Arm und sexy

20 Jahre Fahrradboten Das ist Mitos. Er ist der schnellste Bote Österreichs. Nur deshalb verdient er gut. Eine Tour durch die kultige und prekäre Welt der Wiener Radboten. JOSEPH GEPP

Statt eines Einstellungsgesprächs hatte Róbert Mitosinka, 25,
eine Irrsinnsfahrt durch Wien zu bewältigen. „Es war mein erster Tag
in der Firma“, erzählt der Slowake, „und der Chef sagte: In der
Jasomirgottstraße im ersten Bezirk wartet eine Lieferung auf dich.
Jetzt wirst du zeigen, was du kannst.“ Mitosinka – am Funkgerät
heißt er „Mitos“ – zeigte, was er kann: Er raste los. Von der
Zentrale des Fahrradbotendienstes Go in Rudolfsheim-Fünfhaus über die äußere und innere Mariahilfer Straße, Gumpendorfer Straße („Da sind weniger Ampeln als auf der Mariahilfer Straße“), Ring und Kärntner Straße („Bis halb elf sind dort auch Fahrräder erlaubt“) bis zur Jasomirgottstraße beim Stephansplatz. Zwölf Minuten brauchte er bis ans Ziel. Mitos, nach den Ergebnissen der österreichischen Fahrradbotenmeisterschaft der schnellste Bote des Landes, hatte den
Eignungstest bravourös bestanden. Er war von nun an fixer Bestandteil des Go-Teams.

So fix, wie man bei Go und allen anderen Fahrradbotendiensten eben arbeiten kann. Mitos ist freier Dienstnehmer. Die soziale
Absicherung ist minimal, bezahlt wird pro Auftrag. Eine Fahrt
innerhalb des ersten Bezirks kostet den Kunden beispielsweise 7,20
Euro. Von den sechs Euro, die nach Abzug der Steuer bleiben, erhält
der Fahrer etwa die Hälfte. In der Regel gilt: Beträgt die Strecke
weniger als fünf Kilometer, dann kommen Fahrräder im Stadtgebiet um dreißig Prozent schneller voran als Autos. Eine Rechnung, in der eine Marktlücke schlummert. Das witterte der Salzburger Paul Brandstätter vor zwanzig Jahren – und gründete im November 1987 nach US-amerikanischem Vorbild Veloce, Wiens ersten Fahrradbotendienst und seitdem Marktführer. Die Rechnung zahlt sich für potenzielle Kunden aber nur dann aus, wenn sich die dreißig Prozent Schnelligkeitsgewinn
auch im Preisvorteil widerspiegeln: In den Neunzigerjahren folgten
zahlreiche andere Botendienste dem Erfolgsrezept Brandstätters – und als 1994 Go gegründet wurde, war das gegenseitige Unterbieten schon voll entbrannt: „Bwin, einer unserer Großkunden, verlangte eine Preisreduktion von fünfzig Cent pro Auftrag“, erzählt ein Kenner der Härten des Botengeschäfts, „und wir mussten nachgeben. Bei der derzeitigen Konkurrenzsituation können wir nicht einfach Nein sagen.“

Die jungen Flitzer mit ihren verschwitzten Gesichtern,
isolierbandumwickelten Funkgeräten und leuchtgelben Taschen aus
zusammengeschweißten Lkw-Planen, die später stilprägend für eine
ganze Generation Stadtmenschen wurden, gelten als Speerspitze der
postmodernen Beweglichkeit. Ihre fantasievollen Funknamen – eine Idee von Paul Brandstätter, der seine Fahrer nicht in Taximanier mit
bloßen Nummern ansprechen wollte – wurden zum Ausdruck einer
zeitgeistigen Individualität, wie sie die etwa 200 Wiener
Fahrradboten als Standesethos vor sich her tragen. Aber der
Preiskampf machte das Geschäft härter, und so kann sich heute hinter dem Mythos vom pfeilschnellen Cola-Light-Mann, der mit seinem unkonventionellen Auftreten ein bisschen Anarchie in wohlgeordnete Amtsstuben bringt, so manche triste Einkommenssituation verbergen.

Das gilt nicht für alle: Schnelle Radler mit entsprechend vielen
Aufträgen können gutes Geld verdienen. Mitos beispielsweise ist ein
Profi. Ehe er vor zwei Jahren nach Österreich kam, war er Mitglied
des slowakischen U 23-Fahrrad-Nationalteams. Er arbeitet Vollzeit,
fünf Tage pro Woche. An einem durchschnittlichen Arbeitstag legt er
etwa hundert Kilometer zurück. Vergangenen September hat er damit
etwa 1400 Euro verdient. Unerfahrenen dagegen kann es passieren, dass
bei schlechter Auftragslage am Ende einer Neuneinhalbstundenschicht
nicht mehr als dreißig bis vierzig Euro übrig bleiben. Carola Mayer,
31, Funkname „Leela“, ist eine solche Unerfahrene: Sie studiert
Erziehungswissenschaften und arbeitet seit April zweimal pro Woche
nebenher als Fahrradbotin. „Die Gasserln des ersten Bezirks sind mir
nach wie vor ein Rätsel“, sagt die Niederösterreicherin, „da muss ich
auf den Stadtplan zurückgreifen.“ An guten Tagen bleiben ihr etwa 65
Euro. Trotzdem: „Es ist ein schöner Job. Manchmal komme ich in ein
Büro, sehe die Angestellten in ihren Anzügen und Kostümen und denke
mir: Ihr habt ja gar keine Ahnung, was es sonst noch alles gibt.“
Leela gerät ins Schwärmen. Vor ihrer Zeit als Fahrradbotin hat sie
zehn Jahre lang in diversen Büros gearbeitet: „Das Fahrradbotendasein
ist irgendwie outlawmäßig. Du tänzelst um Hindernisse und erregst die
Aufmerksamkeit der Fußgänger, wenn du an ihnen vorbeizischst. Man
fühlt sich frei und unabhängig – ferngesteuert von der Zentrale und
doch allein auf der Straße.“ Psychologen bezeichnen das, was Leela so
fasziniert, als den „Flow-Effekt“: Angeregt durch übermäßigen
Endorphinausstoß stellt sich bei starker Konzentration auf eine
Tätigkeit das Gefühl des völligen Aufgehens in derselben ein – etwa
bei längerem Joggen, Meditieren oder auch Radfahren. Leela seufzt und
streicht ihre roten Haare aus dem Gesicht: „Aber reich wirst du halt
nicht damit.“

Ich fühle mich definitiv unterbezahlt“, sagt auch der 42-jährige
Johann Palko, Funkname „Wildheart“, der mit seinem Gehalt eine
Familie versorgen und ein Haus im niederösterreichischen Pressbaum
erhalten muss. Sollte ihn eine längere Krankheit oder ein
Spitalsaufenthalt einmal vom Botendienst abhalten, dann könnte Palkos
finanzielle Situation schnell kritisch werden: Sein Arbeitgeber,
ebenfalls Go, trägt zwar die Unfallversicherung – da die Entlohnung
jedoch ausschließlich auftragsbasiert erfolgt, fällt die
Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall weg. „Ich mag meinen Job. Er
vermittelt mir ein Gefühl von Freiheit. Aber eine Lösung für den Rest
meines Lebens kann er nicht sein“, sagt er.

Im Jahr 2004 formierten sich die Fahrradboten erstmals zum
Widerstand gegen ihre unregulierten Arbeitsverhältnisse: Bei Veloce
stand eine Preiserhöhung beim Kunden an. Die Lohnerhöhung bei den
Boten, die darauf folgen sollte, blieb allerdings aus. Daraufhin trat
die Belegschaft fast geschlossen in den Streik. „Die ganze Situation
hat sich damals sehr aufgeschaukelt“, erzählt „Fortuna“, ein
langjähriger Mitarbeiter von Veloce. „Die Führung hat ziemlich
kopflos agiert. Unser Chef hat uns nicht einmal empfangen.“ Den
Radlern wurde zu diesem Zeitpunkt sogar der Einblick in ihre eigenen
Versicherungsverträge verwehrt, die Veloce-Chef Brandstätter für sie
abgeschlossen hatte – und die mit allerhand ominösen Zusatzklauseln
versehen waren. Als der Streik begann, verweigerte Brandstätter das
Gespräch. Als er sich ausweitete, kündigte er die gesamte Belegschaft
– um sie gleich darauf wieder einzustellen. Als die zornigen
Beschäftigten danach einen Betriebsrat wählen wollten, riss er den
Aushang mit der Kandidatenliste von der Wand. Mit Transparenten, auf
denen „Schluss mit der Ausbeutung der Atypischen“ stand, fuhren die
Radler daraufhin demonstrierend über die Ringstraße. Zwei Wochen lang
standen die Räder still. Dann gab Brandstätter nach, legte die
Verträge offen und strich einige Nebenkosten, beispielsweise eine
„Bearbeitungsgebühr“ für das Ausstellen von Honorarnoten. Eine Art
Betriebsrat, die „Fahrervertretung“, setzt sich seitdem für die
Belange der Veloce-Radler ein. Das Ergebnis des wochenlangen
Konflikts war eine kleine Lohnerhöhung – ohne dass sich an der
Gesamtsituation etwas änderte: Sozialstaatliche Errungenschaften wie
Abfertigung, Krankengeld, 13. und 14. Monatsgehalt oder
Arbeitslosenhilfe waren für die Fahrradboten weiterhin undenkbar. „Es
gibt eben nur zwei Extreme“, resümiert Fortuna, „einerseits das fixe
Arbeiter-oder Angestelltenverhältnis. Das ist bei der Flexibilität
und freien Zeiteinteilung eines Fahrradbotenjobs nicht durchführbar.
Andererseits die Anstellung als freier Dienstnehmer. Hier wiederum
fehlt weitgehend die soziale Sicherheit.“

Einen Mittelweg versucht der kleine Botendienst Hermes im dritten
Bezirk. Hermes zahlt seine Fahrer nicht pro Auftrag, sondern pro
Arbeitsstunde – 7,30 Euro, unabhängig davon, wie viele Aufträge sie
verrichten. Die etwa zwanzig Hermes-Boten gelten als die radelnde
Elite, die Warteliste für potenzielle Mitarbeiter ist länger als bei
allen anderen Diensten. Hermes ist als gemeinnütziger Verein
organisiert, Besitzer ist das Kollektiv seiner Boten, das die
Einkünfte unter sich aufteilt und mit dem, was übrig bleibt, die
Betriebskosten finanziert. „Michi“, 31, seit acht Jahren bei Hermes,
verrät ebenfalls nur seinen Funknamen. Er zögert nicht, die anderen
Botendienste als „Ausbeuterfirmen“ zu bezeichnen: „Wir sind als
basisdemokratisches System organisiert. Bei uns wird alles im Konsens
entschieden.“ Dass es keinen „großen anonymen Chef“ gebe, steigere
die Motivation der Fahrer, meint er. Aber warum soll sich ein Fahrer
überhaupt bemühen, wenn er weiß, dass dem Schnellsten dieselbe
stundenweise Bezahlung zusteht wie dem Langsamsten? „Es stimmt, dass
wir damit zu kämpfen haben“, sagt Michi. Sollte sich jemand nicht
bemühen, dann stimmt das Kollektiv über seinen Rauswurf ab. „Das
kommt schon hin und wieder vor.“ Wie oft, will er nicht sagen – er
sei ja noch nicht so lange in der Firma, die mittlerweile seit knapp
15 Jahren existiert. „Nichtsdestotrotz: Insgesamt sind wir alle
hochmotiviert.“

Die Go-Fahrer widersprechen. „Ich will einfach mehr verdienen,
wenn ich Vollgas gebe“, sagt Leela. „Die Bezahlung könnte besser
sein, aber ich ziehe das Leistungssystem trotzdem vor“, sagt auch
Johann Palko. Und beginnt zu erklären, was einen guten Fahrradboten
ausmacht: „Hazen allein hat keinen Sinn. Man muss die Schleichwege
kennen. Durchhäuser und Innenhöfe bringen viel an Zeitersparnis. Und
man muss wissen, wo man anläutet.“ Dass derartige Erfahrung auch
honoriert sein will, zeigt ein Experiment, das zwei Wissenschaftler
der Universität Zürich im Jahr 2002 durchführten: Vier Wochen lang
teilten sie den Zürcher Botendienst Veloblitz in zwei Gruppen und
zahlten einer Gruppe 25 Prozent mehr Lohn als der anderen. Das
überraschende Ergebnis war, dass die Besserbezahlten nicht mehr,
sondern geringfügig weniger arbeiteten als die andere Gruppe. Die
Wirtschaftswissenschafter erklärten das mit einem Ziellohn, den sich
der ungebundene Fahrradbote jeden Tag setzt: Ist der Ziellohn
schneller erreicht, dann wird eben etwas weniger gearbeitet. „Im
Prinzip ist das System schon gut so, wie es ist“, sagt Johann Palko,
„aber eine Gewerkschaft würde ich mir trotzdem wünschen.“

Erschienen im Falter 40/07

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Eingeordnet unter Arbeitswelten, Stadtleben, Wien

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