sind Bücher über
Mitteleuropa, alle liberal in ihrer politischen Haltung, alle dem
europäischen Kurs verpflichtet.“

Serhij Zhadan behauptet nicht, dass er all das nicht wäre. Es ist
bloß zu spät, um noch ernsthaft solche Haltungen zu propagieren: 17
Jahre nach der Wende geht alles seinen schleppenden Gang – ohne
Aussicht auf Besserung. Und so beschreibt Zhadan die Schönheit
flüchtiger Zugsbekanntschaften und die Poesie von Wodkabesäufnissen
im Bahnhofsbeisl. „Sag Nein zur nationalen Wiedergeburt, dich hängen
sie als Ersten auf, du störst ihren Politbetrieb, störst ihre
Absprachen, ihre frisierten Fernsehratings, du störst sie dabei, dich
zu verarschen, das Internet zu kontrollieren, Wahlkämpfe zu gewinnen,
die Demokratie aufzubauen“, heißt es in seinem jüngsten Buch, das im
Titel die Sex Pistols zitiert.

Bloß ist UKR-Anarchismus im Gegensatz zum UK-Anarchismus kein
jugendkulturelles Phantasma, er prägt das ganze Land – oder zumindest
eine Landeshälfte. Keine Identität ist anstelle des
Arbeiterklassenethos getreten: „Vielleicht wird es irgendwann
abgetragen, dieses (Lenin-) Denkmal, sie schicken einen Kran und
demontieren es einfach, und an seine Stelle wird irgendeine
allegorische Figur installiert, die in den Augen der Nachkommen die
Vollendung der nationalen Befreiungsbewegung symbolisiert.“ Das ist
die Ostukraine seit der Wende. Und so handelt „Anarchy in the UKR“
davon, dass sich Zhadans Icherzähler in seiner Heimatgegend auf die
Suche nach den Spuren des ostukrainischen, nach dem Zweiten Weltkrieg
von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus macht. Nach
irgendwas muss man ja doch suchen. Auch wenn es nichts zu finden
gibt.

Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR. Aus dem Ukrainischen von
Claudia Dathe. edition suhrkamp, 216 S., € 10,30

Erschienen im Falter 50/07

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Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Osteuropa

STADTRAND – Synchron schlenkern

Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass die orangen Halteschlingen
an den Decken der U-Bahn-Wägen immer synchron schlenkern? Nur wenn
sich die U-Bahn-Tür öffnet und der Wind von draußen die Ordnung
stört, dann kommt die eine oder andere Unregelmäßigkeit in den
perfekt choreografierten Gleichschritt. Wenn sie dann aber schließt
und der Zug beschleunigt, beginnt die Reihe ihren wagenlangen Cancan.
Allerdings: Pro Waggon finden sich immer ein bis zwei Griffe, die
sich der Konformität widersetzen. Wenn alle nach rechts schlenkern,
schlenkern sie nach links; wenn alle den tiefstmöglichen Punkt ihrer
Bewegung erreichen, erreichen sie den höchstmöglichen. Liegt das an
der Reibung? Kleine schmieröldunkle Halterungen verbinden den Griff
mit der Decke. Werden sie nicht alle gleichermaßen eingeölt? Schwer
vorstellbar, dass die perfide Absicht eines anarchistisch veranlagten
U-Bahn-Mitarbeiters dahintersteckt. Wahrscheinlich ist es
Chaostheorie: Bei der Vielzahl der möglichen Ausgangsbedingungen
lässt sich nicht mehr sagen, wie das Ausscheren des Einzelnen
zustande kommt. J. G.

Erschienen im Falter 48/07

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Eingeordnet unter Stadtleben, Stadtrand, Verkehr, Wien

STADTRAND – Stuwer Kiez

Es ist immer wieder schön, in der zweitgrößten Stadt des deutschen
Sprach-raums Parallelen zur größten Stadt desselben zu entdecken. Das
gibt einem dann das Gefühl, dass sich hinter dem aufgebrezelten
Wiener Ringstraßentum auch ein bisschen was vom so sympathischen
Berliner Grätzl-(Kiez-)Charme verbirgt, den man in Wien oft mit der
Lupe suchen muss. Also: Das Stuwerviertel erinnert frappant an den
Berliner Stadtteil Neukölln. Die Baumreihen zwischen Gehsteigen und
Straßen (sehr unwienerisch), deren gelbrote Blätter im Herbst das
ganze Viertel zuschütten. Die quer statt parallel zur Gehsteigkante
stehenden Autos (eher unwienerisch). Die schmucklosen
Arbeiterzinshausfassaden. Die fremdsprachigen Schilder vor Geschäften
und Restaurants. All das ist so neuköllnerisch! Wäre da nicht ein
Haus in der Stuwerstraße, inmitten all der Blätter und bröckelnden
Fassaden: Ein Genossenschaftswohnblock der Stadt Wien offenbar,
typische Kommunalarchitektur der Neunzigerjahre. Ein schmerzhafter
Riss in der Einheitlichkeit des ganzen Viertels. Plötzlich ist man
wieder in Wien. In Neukölln würd’s so etwas nicht geben. J. G.

Erschienen im Falter 46/07

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Eingeordnet unter Stadtleben, Stadtrand, Wien