Im ukrainischen Macondo

OSTWÄRTS Juri Andruchowytsch, der bekannteste Schriftsteller der Ukraine, wollte für sein Land eine neue Identität finden. Er
scheiterte an seinem ersten Besuch in Wien. JOSEPH GEPP

Hinter dem überdimensionierten Blatt der Alocasiapflanze versteckt sich das Dachfenster, und dahinter liegt Iwano-Frankiwsk, die Heimatstadt von Juri Andruchowytsch. Auf der rechten Straßenseite steht ein Plattenbau nach sowjetischer Bauart, heruntergekommen bis an die Grenze zum Verfall, mit Fernsehantennen auf dem Dach und Wäscheleinen auf den Balkonen, deren Schutzgeländer mit Wellblechplatten verstärkt sind. Das ist, wenn man will, Russland. Links steht ein gründerzeitliches Haus aus dem 19. Jahrhundert, ebenfalls heruntergekommen, mit ziegelsteinernen Rauchfängen und von dunklen alten Holzrahmen in etliche kleine Rechtecke geteilten Fenstern. Das ist die Ukraine. Neben Russland nimmt sich die Ukraine wie ein kleiner Anbau aus.

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Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat eine Schwäche für
drastische Formulierungen. Was die beiden gegensätzlichen Häuser für ihn bedeuten, nennt er den „kulturellen Schatten Russlands über der Ukraine“. Dieser sei schuld daran, dass sein Land wohl für immer im Wartezimmer zum Wartezimmer der EU-Mitgliedschaft bleiben wird. Dass kaum jemand aus dem Westen Polen oder die Slowakei, viele jedoch die Ukraine mit Russland assoziieren. Dass die ukrainische Sprache gegenüber der russischen nach und nach an Bedeutung verliert. Abseits von Politik und Wirtschaft zeigt sich der kulturelle Schatten in Tausenden Einzelheiten, die den ukrainischen Alltag prägen: „Wenn ich von der Slowakei in die Ukraine fahre, komme ich in eine völlig andere Welt. In der Slowakei hört man Madonna. In der Ukraine ist die Unterhaltungskultur ausschließlich russisch“, sagt Andruchowytsch. Die blinkenden kyrillischen Leuchtschriften auf den Hausfassaden, der
dröhnende Techno in den Bars, die Trainingsanzüge im Russenmafialook, die die Jugendlichen tragen – all das haben Russland und die Ukrainegemeinsam. „Wir sind hier ein paar tausend Kilometer von Moskau entfernt, aber der russische Einfluss überstrahlt alles“, sagt Andruchowytsch. In seinen frühen Büchern hat der Schriftsteller die Symptome des „kulturellen Schattens“ immer wieder geschildert und sich süffisant über die Obrigkeitshörigkeit und die historisch
bedingte Lethargie der Menschen lustig gemacht. In seinen späteren
Essays suchte er nach Möglichkeiten, der Ukraine eine eigene
nationale Identität zu geben. Denn Russland, das ist, wie er in einem
seiner Essays schreibt, die „destruktive Kraft aus dem Osten, die
schon immer unsere mitteleuropäische Welt vernichten wollten“ – und die Ukraine, zumindest ihr Westen, ist Mitteleuropa. Was ist
Mitteleuropa? „Das liegt tief im Unterbewusstsein dieser Region.“
Juri Andruchowytsch nennt die österreichisch-ungarische Literatur der Jahrhundertwende, die fruchtbare Symbiose von Deutschsprachigen, Juden und Slawen, die die Region früher prägte, die verwinkelte Gründerzeitarchitektur. Das sei ein Erbe, auf das man sich berufen, auf das man stolz sein könne. Heute dagegen teilt die Ukraine die postsowjetische Einheitlichkeit mit Moskau und den Steppen Zentralasiens. In kultureller Hinsicht hat die Sowjetunion nie zu bestehen aufgehört. Diesem Problem hat der 47-Jährige sein
literarisches Leben gewidmet.

Es ist ein literarisches Leben, das ihm einiges an Erfolg
eingebracht hat: Juri Andruchowytsch gilt als bekanntester
Schriftsteller seines Landes und wichtigste Stimme der ukrainischen
Kulturschaffenden im Westen. Seine Bücher – vier Romane, zwei
Essaysammlungen, einige Gedichtbände und eine soeben publizierte
Autobiografie, die im Herbst 2008 in deutscher Übersetzung erscheinen
soll – findet man in der Ukraine in jeder besseren Trafik. In
Deutschland werden sie vom Suhrkamp-Verlag herausgegeben. Das
Arbeitszimmer mit Blick auf die ukrainische Zerrissenheit, wo all
diese Bücher entstanden, umfasst nicht einmal zehn Quadratmeter und
ist voll eigener und fremder Bücher in deutscher, englischer,
russischer und ukrainischer Sprache, dazwischen stehen Bilder, für
die an den Wänden kein Platz mehr ist.

Ende der Achtzigerjahre, als das Sowjetimperium in seinen letzten
Zügen lag, ging Juri Andruchowytsch nach Moskau und beschrieb den
absurden Alltag in der Stadt in seinem Roman „Moscoviada“. Damals
mobilisierte das morsche Reich noch seine letzten Kräfte, um
Oppositionelle in Schach zu halten; Andruchowytsch, der davor schon
mit seinen kritischen Gedichten aufgefallen war, wurde vom KGB
observiert und zu Gesprächen vorgeladen, um zur Kooperation gezwungen
zu werden. „Die Leute vom KGB setzten mich unter Druck, damit ich sie
mit Informationen beliefere. Aber die Perestroika hatte schon
begonnen, und so konnte ich Zeit gewinnen. Jeder Tag brachte uns
damals der Freiheit näher. Bald brauchte ich mich vor dem KGB nicht
mehr zu fürchten.“ „Moscoviada“ erschien kurz nach der Wende, und die
radikale Offenheit, mit der Andruchowytsch die Unabhängigkeit der
Ukraine unterstützte und voll Sarkasmus die Apathie des
Sowjetmenschen beschrieb, schockierte die Menschen, die selbst erst
kürzlich von Sowjets zu Ukrainern geworden waren. „Darin besteht ja
die Tragik des Imperiums: dass es beschlossen hat, das Unvereinbare
zu vereinen – Esten und Turkmenen. Und wir, die Ukrainer, wo befinden
wir uns auf dieser Skala? Irgendwo in der Mitte? Das ist ein geringer
Trost“, lässt er seinen Helden in „Moscoviada“ räsonieren. Die Frage
nach der nationalen Identität war nach der plötzlichen Implosion der
Sowjetunion und der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 akut geworden.
Ihrer Suche hat sich Juri Andruchowytsch verschrieben. Sie führte ihn
nach Westen – in die Hauptstadt eines Landes, dessen Bestandteil die
Westukraine einmal war. In einem Interview im März 2007 hatte er Wien
„kalt und provinziell“ genannt: „Möglicherweise habe ich in meinen
Romanen die österreichischen Protagonisten umkommen lassen, um damit
gewissermaßen den Österreicher in mir umzubringen. Österreich ist
heute zur tiefsten Provinz verkommen“, erzählte er damals der Neuen
Zürcher Zeitung. Er scheint das, was er in Österreich gesucht hat,
nicht gefunden zu haben.

Wird er darauf angesprochen, bemerkt man, wie genau er seine Worte
abzuwägen beginnt. Er will nicht unhöflich sein. Er streicht über
seinen Bart und lächelt breit, um die Subjektivität seiner Sichtweise
zu betonen und seine Worte so ein wenig zu relativieren. Das „kalt
und provinziell“ sei von der Zeitung aus dem Zusammenhang gerissen
worden, behauptet er, aber: „Ich habe in Wien kein Verständnis
gefunden. Ich war auf negative Weise überrascht. Die Westukraine ist
als ehemaliger Teil der Donaumonarchie sehr stark vom
österreichisch-ungarischen Erbe geprägt. Die Wiener aber kennen sie
nicht einmal. Oder sie assoziieren sie bestenfalls mit Russland.“ Ein
Literaturstipendium ermöglichte Andruchowytsch 1997 einen
zweimonatigen Aufenthalt in Wien. Er perfektionierte seine
Sprachkenntnisse und wohnte in der Laxenburger Straße, in einer WG
mit zwei anderen osteuropäischen Schriftstellern. „Man ging an einem
Billa vorbei, durch einen Hof in den zweiten Stock, dort lebten wir
zu dritt.“ Nach zwei Monaten war er froh, wieder nach Iwano-Frankiwsk
zurückzukehren. „Wien hat eine merkwürdig depressive Grundstimmung“,
meint er, „es hängt eine gewisse Verwirrtheit und psychologische
Komplexität über dieser Stadt. Das wirkt sich auf die Stimmung aus.
Ich kann nicht behaupten, ein intimes Verhältnis zu Wien aufgebaut zu
haben.“ Er klingt so, als würde er sich gleich für seine Worte
entschuldigen – und erzählt, wie er in Wien Journalisten und
Schriftsteller traf, um ihnen von Lemberg zu erzählen. Lemberg,
ukrainisch Lwiw, etwa hundert Kilometer von Iwano-Frankiwsk entfernt,
ist die einstige Hauptstadt des österreichisch-ungarischen Kronlandes
Galizien-Lodomerien und heute eine der größten Städte der westlichen
Ukraine: „Ich dachte, jeder würde Lemberg kennen. Diese Stadt ist so
sehr von der Wiener Kultur und Architektur geprägt. In Wien kennt sie
allerdings niemand, und ich erntete nur verständnislose Blicke, wenn
ich davon zu erzählen anfing.“

Um die Strecke zwischen Iwano-Frankiwsk und Lemberg zurückzulegen,
braucht man mit dem Auto mehr als zwei Stunden. Sie führt durch die
grünen Hügel der nördlichen Karpatenausläufer, durch Bauerndörfer, in
denen vor jedem Haus ein christlich-orthodoxer Schrein aus Holz steht
und alte Frauen am Straßenrand Kühe grasen lassen. Von Wien liegt
diese Region gerade so weit weg wie in der Gegenrichtung Vorarlberg.
Andruchowytsch hatte seine Studienjahre in Lemberg verbracht und war
dann nach Iwano-Frankiwsk zurückgekehrt. „Moscoviada“ ermöglichte ihm
ein Leben als freier Schriftsteller, dessen Standard heute weit über
dem ukrainischen Durchschnitt liegt – und dennoch für westliche
Verhältnisse ziemlich bescheiden ist. In den Neunzigerjahren entstand
rund um Andruchowytsch eine Szene von ukrainischen Schriftstellern,
die sich in Iwano-Frankiwsk ansiedelten oder die Stadt besuchten.
Damals etwas über dreißig Jahre alt, war er bereits zum alten Herrn
der jungen ukrainischen Literatur geworden. Er band die Szene an sich
und protegierte junge Autoren, bei denen er Talent festzustellen
glaubte.

In einem seiner Essays bezeichnet Andruchowytsch seine Stadt –
nach dem García-Márquez’schen Fantasieort in „Hundert Jahre
Einsamkeit“ – als „ukrainisches Macondo“. Zu den etwa 200.000
Einwohnern der Kreishauptstadt kamen immer mehr Künstler und
Intellektuelle, die das liberale Klima, das kreative Umfeld und ihr
Doyen Andruchowytsch anzog. „Nach der Wende entstand eine besondere
Aufbruchsstimmung in Iwano-Frankiwsk. Wir lasen Romane von Joseph
Roth, Bruno Schulz und Leopold von Sacher-Masoch und sprachen
darüber, wie wir das Erbe der Donaumonarchie wiederaufleben lassen
könnten.“ In den Lacken der rissigen Pflasterstraßen von
Iwano-Frankiwsk spiegeln sich immer noch Fassaden aus der k. u. k.
Zeit, wie man sie in jeder österreichischen Bezirkshauptstadt findet.
Vom neubarocken Bahnhof der Stadt fuhren früher die Züge nach Wien,
heute fahren sie nach Kiew und Odessa. Die großen Kasernen aus der
Kaiserzeit haben sich heute in Verwaltungsgebäude verwandelt, der
einstige Doppeladler wurde erst von Hammer und Sichel und dann vom
gelben Dreizack, dem ukrainischen Nationalsymbol, abgelöst. Dagegen
hat die sowjetische Zeit mit ihren Platten- und schlichten
Verwaltungsbauten ein vergleichsweise unauffälliges Erbe
hinterlassen. Andruchowytsch schließt daraus, dass es die Westukraine
in ihrer heutigen Form „ohne das alte Österreich nicht gegeben
hätte“. Selbst die Tatsache, dass die ukrainische Sprache noch
existiert, führt er auf Österreich-Ungarn, das „leichtsinnigste aller
Imperien“, zurück: Wäre die ganze Ukraine dem zaristischen Russland
unterstanden – tatsächlich war es im Gegensatz zum österreichischen
Westen nur die Zentral- und Ostukraine – dann hätte das Russische
längst das Ukrainische aufgesogen, schreibt er. „Kaum zu glauben,
dass es Zeiten gab, da meine Stadt Teil eines staatlichen Organismus
war, zu dem nicht Tambow und Taschkent, sondern Venedig und Wien
gehörten.“

Andruchowytsch musste erst nach Wien gehen, um zu sehen, was
tatsächlich von der Donaumonarchie geblieben war – jenseits seiner
Träume von einer neuen ukrainischen Identität in Mitteleuropa. „Das
war das Ende meiner privaten Utopie“, meint er heute. Er überlegt
kurz. „In Wahrheit ist Österreich für die Einwohner von Galizien
genauso weit entfernt wie jedes andere Land in Europa auch.“

Zur Person

Juri Andruchowytsch

Seit seinem Roman „Moscoviada“ aus dem Jahr 1993 gilt Juri
Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk, als bekanntester
Autor der Ukraine. Andruchowytsch begann in der
Untergrund-Literaturszene der Achtzigerjahre und wurde nach der Wende
zu einer Art kulturellen Botschafter seines Landes in Westeuropa.
Sein zuletzt auf Deutsch erschienener Roman „Zwölf Ringe“ handelt vom
Leben und Sterben des österreichischen Fotografen Karl-Joseph
Zumbrunnen im westukrainischen Galizien.

Erschienen im Falter 38/07

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Ein Kommentar

Eingeordnet unter Bücher, Die vielschichtigen Verbindungen zwischen Osteuropa und Wien, Osteuropa, Reportagen

Eine Antwort zu “Im ukrainischen Macondo

  1. erstmalig

    nur eine bitte: hab keine e-mail-adresse mehr von Dir, wär super, wenn Du mir an meine datum- oder gmx-adresse schreiben könntest.

    lg aus berlin,

    stefan

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