Tausendundeine Erbschaft

Aus dem profil 36/2019 vom 1. September 2019

Die SPÖ sorgt im Wahlkampf mit der Forderung nach einer Erbschaftssteuer für Aufsehen. Sie soll viel Geld bringen und zugleich wenige Menschen belasten. Geht das denn? Die Daten zeigen: möglicherweise schon.

Von
Joseph Gepp

Eigentlich müsste Österreichs Sozialdemokraten zum Jubeln zumute sein. Die Folgen der Ibiza-Affäre beschäftigen neben der FPÖ auch die ÖVP; zudem ist die Debatte über Migration aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten. Gut für die SPÖ, sollte man meinen. Doch es hilft nichts: Die Umfragen sind mau; für Aufsehen sorgen vor allem parteiinterne Querelen, während inhaltliche Vorstöße unentschlossen wirken. Zuletzt bekannten sich die Sozialdemokraten zwar mit viel Getöse zum Klimaschutz, lehnten aber zugleich eine CO2-Steuer ebenso ab wie ein teureres Schnitzel. Nun liegt ein weiterer roter Vorschlag auf dem Tisch. Anfang der Woche sorgte Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda mit dem Wunsch nach einer Erbschaftsund Schenkungssteuer für Aufsehen. Ganze 35 Prozent soll sie auf sehr hohe Erbschaften betragen. Die Reaktionen waren heftig. Die FPÖ etwa zweifelte an „der Ernsthaftigkeit dieses Verlangens“; die Industriellenvereinigung sprach von „plumpem Populismus“. Fest steht: So abseitig, wie die Kritiker tun, ist die Forderung bei Weitem nicht. In Österreich plädiert nicht nur die SPÖ für eine Erbschaftssteuer (übrigens nicht erst unter Pamela Rendi-Wagner, auch Vorgänger Christian Kern und Werner Faymann waren bereits dafür). Auch Grüne und Liste Jetzt haben die Steuer im Programm -wobei die Konzepte der Kleinparteien im Detail durchaus strenger ausfallen als bei der SPÖ. Unterstützt wird das Vorhaben zudem von einigen prominenten österreichischen Reichen, etwa Strabag-Gründer Hans Peter Haselsteiner und Erste Group-Chef Andreas Treichl.

Sie empfinden es als leistungsfeindlich, dass Erben steuerfrei davonkommen, während die einfachen Beschäftigten saftige Steuern auf ihre Gehälter abliefern müssen. Haselsteiner und Treichl schlagen damit in eine ähnliche Kerbe wie das Wiener Wifo, größtes schade der Wirtschaft, so die Experten: Würden Arbeitende geringere Steuern zahlen und Vermögende im Gegenzug höhere, wäre dies „vergleichsweise wachstums-und beschäftigungsverträglich“. Wirtschaftsforschungsinstitut im Land. Dieses konstatierte im Jahr 2015, dass die Einkommen der Arbeitenden hierzulande übermäßig belastet seien, während Vermögende steuerschonend davonkämen. Dies

Doch wie konkret die Erbschaften besteuern? Das SPÖ-Konzept nimmt den Wert der jeweiligen Erbschaft (minus Schulden) in den Blick -von der Immobilie bis zum Aktienpaket. Überschreitet der Gesamtwert eine Million Euro, ist auf die überzählige Summe die Steuer fällig. Je nachdem, wie viel geerbt wird, sind 25 oder 35 Prozent (Letzteres ab einer Erbschaft von zehn Millionen) abzuliefern. Wer also beispielsweise eine luxuriöse Eigentumswohnung in Wien erbt, deren Marktwert 1,2 Millionen Euro beträgt, müsste darauf 50.000 Euro Steuer bezahlen. Im Gegenzug soll laut SPÖ die Grunderwerbssteuer wegfallen: Diese Steuer, die geringer als die geplante Erbschaftssteuer ist, müssen derzeit alle Österreicher bezahlen, sofern sie Immobilien übertragen -nicht nur Millionäre.

Wer übrigens glaubt, die Erbschaftssteuer vermeiden zu können, indem er bereits zu Lebzeiten Vermögen abtritt, täuscht sich: In diesem Fall schlägt besagte Schenkungssteuer zu, die nach exakt demselben Prinzip funktioniert wie die Erbschaftssteuer.

Die SPÖ erwartet sich stolze Einnahmen; Drozda spricht von einer halben Milliarde Euro jährlich. Ist das realistisch? Dieser Frage hat sich Stefan Humer gewidmet, Ökonom der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU). Im Jahr 2013 errechnete Humer, wie viele Österreicher wie viel Geld erben. Das Ergebnis: Pro Jahr erfreuen sich durchschnittlich nur rund 1500 Personen einer Erbschaft von mehr als einer Million Euro – und wären somit laut SPÖ-Konzept steuerpflichtig. Auf den ersten Blick spricht diese geringe Zahl nicht gerade für eine ertragreiche Steuer. Auf den zweiten jedoch zeigt sich: Die wenigen Betroffenen verfügen laut Humers Berechnung über derart hohe Vermögen, dass die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer durchaus ansehnlich ausfallen würden. Humer rechnet mit rund 800 Millionen Euro pro Jahr -also mehr als die 500 Millionen, die der SPÖ vorschweben. Darüber hinaus: Weil Österreichs Bevölkerung altert und die Erbfälle zunehmen, würden die Erträge aus der Steuer weiter ansteigen. Ungefähr bis zum Jahr 2040.

Freilich stecken in der Rechnung Unsicherheiten. Niemand weiß, wie viel die Österreicher tatsächlich besitzen und vererben. Verlässliche Daten darüber gibt es nicht; lediglich Umfragen, Hochrechnungen und Schätzungen. Doch Humer hat seine Studie konservativ angelegt: Beispielsweise besitzen laut seiner Rechnung die reichsten österreichischen Haushalte nur jeweils circa 15 Millionen Euro. Realistischere Schätzungen gehen vielmehr von mehreren Milliarden aus. Das bedeutet: Obwohl Humers Rechnung extrem vorsichtig ausfällt, bringt die Erbschaftssteuer dennoch gute Erträge – noch dazu vonseiten einer kleinen Gruppe Vermögender, die bisher steuerprivilegiert ist im Vergleich zu gewöhnlichen Arbeitnehmern. Allerdings, so Humer: „Wenn das Steueraufkommen hoch sein soll, muss bei der Konstruktion der Erbschaftssteuer auf großzügige Ausnahmeregelungen und Umgehungsmöglichkeiten verzichtet werden.“

Dass dies entscheidend ist, zeigt das Schicksal von Österreichs erster Erbschaftssteuer. Im Jahr 2008 wurde sie ersatzlos abgeschafft. Nachdem der Verfassungsgerichtshof die Steuer beanstandet hatte, reparierte die SPÖ-ÖVP-Regierung sie nicht etwa, sondern ließ sie schlicht sterben. Der Handlungsdruck hielt sich in Grenzen, da sie ohnehin kaum Geld abwarf: gerade einmal rund 100 Millionen Euro pro Jahr.

Die Ursache für das niedrige Aufkommen: Nicht nur Sparbücher waren nicht inkludiert, vor allem fiel die Bewertung von Immobilien extrem realitätsfern aus. Erbte jemand ein Haus oder eine Wohnung, dann wurde als Basis für die Steuer nicht etwa der tatsächliche Marktwert herangezogen, sondern der sogenannte dreifache Einheitswert. Dabei handelt es sich um eine behördliche Bewertungsmethode, die sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. Ein Beispiel: Ein Einfamilienhaus in Niederösterreich mag in Wahrheit einige Hunderttausend Euro wert sein -der Einheitswert beträgt lediglich einige Tausend Euro.

Im Fall einer neuen Erbschaftssteuer gilt es, derartige Fehler zu vermeiden. Was der Fiskus als Immobilienwert ansetzt, muss weitgehend dem Preis am Markt entsprechen. Dasselbe Problem stellt sich etwa auch für Wertpapierpakete. Die SPÖ will Preiswahrheit gewährleisten, indem sie Marktpreise auswertet, wie sie etwa in Handelsplattformen im Internet bezahlt werden. Allerdings: Gerade bei stark schwankenden Preisen ist es keine triviale Angelegenheit, die richtige Bewertung zum richtigen Zeitpunkt zu erwischen.

Von dieser Frage jedenfalls wird es abhängen, ob es in einigen Jahren nicht erneut heißt: Die Erbschaftssteuer wurde wegen Uneinträglichkeit abgeschafft.

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Glosse: Das war meine Woche

Aus dem profil 36/2019 vom 1. September 2019

Ich berichte heute vom unrühmlichen Ende einer vielversprechenden Geschäftsbeziehung. Die Vorgeschichte dazu gab es kürzlich an dieser Stelle (profil 26, 27/2019 – siehe hier und hier). Sie handelt von einer Griechin mit dem klingenden Namen „Rommel Humberto Chavarria Noguera“, angeblich Analystin bei einer Bank. Die Dame meldete sich per Mail bei mir. In holprigem Google-Translate-Deutsch bot sie mir an, eine Millionenerbschaft einzuheimsen. Der vormalige Besitzer des Geldes, der zufällig den gleichen Namen trage wie ich, sei tragischerweise bei einem Autounfall ums Leben gekommen -ohne Nachkommen zu hinterlassen. Nun könne mich Rommel bei ihrer Bank als Erbe des Vermögens ins Spiel bringen. Man kennt dieses weitverbreitete kriminelle Schema unter der Bezeichnung „Vorschussbetrug“. Im Verlauf der weiteren Korrespondenz hätte mich Rommel gebeten, persönliche Daten und Ausweiskopien zu übersenden -und schließlich: saftige Abwicklungskosten zu überweisen. Und ich? Stieg scheinbar bereitwillig auf alles ein. Meine einzige Bitte: Ich hätte gern kurz mit ihr telefoniert, mailte ich an Rommel; wahlweise könne ich auch für ein Treffen nach Athen fliegen. Immerhin gelte es, den Millionencoup gut vorzubereiten und Vertrauen aufzubauen. Rommel reagierte nicht, sondern wiederholte in ihren E-Mails nur stur die Bitte nach meinen persönlichen Daten (vollständiger Name, Adresse, Beruf, Familienstand, Alter). Daraufhin bat ich erneut, diesmal eindringlicher, um ein Telefonat. Darauf schließlich kam gar keine Rückmeldung mehr. Diese Kriminellen sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. J. Gepp

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Das Totschlagwort

Aus dem profil 35/2019 vom 25. August 2019

Niemand will es selbst sein, als Schimpfname für andere taugt es umso besser: „neoliberal“. Wie ein wirtschaftspolitisches Konzept zum Kampfbegriff wurde.

Von Joseph Gepp

Zum Beispiel Georg Kapsch, Präsident der heimischen Industriellenvereinigung. Vor einigen Wochen warnte Kapsch, Europas Wirtschaft werde zerrieben „zwischen dem neoliberalen US-Modell und dem Staatsmodell Chinas“. Oder die FPÖ. Die „neoliberalen Ideologen rund um Ex-Kanzler Kurz“ würden „in die Taschen der Pflegebedürftigen“ greifen, wetterte kürzlich FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch über jene Partei, deren Politik man als Koalitionspartner noch mitgetragen hatte.

Oder der SPÖ-Pensionistenverband. Die Privatpensionen hätten sich im Vergleich mit den staatlichen als Enttäuschung erwiesen, urteilte dessen Präsident Harry Kopietz vor einigen Wochen. Denn die Renditen seien mickrig. „Die vormals großen Versprechungen seitens der Vertreter der neoliberalen Wirtschaftsideologie sind einer unerfreulichen Realität gewichen.“

Ungefähr seit der Jahrtausendwende ist der Neoliberalismus in aller Munde. Je inflationärer der Begriff verwendet wird, desto weniger scheint klar, was er eigentlich bedeutet. Man benutzt das Wort im Sinn eines „Laissez-faire-Liberalismus, der die Befreiung der Wirtschaft von regulatorischen Zwängen betont“, schrieb der Ökonom Hans-Helmut Kotz, der an der US-Uni Harvard forscht, in einem Buchbeitrag 2017. Abgesehen davon gebe es „keinen allgemeinen Konsens darüber, was genau Neoliberalismus bedeutet“. Klar ist nur die negative Konnotation. Neoliberal sind immer und ausschließlich diejenigen, die man gerade kritisiert. „Der Terminus ist gleichbedeutend geworden mit der Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen, dem Abbau des Wohlfahrtsstaates, der steigenden globalen Ungleichheit und sogar der Unterdrückung im Namen der Freiheit“, so Kotz.

Der Begriff „Neoliberalismus“ hat eine interessante und verworrene Geschichte. Sie zeigt, wie Wörter aus der Fachwelt in die breite Masse sickern, ihre Bedeutung verändern und zu Schlagwörtern werden, zu mitunter oberflächlichen Zuschreibungen im Kampf der politischen Überzeugungen. Darf und soll man derlei Wörter trotzdem verwenden? Oder soll man sich einer solchen „Kampfparole“, wie das der deutsche Wirtschaftsforscher Gerhard Willke nennt, enthalten?

Als der Begriff in Mode kam, schrieb man das Jahr 1938. Vor dem Börsencrash 1929 an der Wall Street hatte der Glaube geherrscht, dass der Kapitalismus ohne staatliche Eingriffe gut und dauerhaft funktionieren könne. Doch die weltweite Depression und ihre Folgen (unter anderem trug sie erheblich zum Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland bei) hatten diese Zuversicht tief erschüttert. Im Sommer 1938 trafen sich unter der Ägide des US-Publizisten Walter Lippmann Ökonomen aus mehreren Ländern in Paris. Es galt, über die Zukunft des Liberalismus zu diskutieren – oder besser: über dessen Rettung vor Faschismus und Sowjet-Kommunismus.

Die Meinungen auf dieser Konferenz gingen weit auseinander. Manche Teilnehmer -zum Beispiel die österreichischen Wirtschaftswissenschafter Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, bis heute Säulenheilige in wirtschaftsliberalen Kreisen -hätten gern möglichst viel vom alten Liberalismus in die neue Zeit mitgenommen. Die Mehrheit aber meinte, dass nur ein neuer, staatlich stark abgefederter Kapitalismus bestehen könne. Die Gesellschaft müsse Schwache beschützen und aktiv gegen die Folgen von Krisen ankämpfen -„jenseits des Marktes“, wie der deutsche Ökonom und Konferenzteilnehmer Wilhelm Röpke schrieb. Am Ende verständigte man sich auf einen Terminus für den neuen Ansatz: „Neoliberalismus“.

Ursprünglich bezeichnete er in gewisser Weise das Gegenteil von dem, was man heute darunter versteht. Wie kam es zu diesem Bedeutungswandel? Dazu muss erneut in die Vergangenheit blicken -diesmal in die späten 1960erund frühen 1970er-Jahren in den USA. Das rasante Wirtschaftswachstum und der immense Wohlstandszuwachs der Nachkriegszeit in der westlichen Welt flauten ab. In dieser Phase propagierte eine neue Generation von US-Ökonomen, etwa Milton Friedman, das, was man heute unter Neoliberalismus versteht: mehr Wettbewerb und wirtschaftliche Freiheit -so wie vor heraushalten. Er möge Befugnisse und Besitztümer abtreten, also liberalisieren, deregulieren dem Jahr 1929. Der Staat solle die Inflation bekämpfen, sich ansonsten aber aus der Wirtschaft und privatisieren, predigte die „Chicago School“, wie man die Bewegung nach der dortigen Universität nannte. Darüber hinaus wurde die Wichtigkeit niedriger Staatsschulden betont: Nur eine Regierung mit solidem Budget genieße das Vertrauen von Investoren.

Die neuen „Neoliberalen“ haben sich selbst zwar niemals so bezeichnet. Friedman distanzierte sich von dem Begriff, ebenso wie John Williamson, einflussreicher britischer Ökonom und Verfasser des „Washington Consensus“ von 1989, eines Katalogs wirtschaftspolitischer Forderungen an Entwicklungsländer, der heute als geradezu prototypisch neoliberal gilt. Dennoch ist der „Neoliberalismus“ Jahrzehnte nach seiner ursprünglichen Entstehung endgültig in der breiten Öffentlichkeit angekommen – in einer neuen, negativ konnotierten Bedeutung. Er steht als kritisches Schlagwort für jene wirtschaftspolitische Ära, die auf den staatlich gesteuerten Wohlfahrtskapitalismus der Nachkriegszeit folgte. Kernelemente: ungehemmter Fluss von Waren, Kapital und Dienstleistungen über Staatsgrenzen hinweg; Wettbewerb von Regierungen um die Ansiedlung von Unternehmen; Deregulierung der Finanzwirtschaft (die relativ zur verarbeitenden Industrie stark an Bedeutung gewonnen hat); steuerliche Entlastung von Konzernen und Reichen – unter der Annahme, dass der höhere Konsum steuerprivilegierter Reicher letztlich für Wirtschaftswachstum sorge und somit der gesamten Gesellschaft zugute komme.

Inwiefern all dies in konkrete Politik umgesetzt wurde und wird, varriiert stark von Land zu Land. In den USA und Großbritannien zogen Margaret Thatcher und Ronald Reagan bereits in den 1970er-und 1980er-Jahren tiefgreifende Reformen durch; sie brachen beispielsweise die Macht von Gewerkschaften und senkten die Steuersätze auf hohe Einkommen. Anderswo fielen die Veränderungen vergleichsweise moderat aus. In Österreich verbreitete sich das Wort „Neoliberalismus“ ungefähr ab dem Jahr 2003. Ein Blick in heimische Medienarchive zeigt, dass der Ausdruck von diesem Zeitpunkt an jedes Jahr Hunderte Male in heimischen Zeitungen und Presseaussendungen auftaucht. Es war die Zeit, in der die erste schwarz-blaue Regierung das Nulldefizit propagierte, Unternehmenssteuern senkte und Privatisierungen in großem Stil durchzog.

Am heftigsten fielen die Umwälzungen in Entwicklungsländern und im vormals kommunistischen Osten aus. Von der ehemaligen Sowjetunion bis nach China, von Indien über Mexiko nach Brasilien -überall „wurden riesige Vermögenswerte in private Hand transferiert“, schreibt die kanadische Publizistin Chrystia Freeland. Staatsbetriebe wurden abverkauft; Erschließungsrechte für Rohstoffvorkommen gingen an multinationale Unternehmen. „Wer je daran zweifelt, welche Macht eine Idee entfalten kann, der sollte den erstaunlichen, ohne Blutvergießen errungenen Sieg des neoliberalen Denkens und seine konkreten Auswirkungen auf die Welt in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts betrachten“, so Freeland.

Seit 2017 bekleidet Chrystia Freeland den Posten der kanadischen Außenministerin -und als solche verhandelte sie federführend das EU-Kanada-Handelsabkommen Ceta, das von Kritikern als neoliberales Machwerk verdammt wird. Diese Episode zeugt von einer verblüffenden Eigenheit des Begriffs „Neoliberalismus“: Obwohl er ausschließlich als Negativbezeichnung dient, tritt er durchaus selbstbewusst auf, als weithin respektierter Terminus in wissenschaftlichen und intellektuellen Debatten. Freeland ist nur eine von vielen, die das Wort verwenden. Der Wiener Historiker Philipp Ther etwa – Träger des diesjährigen Wittgenstein-Preises, des höchstdotierten österreichischen Wissenschaftspreises – gab seiner 2014 erschienenen Chronik der Transformationszeit in Osteuropa den Untertitel „Eine Geschichte des neoliberalen Europa“.

Trotz allem: Neoliberal ist und bleibt etwas, was man selbst nicht sein will. In Österreich bezichtigen Kritiker beispielsweise die „Agenda Austria“ gern des Neoliberalismus. Das 2013 gegründete Institut in Wien, das von Großunternehmen und vermögenden Privatpersonen gesponsert wird, setzt sich unter anderem für in Krisenzeiten „Lohnanpassungen nach unten“ vornehmen können, wie es in einer Publikation einen rigorosen Staatsschuldenabbau und flexiblere Kollektivverträge ein , sodass Unternehmen heißt. „Inhaltlich sind wir sicher marktwirtschaftlich orientiert und vertreten meist klassisch wirtschaftsliberale Positionen“, sagt Agenda-Austria-Direktor (und profil-Kolumnist) Franz Schellhorn. „Aber wir sind keine Pressesprecher der Marktwirtschaft; unsere Wirtschaftsforscher beschäftigen sich unabhängig mit den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft.“ Wer den Ausdruck Neoliberalismus gebrauche, bediene sich jedenfalls eines „politischen Kampfbegriffs“, meint Schellhorn: „Wer diese Keule schwingt, leidet in der Regel an einem Unterangebot an Argumenten. Das sagt mehr über den Kritiker als den Kritisierten.“

Neoliberalismus ist also ein Begriff, der, ursprünglich klar umrissen und hauptsächlich in der Fachwelt geläufig, aus ihr heraustrat, seine Bedeutung veränderte und schließlich mit negativem Beigeschmack in der Öffentlichkeit ankam. Ein viel zitierter Gefährte des Neoliberalismus ist der „Populismus“. Und auch hier gilt: Populistisch sind immer die anderen. „Neoliberalismus“ ist fraglos zum Kampfbegriff geworden. Aber sollte man ihn deshalb ganz aus dem Vokabular streichen?“Ich würde den Neoliberalismus nicht kategorisch aus meinem Wortschatz verbannen“, sagt Ruth Wodak, Linguistin von der Universität Wien, die sich seit Jahrzehnten mit politischer Sprache beschäftigt – und all den Vorurteilen, die in ihr mitschwingen. Denn dass in Bezeichnungen aus Politik und Wirtschaft Wertungen transportiert werden, sei nichts Unübliches, so Wodak. „Aber gerade bei einem derart inflationär gebrauchten Begriff wie Neoliberalismus sollte man prüfen, ob es keine exaktere Möglichkeit gibt, das Gesagte auszudrücken. Falls ein Gespräch auf den Neoliberalismus kommt, würde ich mein Gegenüber fragen: Was genau daran ist neoliberal? Was verstehen Sie darunter?“ Es ist also nicht moralisch verwerflich oder politisch unkorrekt, jemanden als neoliberal zu kritisieren. Man darf ruhig vom Neoliberalismus sprechen, wenn man es passend findet. Man sollte nur genau wissen, warum. n


Verwendete Literatur: Thorsten Beck, Hans-Helmut Kotz (Hrsg.): Ordoliberalism. A German oddity? Vox, 2017

Chrystia Freeland: Die Superreichen. Aufstieg und Herrschaft einer neuen globalen Geldelite. Westend, 2013

David Harvey: A Brief History of Neoliberalism. Oxford University Press, 2005

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Suhrkamp, 2014

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Negativausblick

Aus dem profil 35/2019 vom 25. August 2019

Deutsche Sparer wünschen sich Gesetze gegen Strafzinsen auf ihr Geld. Müssen auch Österreichs Kontoinhaber bald draufzahlen?

Dauerhaft niedrige Zinsen sorgen derzeit für Ängste unter Deutschlands Sparern. Was wäre, wenn Banken die Negativzinsen an sie weiterreichen würden -wenn die Sparer die Finanzinstitute also dafür bezahlen müssten, dass sie Vermögen bei ihnen deponieren dürfen? Was absurd klingt, geschieht derzeit laut deutschen Medien bereits in Einzelfällen -wenn auch nicht bei gewöhnlichen Sparern, sondern bei großen Fonds und Unternehmen. Nun fürchten Politiker, dass das Phänomen auf die Sparer überschwappen könnte -und fordern Maßnahmen. Bayern CSU-Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will ein gesetzliches Verbot von Negativzinsen. Es soll für alle Sparer gelten, die weniger als 100.000 Euro auf der Bank haben. Das deutsche Finanzministerium unter Olaf Scholz (SPD) prüft gerade, inwiefern sich der Vorschlag realisieren ließe.

Und in Österreich? Klar ist, dass auch hierzulande die Banken unter den historisch beispiellosen Niedrigzinsen stöhnen. Sie selbst müssen Negativzinsen an die Europäische Zentralbank (EZB) berappen, wenn sie dort Gelder deponiert haben. Laut einer Studie der Banking-Plattform Deposit Solutions zahlten Österreichs Banken seit dem Jahr 2016 auf diesem Wege insgesamt 356 Millionen Euro an Strafzinsen. Könnten auch in Österreich Negativzinsen für Sparer drohen -und ein etwaiges Verbot ins Gespräch kommen? Nein, sagt Jim Lefèbre, Sprecher des (parteifreien) Finanzministers Eduard Müller. In Österreich würden nämlich – im Gegensatz zu Deutschland -bereits bestehende Gesetze verhindern, dass Negativzinsen verrechnet werden. „Die Verzinsung von Spareinlagen ist in Paragraf 32 des Bankwesengesetzes geregelt“, so Lefèbre. „Aus zahlreichen dort geregelten Vorgangsweisen ist abzuleiten, dass der Gesetzgeber von Positivzinsen ausgegangen ist und Negativzinsen ausgeschlossen hat. Die Banken folgen dieser Rechtsansicht und verrechnen keine Negativzinsen.“ Nachsatz: „Die Zinsen sind aber mit ein bis zwei Basispunkten sehr bescheiden.“ Daran wird sich auch so bald nichts ändern. Denn die gute Wirtschaftslage trübt sich gerade in vielen Staaten deutlich ein (siehe auch Zahl der Woche rechts). Heißt: Die Zinsen – ohnehin bereits, wenn überhaupt, nur minimal – bleiben noch sehr lange niedrig. Joseph Gepp

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Wo das Geld wohnt

Aus dem profil 31/2019 vom 28.07.2019

Kaum jemand kennt die Bundesfinanzierungsagentur OeBFA. Dabei fließen über ihre Bankkonten Milliarden Euro. Ihr Schuldenstand liegt bei fast einer Viertelbillion. Die Laufzeit für neue Staatsanleihen beträgt auch schon mal 100 Jahre. Ein Besuch im finanziellen Maschinenraum der Republik Österreich.

Von Joseph Gepp und Christina Hiptmayr

Seilerstätte 24 im 1. Wiener Gemeindebezirk. In dem Eckhaus, dessen Portal im Jahr 1908 von Josef Hoffmann im Stil der Wiener Werkstätte gestaltet wurde, residiert der Herrenausstatter Fürst. Die Auslagen werden von vergoldeten Zierleisten gesäumt, auf der Dachkuppel thront eine Weltkugel. Über einem Nebeneingang ist etwas verschämt „bundesschatz.at“ zu lesen. Doch die Aufschrift ist irreführend. Zwar werden an diesem Ort fast täglich Milliarden von Euro bewegt, Schätze sind hier jedoch keine zu finden -d afür jede Menge Schulden. Willkommen in der OeBFA, der österreichischen Bundesfinanzierungsagentur! Hier schlägt das finanzielle Herz der Republik. Die OeBFA ist eine Gesellschaft, die im Eigentum des Finanzministeriums steht. Sie verwaltet die Schulden des Bundes und sorgt für die Finanzierung der Republik, Tag für Tag. Sämtliche Staatseinnahmen laufen hier zusammen, und immer dann, wenn sich die Republik Geld ausleiht, kommt die OeBFA ins Spiel. So wie vor einigen Wochen, als Österreich in der internationalen Finanzwelt für Furore sorgte. „Welche neue Verrücktheit ist das denn?“, kommentierte die sonst eher nüchterne US-Nachrichtenagentur Bloomberg Österreichs finanziellen Vorstoß. Die OeBFA hatte gerade eine Staatsanleihe aufgestockt, die eine ausgesprochen lange Laufzeit hat – bis ins ferne Jahr 2117.1,25 Milliarden Euro sammelte die Republik auf derart unkonventionellem Weg ein. Kein anderes Euroland bietet bislang 100-jährige Anleihen an. Österreich ist Vorreiter bei extrem lang laufenden Anleihen. Die Zinsen? Für gewöhnlich wären sie traumhaft hoch; immerhin kann in 100 Jahren vieles geschehen. Doch diesmal fallen sie aufgrund der weltweiten Niedrigzinsen minimal aus. Lediglich 1,17 Prozent jährlich muss die Republik auf ihr Jahrhundertpapier bezahlen. Spielen denn die Anleger mit, Geld für mickrige Zinsen auf derart lange Zeit zu verleihen? Durchaus -die Anleihe war vierfach überzeichnet, was bedeutet, dass vier Mal so viele Angebote eintrudelten, als Anleihen zu vergeben waren.

Konzipiert werden derlei Finanzinstrumente im ersten Stock des Wiener Altbaus. Das Innere macht nicht viel her: eine schmale Empfangstheke, ein Tischchen mit Broschüren. Man wähnt sich eher im Wartezimmer einer Notariatskanzlei oder einer Arztpraxis als im finanziellen Maschinenraum des Landes – wäre da nicht beispielsweise das Notstromaggregat, an dem der Computer von Markus Stix hängt, seit dem Jahr 2015 einer der beiden Geschäftsführer der OeBFA. „Damit wir abgesichert sind, falls in einem kritischen Moment ein Stromausfall passiert“, sagt er. Stix, 44, trägt Brille und schwarzen Anzug, die dazugehörigen Manschettenknöpfe glänzen standesgemäß in Rot-Weiß-Rot. „Wir arbeiten hier täglich daran, für die österreichischen Steuerzahler das Optimum herauszuholen“, sagt er.Was bei anderen wie ein salbungsvoller Stehsatz klingen würde, kauft man Stix durchaus ab. Er ist weder der Typ slicker Banker im Nadelstreif noch der wortkarg-trockene Buchhalter. Der Mann scheint seinen Job tatsächlich zu mögen.

OeBFA-Chef Markus Stix (Foto: OeBFA)

Immerhin macht er ihn auch schon seit einem guten Vierteljahrhundert. Im Dezember 1993 trat Stix nach nur zwei Monaten Jus-Studium in die OeBFA ein. Das Unternehmen mit heute 35 Mitarbeitern war damals quasi noch in der Start-up-Phase. Erst im Jänner zuvor war die Gesellschaft unter SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina ausgegliedert worden. Bis dahin war das Schuldenmanagement der Republik durch eine Abteilung der Sektion V im Finanzministerium wahrgenommen worden. Doch die eher trägen Entscheidungsprozesse und strengen Hierarchien im Ministerium konnten mit der Schnelllebigkeit der Finanzmärkte nicht mehr Schritt halten. „Früher teilte man einander per Brief und Fax die Konditionen mit -heute wäre das undenkbar“, sagt Stix. Nach Irland war Österreich eines der ersten Länder, in denen die Schuldenagenturen als eigene Einheiten organisiert wurden. Große Staaten wie Großbritannien und Deutschland folgten deutlich später. Heute ist es international fast überall Standard.

Per 30. Juni 2019 hatte der Bund 204.036.000.000 Euro Schulden -also mehr als 204 Milliarden. Und diese Schulden zu verwalten, ist die Hauptaufgabe der OeBFA: das Anpumpen der Geld-und Kapitalmärkte in großem Stil sozusagen. Zum überwiegenden Teil holt sich Österreich das Geld über Bundesanleihen von seinen Gläubigern. Das wird in den meisten Fällen per Auktion geregelt. Es ist der monatliche Test, ob jemand für die Republik anschreiben will.

Auf Stix‘ Schreibtisch liegen das „Handelsblatt“ und die „Financial Times“; auf den beiden Computermonitoren laufen Charts der Finanzdatenanbieter Bloomberg und Reuters. Über diese Informationsquellen und das „Austrian Direct Auction System“ (ADAS) werden dem gesamten Finanzmarkt sowie den sogenannten Primärhändlern eine Woche für Auktionsbeginn Parameter wie Laufzeit, und geplantes Gesamtvolumen einer Anleihe bekannt gegeben. Diese Primärhändler -21 österreichische und internationale Banken – sind vertraglich verpflichtet, Gebote abzugeben. Am Auktionstag selbst haben sie ab zehn Uhr eine Stunde Zeit, bekannt zu geben, zu welchem Kurs sie das Papier kaufen wollen. Das erfolgt völlig elektronisch über das von der Oesterreichischen Kontrollbank (OeKB) entwickelte ADAS-System. Unmittelbar nach Ende der Auktion werden die Gebote nach der Höhe der angegebenen Kurse gereiht, beginnend mit dem höchsten. Innerhalb weniger Minuten erfahren die Banken schließlich, wie viel sie zugeteilt bekommen haben. Danach wird eine Sammelurkunde erstellt , die von den Geschäftsführern der OeBFA namens der Republik unterzeichnet und von der Präsidentin des Rechnungshofs gegengezeichnet wird. Früher waren derartige Urkunden kunstvoll ausgefertigt. Im Büro sind ein paar Exemplare an der Wand zu bewundern. So wie die Kaiserin-Elisabeth-Bahn-Staatsschuldverschreibung aus dem Jahr 1887. Auf ein Investment von 100 österreichischen Goldgulden verspricht die „Staatsschulden-Controllcommission des Reichsrathes“ vier Prozent Zinsen, „rückzahlbar binnen längstens 80 Jahren“. Heute funktioniert das System kaum anders. Die Urkunden aber sehen weit nüchterner aus. Ist die Anleihe einmal begeben, wandert das dazugehörige Schriftstück in einen Tresor der Kontrollbank-Tochter OeKB CSD, nur einige hundert Meter Luftlinie von der OeBFA entfernt. Zwei Tage später -nicht früher und nicht später -muss das Geld der Gläubiger auf dem Konto des Bundes bei der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) eintreffen. Zuletzt geschehen: Ende Juni, bei der Aufstockung der 100-jährigen Anleihe.

Das Logo der Agentur (Wikipedia)

„Wir gehen ganz bewusst in den ultralangen Bereich“, sagt Stix. Österreich rechne sich hier gute Chancen aus. Immerhin gilt das Land als einer der Top-Schuldner der Welt. Vertrauenswürdigkeit: nahezu beispiellos. Da bietet es sich an, Anleihen mit sehr langen Laufzeiten aufzulegen. Der Vorteil aus Sicht Österreichs: Der Staat kann sich das Geld für lange Zeit ausleihen – ohne Risiko, dass sich an vereinbarten Zinsen etwas ändert. Die derzeit niedrigen Zinsen seien, wie Stix es ausdrückt, „eingelocked“. Zusätzlich wird das „Refinanzierungsrisko“ stark reduziert. Kürzer laufende Anleihen hingegen müssen erneuert werden, die Zinsen werden dann neu festgelegt -und fallen eventuell höher aus. Ein gutes Geschäft also. Es erfordert allerdings gründliche Vorbereitung. Zunächst muss sich die OeBFA bei der heimischen Politik den Sanktus holen: Jedes Jahr im Oktober präsentieren die OeBFA-Geschäftsführer dem Finanzminister ihren Vorschlag für die Finanzierungsstrategie des Bundes. Sie umfasst auch die Planung für Staatsanleihen-Begebungen. Die wesentlichen Elemente daraus werden Anfang Dezember den Marktteilnehmern bekannt gegeben. Im Vorfeld der Begebung der 100-jährigen Anleihe war es überdies wichtig auszuloten, ob international überhaupt Nachfrage nach einem solchen Wertpapier besteht. Stix und seine Mitarbeiter reisten deshalb zu potenziellen Investoren. Sie trafen Chefs von Pensionsfonds in Holland, Portfolio-Manager von Versicherungskonzernen in Japan, Vertreter von Großbanken in den USA. „Bei einer zehnjährigen Anleihe ist klar, dass es einen großen Pool interessierter Anleger gibt, da es sich hier um eine Standard-Laufzeit handelt“, sagt Stix: „Bei einer 100-jährigen ist der Interessentenkreis überschaubarer.“ Es ist eine spezielle Situation, in der sich Markus Stix und seine internationalen Partner seit rund einem Jahrzehnt befinden. Sie resultiert aus der weltweiten Finanz-und Wirtschaftskrise 2008. In deren Gefolge senkten Zentralbanken, etwa die Federal Reserve (Fed) in den USA und die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt, die Leitzinsen drastisch. Die Hoffnung: Unternehmen und Konsumenten würden infolge sinkender Zinsen mehr Kredite aufnehmen und somit mehr investieren beziehungsweise konsumieren – wodurch die Wirtschaft wachse. Doch die niedrigen Zinsen haben einen Nebeneffekt: All jenen, die Geld gespart und veranlagt haben, schmelzen die Erträge weg. Genau darin liegt das Erfolgsgeheimnis von Österreichs 100-jähriger Anleihe. Die Anleger müssen auf Finanzprodukte umschichten, die noch Erträge abwerfen. Wer Geld auf 100 Jahre verleiht, geht ein gewisses Risiko ein – das sich folglich in höheren Zinsen niederschlägt. Zum Vergleich: Während man auf die 100-jährige Anleihe immerhin 1,17 Prozent bekommt, betragen die Zinsen bei einer fünfjährigen österreichischen Staatsanleihe minus 0,435 Prozent.

Das bedeutet: Die Anleger zahlen sogar dafür, dass sie der Republik Österreich Geld borgen. Wer macht denn so etwas? Es sind vor allem große institutionelle Investoren wie Versicherungen, Pensionskassen und Zentralbanken. Ihre Motive: Mithilfe derartiger Käufe können sie sich vor einem weiteren Sinken des Zinsniveaus absichern – nach der Devise: Lieber heute ein bisschen draufzahlen als morgen noch mehr. Mitunter haben die Investoren aber auch gar keine andere Wahl, als solche Verlustgeschäfte einzugehen. Fonds, die im Auftrag ihrer Kunden Anlagen tätigen, verpflichten sich mitunter, einen Teil der Gelder in krisenfeste Staatsanleihen zu parken -etwa österreichische. Geld in Cash zu horten, ist auch keine Alternative. „Dafür gibt es weder genug Bargeld noch genug gesicherte Aufbewahrungsmöglichkeiten“, sagt Stix. Das Fazit: Schuldner -vor allem verlässliche wie die Republik Österreich -haben gerade eine recht gute Zeit. Und: Die Geldwelt ist definitiv ein wenig verrückt geworden.

Trotzdem muss jedes geliehene Geld irgendwann zurückbezahlt werden. „Wir haben täglich Finanzschuld-Fälligkeiten zu bedienen“, sagt Stix. In regelmäßigen Abständen sind es auch richtig große. Am 18. Oktober etwa reift eine sieben Milliarden Euro schwere Anleihe ab. Im Vorfeld muss die entsprechende Liquidität aufgebaut werden -das heißt, es ist dafür zu sorgen, dass das Geld auch vorhanden ist. Dafür braucht es echte Spezialisten. Drei Mitarbeiter sind im Liquiditätsmanagement der OeBFA beschäftigt. Erst kürzlich ging einer, der diesen Job 40 Jahre lang ausgeübt hat, in Pension. „Wir haben schon vor zwei Jahren damit begonnen, einen Nachfolger aufzubauen“, erzählt Stix. Dieser kümmert sich nun mit seinen Kollegen darum, dass das Geld garantiert da ist, wenn die Anleihe fällig wird – ob es aus laufenden Staatseinnahmen kommt oder aus neuen Krediten. Am Tag der Fälligkeit werden um Punkt sieben Uhr die sieben Milliarden Euro vom Konto der OeNB zur Kontrollbank transferiert. Diese wickelt im Auftrag des Bundes als Zahlstelle für Bundesanleihen die Rückzahlung ab. Ab elf Uhr verteilt die Kontrollbank das Geld an die Depotbanken, die es wiederum an die Anleger weiterleiten. Dieser Ablauf ist strikt einzuhalten, denn das Konto bei der OeNB darf nie überzogen werden. „Das wäre ein technical default“, erklärt Stix. Also ein Zahlungsausfall, der Verwerfungen an den Finanzmärkten nach sich ziehen könnte. Die Investoren bekämen dann „Überweisung mangels Deckung nicht möglich“ zu lesen. Es ist also unerlässlich, dass alle Systeme an solchen Tagen reibungslos arbeiten. Deshalb sind sie gleich mehrfach abgesichert. „Sollten die Daten verloren gehen, gibt es noch zwei Backup-Systeme an unterschiedlichen Orten in Österreich“, sagt Stix.

Wo genau? Das werde nicht verraten, meint der OeBFA-Geschäftsführer und lächelt verschmitzt.

Der Mann mag seinen Job wirklich.

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Glosse: Das war meine Woche

Aus dem profil 31/2019 vom 28.07.2019

Ich berichte heute von einem Lehrstück politischer Kommunikation. Es handelt von ÖVP-Chef Sebastian Kurz. Der Ex-Kanzler tourte vergangene Woche -während er hierzulande in der sogenannten Reisswolf-Affäre unter Beschuss geriet -durch die USA und verbreitete von dort hübsche Bilder von seinen Besuchen bei Konzern-Managern im Silicon Valley. Doch es sei nicht alles eitel Wonne, warnte Kurz. Es gelte, für die Digitalsteuer zu kämpfen. Diese hat die ÖVP-FPÖ-Regierung vor einigen Monaten beschlossen und möchte sie trotz Koalitionsbruch weiterhin durchziehen. Von der Digitalsteuer müsse er die Tech-Größen im Silicon Valley nun „überzeugen“, sagt Kurz: „Sie stößt nicht auf Gegenliebe und wird nicht positiv gesehen.“ Doch was ist diese heiß umkämpfte Digitalsteuer? Hinter dem großspurigen Schlagwort verbirgt sich lediglich der Plan, die Werbeeinnahmen der Internetkonzerne Facebook und Google künftig einer Werbeabgabe zu unterwerfen -wie sie heute bereits Fernsehsender und Print-Medien bezahlen. Erwartetes Aufkommen: eine Lappalie. Experten rechnen mit ungefähr 15 Millionen Euro im Jahr. Zum Vergleich: Für den letzten Nationalratswahlkampf im Jahr 2017 gaben alle Parteien gemeinsam rund 30 Millionen aus. Für die Bosse aus dem Silicon Valley ist die Frage, ob Österreich diese Digitalsteuer einführt – nun ja, völlig unbedeutend. Aber vielleicht geht es Kurz ja vor allem darum, am Ende seiner Reise nach Hause zu melden, er habe einen mutigen Sieg für Österreichs Interessen errungen. Übrigens soll die Digitalsteuer im September mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ durch das Parlament gehen. Heißt: Knapp vor der Nationalratswahl wird die Digitalsteuer-Orgel noch einmal voll angeworfen.

Joseph Gepp

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Draht nach Wien

Aus dem profil 31/2019 vom 28.07.2019

Wie es den Chef der österreichischen Bundespensionskasse in eine Firma mit dem skandalumwitterten US-Milliardär Jeffrey Epstein verschlug.

Von Joseph Gepp

Sein Freundeskreis ist schillernd – er reicht vom US-Präsidenten Donald Trump über den britischen Prinzen Andrew bis zu Israels Ex-Premier Ehud Barak. Seine Verhaftung Anfang Juli wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger machte weltweit Schlagzeilen. Vergangene Woche wurde der US-Unternehmer Jeffrey Epstein, 66, verletzt in seiner New Yorker Gefängniszelle gefunden. Der Wall-Street-Milliardär ist tief gefallen. Nun ergibt sich in der Causa Epstein eine Verbindung nach Österreich. Wie das internationale Journalistenkollektiv ICIJ und die US-Zeitung „Miami Herald“ berichten, stand Epstein in den 2000er-Jahren diskreten Unternehmen in Steueroasen vor. Unter anderem fungierte er zwischen 2000 und 2007 als Vorstand einer Liquid Funding Ltd. auf den Bermudas. Dieses Unternehmen gehörte teilweise der US-Investmentbank Bear Stearns. Das Finanzinstitut musste später infolge der Finanzkrise 2008 an J.P. Morgan notverkauft werden. Zuvor hatte Epstein dort höchst erfolgreich als Börsen-Trader gearbeitet.

„Im Offshore-Konstrukt Liquid Funding Ltd. waren einige jener Finanzinstrumente geparkt, die später zu Synonymen für jene finanziellen Exzesse wurden, welche die Krise auslösten“, schreiben die Journalisten des ICIJ auf ihrer Website, „seien es Mortgage Backed Securities oder Collateralized Loan Obligations“.

Die Informationen zur Liquid Funding stammen aus den „Paradise Papers“, einem Datenleck aus dem Jahr 2017. Damals ermöglichten Akten der britischen Anwaltskanzlei Appleby einen tiefen Einblick in Offshore-Firmenkonstrukte. Laut Paradise Papers hatte Epsteins Liquid Funding zwölf Direktoren, also Aufsichtsräte. Einer davon: der Österreicher Marcus Klug, heute einer von zwei Vorständen der österreichischen Bundespensionskasse AG. Dabei handelt es sich um eine betriebliche Pensionskasse im Besitz der Republik, vertreten durch das Finanzministerium. Laut „Paradise Papers“ fungierte Klug zwischen 2001 und 2005 als Direktor der Liquid Funding auf den Bermudas.

Wie kam es dazu? Klug arbeitete zu dieser Zeit als Portfolio-Manager beim heimischen Versicherungskonzern Uniqa Group. „Bear Stearns hat dem Uniqa-Konzern damals ein Investment in Liquid Funding angeboten“, erklärt Klug in einer schriftlichen Stellungnahme an profil. Liquid Funding sei „ein Investmentvehikel ähnlich einem geschlossenen Fonds“ gewesen, spezialisiert auf „Asset Backed Securities“. Bear Stearns hatte die Liquid Fundings gegründet und anschließend Anteile an der Offshore-Firma an internationale Investoren verkauft -unter anderem an die Uniqa. „Alle Investoren haben Vertreter in das Direktorium entsandt, um Bear Stearns, die das Investmentvehikel verwaltet haben, zu überwachen“, so Klug.

Für die Uniqa kam Klug somit als Direktor in die Liquid Funding. Das Engagement endete 2005, als Klug bei der Uniqa ausschied – und damit auch seinen Direktorenposten bei der Liquid Funding zurücklegte. Drei Jahre danach wechselte er in die Bundespensionskasse.

„Sitzungen der Direktoren der Liquid Funding Ltd. gab es nicht“, schreibt Klug. Und: „Mit Herrn Epstein gab es keinen Kontakt.“

Nachträgliche Ergänzung: Epstein wurde am 10.8.2019 tot in seiner Zelle aufgefunden.

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Planlos

Aus dem profil 30/2019 vom 21.07.2019

Im UVP-Verfahren für die Dritte Piste des Flughafens Wien, einem der bisher aufwendigsten in Österreich, soll ein wichtiges Dokument niemals vorgelegt worden sein – obwohl es laut Gesetz erforderlich wäre.


Von Joseph Gepp

Am 18. März dieses Jahres fiel aus Sicht des Flughafens Wien-Schwechat eine erlösende Entscheidung. Der Verwaltungsgerichtshof beschloss, dass die Dritte Piste gebaut werden darf. Zwölf Jahre zuvor, im März 2007, hatte die Flughafen Wien AG erstmals den Antrag auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für das Großprojekt gestellt. Es folgte ein jahrelanger Weg durch sämtliche Instanzen, ehe der letztgültige Sanktus erfolgte.

Kaum ein Bauvorhaben in Österreich ist derart umstritten, sei es aus Angst vor Fluglärm oder aus Sorge um das Klima. Nun wirft das soeben abgeschlossene UVP-Verfahren neue Fragen auf. Projektgegner orten eine gravierende Ungereimtheit: Ein wichtiges Dokument, das laut Gesetz in solchen Verfahren eingereicht werden muss, sei nämlich niemals bei den zuständigen Behörden angekommen, so die Kritiker.

Es geht konkret um den Paragrafen 69 des Luftfahrtgesetzes. Darin ist festgelegt, welche Unterlagen ein Projektwerber vorweisen muss, wenn er einen Flugplatz errichten möchte (oder eine Erweiterung vornehmen will). Unter anderem sei, so das Gesetz, „der Nachweis der für das Vorhaben erforderlichen Mittel“ zu erbringen -konkret in Form eines „Finanzierungsplans“.

„Wir haben im Verfahren mehrmals darauf hingewiesen, dass der gesetzlich verlangte Finanzierungsplan fehlt“, sagt Susanne Heger, Rechtsanwältin in Wien und Vertreterin der Gegner der Dritten Piste. „Einmal hieß es, wir seien mit dem Hinweis zu spät dran; das andere Mal, wir hätten kein Recht, auf das Fehlen des Plans hinzuweisen.“

Die Frage mag haarspalterisch erscheinen – immerhin kann sich die börsennotierte Flughafen Wien AG (Umsatz 2018: 800 Millionen Euro, ein Plus von 6,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr) mit größter Wahrscheinlichkeit die Errichtung der Piste leisten. Allerdings: Was sagt es über das gesamte Bewilligungsverfahren aus, immerhin eines der größten in Österreich, wenn wichtige Dokumente fehlen -und dies noch dazu folgenlos bleibt? Sollte nicht gerade ein Verfahren in einer derart umstrittenen Causa über alle Zweifel erhaben sein? Dies umso mehr, als sich der Flughafen Wien zum Teil im öffentlichen Besitz befindet: Je 20 Prozent gehören den Bundesländern Wien und Niederösterreich.

Das UVP-Verfahren begann im Jahr 2008. Die zuständige Behörde war zunächst die niederösterreichische Landesregierung. Im Jahr 2012 stellte sie einen UVP-Bescheid aus; daraufhin wanderte die Causa bis 2019 durch mehrere gerichtliche Instanzen.

Anfrage beim Amt der niederösterreichen Landesregierung: Stimmt es, dass kein Finanzierungsplan vorlag? „Die Behauptung ist unrichtig“, so das Land in einer Stellungnahme gegenüber profil. Der Finanzierungsplan sei regulär „im Jänner 2008 der UVP-Behörde vorgelegt worden“ und habe als ganz normale „Entscheidungsgrundlage“ im Verfahren gedient. Allerdings: „Nach Ansicht der NÖ Landesregierung ist der Finanzierungsplan von der Akteneinsicht ausgenommen, da es sich bei den in den Unterlagen enthaltenen Finanzdaten um Betriebsgeheimnisse handelt“.

In dieselbe Kerbe schlägt die Flughafen Wien AG. Die Behauptung vom fehlenden Plan sei „schlichtweg falsch“, so Sprecher Peter Kleemann. Er wurde nur „aufgrund der Finanzdaten von der zuständigen UVP-Behörde richtigerweise als Betriebsgeheimnis eingestuft“.

Dass eine Aktiengesellschaft sensible Finanzinformationen nicht öffentlich machen möchte, erscheint nachvollziehbar. Haben die Kritiker des Projekts schlicht etwas falsch verstanden? Wer Antworten möchte, muss wiederum ins Gesetz blicken. In Paragraf 17 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes ist grundsätzlich festgelegt, dass man derartige Pläne geheimhalten darf, wenn „eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen“ droht. Genauer präzisierte der Verwaltungsgerichtshof in einem Erkenntnis im Jahr 2010 die Vorgehensweise bei Geheimhaltungen: „Wird die Akteneinsicht verweigert, so ist ( ) nachvollziehbar darzulegen, welche Aktenteile davon betroffen sind und welche öffentlichen oder privaten Interessen dies im konkreten Fall rechtfertigen.“ Übersetzt in Alltagsprache: Wenn man etwas geheimhält, muss man über den Umfang des Geheimgehaltenen informieren und begründen, warum es sich um eine Verschlusssache handelt.

Im UVP-Bescheid der niederösterreichischen Landesregierung aus dem Jahr 2012, einem viele Hundert Seiten umfassenden Dokument, ist jedoch nirgendwo die Rede von einem Finanzierungsplan. Nur ein einziges Mal findet sich ein kurzer Verweis zur Finanzierung des Projekts: „Die erforderlichen finanziellen Mitteln ( ) sind nachweislich vorhanden“, heißt es lapidar. Kein Wort zur Geheimhaltung, zu ihrem Umfang, zu ihrer Begründung.

Später wiesen die Gegner der Dritten Piste in mehreren Eingaben an die Gerichte darauf hin, dass der Finanzierungsplan fehle. Doch die Gerichte widmeten sich -wenn überhaupt -nur am Rande der Frage des Finanzierungsplans. Im März 2018 etwa verkündete das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung, die Kritik am fehlenden Plan werde nicht behandelt, weil der Hinweis darauf „verspätet“ vorgebracht worden sei – weshalb, erschließt sich nicht ganz.

Gibt es ihn nun also oder gibt es ihn nicht, den ominösen Finanzierungsplan? Das lässt sich in letzter Konsequenz nicht beantworten. Kein Gericht und keine Behörde ist jemals auf seinen Inhalt eingegangen, hat etwas zu seinem Umfang verraten, die Geheimhaltung begründet oder Angaben zur Plausibilität des angeblich vorliegenden Plans gemacht -abgesehen von den vagen Ausführungen, dass die Gelder „nachweislich vorhanden“ seien. Für ein transparentes Verfahren spricht das definitiv nicht.

Bleibt zuletzt die Frage: Wie viel wird die Dritte Piste denn nun kosten? Grobe Schätzungen gehen von ungefähr drei Milliarden Euro aus. Flughafensprecher Kleemann gibt auf profil-Anfrage nur eine vage Antwort: „Die Flughafen Wien AG ist eine private, börsennotierte Aktiengesellschaft und kann daher eine Investition nur tätigen, wenn sie wirtschaftlich ist.“ Genauere Angaben macht Kleemann nicht – abgesehen von einer Festlegung: „Eine Kapitalerhöhung für die Dritte Piste ist nicht notwendig.“

Auch Flughafen-Vorstand Günther Ofner ist nicht auskunftsfreudiger. Im vergangenen März sagte er im „Kurier“: „Die Dritte Piste kostet auf jeden Fall sehr, sehr viel Geld.“

Vielleicht war das ja schon der Finanzierungsplan.

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Grenzenlos abgehoben

Aus dem profil 30/2019 vom 21.07.2019

Keine Fortbewegungsart ist so umwelt-und klimaschädlich wie das Fliegen -und keine wird großzügiger von Steuern befreit. Doch die Privilegien für den Flugverkehr geraten immer stärker in die Kritik.


Von Joseph Gepp und Christina Hiptmayr

Es ist noch nicht einmal 6: 30 Uhr, und doch scheint die halbe Welt bereits auf den Beinen zu sein. Im Terminal 3 des Flughafens Wien-Schwechat mühen sich Urlauber mit den Check-in-Automaten ab, Kleinkinder schreien ihren frühmorgendlichen Grant hinaus, und Geschäftsreisende mit Aktenkoffern lassen weniger Flugroutinierte spüren, was sie in ihnen sehen: zeitraubende Ärgernisse. Der Airport an einem Tag während der Sommerferien -der ganz normale Wahnsinn.

Fliegen, früher den Reichen und Schönen vorbehalten, wurde mit Einführung der Economy- Class im Jahr 1958 rasant demokratisiert. In den 1980er-Jahren, als die großen Reiseveranstalter damit begannen, Urlauber per Charterflug nach Kreta oder Mallorca zu verfrachten, war diese Form des Reisens endgültig in der Mittelschicht angekommen. Und Jahr für Jahr werden es mehr, die in die Luft gehen. Denn Fliegen wird immer billiger, vor allem deshalb, weil die Staaten es massiv unterstützen. Gleichzeitig bekommt die Luftfahrt aber mit der Klimadebatte ein ernsthaftes Imageproblem. Deshalb werden die Privilegien, die sie seit Jahrzehnten genießt, zusehends infrage gestellt. Denn für das Fliegen fallen keine Steuern an. Zusatzkosten, wie sie beim Autofahren aber auch beim Bahnfahren völlig selbstverständlich sind, gibt es hier nicht. Aber warum eigentlich?

Dass Fliegen eine massive Belastung für die Umwelt bedeutet, ist keine neue Erkenntnis. Ein Kilometer, der mit einem spritbetriebenen Auto zurückgelegt wird, ist 15 Mal so klimaschädlich wie ein Kilometer mit der Eisenbahn. Dieselbe Distanz mit dem Flugzeug ist sogar 31 Mal so emissionsintensiv, wie aus Daten des Umweltbundesamtes hervorgeht. Einbezogen wurden dabei sowohl die direkt während der Reise ausgestoßenen Emissionen als auch die bei der Produktion des Transportmittels entstandenen klimaschädlichen Luftschadstoffe. Von den Flugreisenden werden diese Fakten jedoch gern ausgeblendet. Wurden 1998 am Flughafen Wien noch rund zehn Millionen Passagiere gezählt, waren es 2018 -dem bisher passagierstärksten Jahr in der Geschichte -über 27 Millionen. Rund um den Globus wurden im vergangenen Jahr laut der Statistik der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) 4,3 Milliarden Fluggäste befördert, was fast der Hälfte der Weltbevölkerung entspricht. Auch das ist ein Rekord.

Fliegen ist nur deshalb so erschwinglich, weil der Staat es unterstützt. Er verzichtet auf die Umsatzsteuer, kassiert diese aber sehr wohl bei Bahntickets und an Tankstellen. Und im Gegensatz zum Straßenund Schienenverkehr wird die Luftfahrt nicht mit Energiesteuern belegt.

Die Steuerbefreiung von Kerosin geht auf das Jahr 1944 zurück, als sich 52 Staaten im sogenannten Chicagoer Abkommen darauf einigten, die internationale Zivilluftfahrt zu fördern. Sie sollte dazu beitragen, nach dem Zweiten Weltkrieg Freundschaft und Verständnis zwischen den Nationen und Völkern der Welt zu schaffen. Dieser Förderung war, wie man an den stetig steigenden Passagierzahlen unschwer erkennen kann, ein durchschlagender Erfolg beschieden.

In Zeiten der Klimakrise gerät dieses Privileg jedoch immer stärker in die Kritik -nicht nur in der Zivilgesellschaft: Der Verkehrsclub Österreich (VCÖ), eine Mobilitäts-NGO in Wien, fordert seit Langem die Einführung einer Kerosinsteuer. Auch im EU-Wahlkampf sprachen sich die Spitzenkandidaten Manfred Weber (EVP) und Frans Timmermans (SPE) dafür aus. Tatsächlich wird in Deutschland derzeit eine Aufhebung der Steuerbefreiung geprüft. Und in Österreich? Hierzulande genießt der Plan einer EU-weiten Kerosinsteuer durchaus breite Unterstützung: ÖVP, SPÖ, Liste Jetzt und Grüne befürworten ihn. Auch die NEOS sind dafür, obwohl sie eher für eine umfassendere CO2-Steuer plädieren. Als einzige Partei klar dagegen ist die FPÖ: Sie fürchtet um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Airlines angesichts internationaler Konkurrenz, etwa aus dem Nahen Osten und Asien.

Innerhalb der EU wäre gemäß der Energiesteuerrichtlinie eine Besteuerung des Kerosins für Flüge zwischen den Mitgliedsstaaten grundsätzlich möglich. Allerdings scheint dies derzeit aufgrund des Widerstandes einiger Mitgliedsstaaten sowie des Einstimmigkeitsprinzips in Steuerfragen schwer umsetzbar zu sein.

Dem österreichischen Staat entgehen durch die Mineralölsteuerbefreiung von Kerosin jährlich Einnahmen in Höhe von rund 350 Millionen Euro, wie das Finanzministerium für die Jahre 2010 bis 2013 errechnet hat. Das überrascht nicht weiter, wenn man bedenkt, wie saftig die Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel ausfällt. Auf einen Liter Benzin etwa zahlt man derzeit 48,2 Cent Steuer – rund 35 Prozent des aktuellen Benzinpreises an den Tankstellen. Mit einem ähnlichen Aufschlag wäre auch im Flugverkehr zu rechnen, würde man die Kerosinsteuer einführen.

Ganz zu schweigen von der Umsatzsteuer. Diese ist auf sämtliche Waren und Dienstleistungen zu entrichten; in Österreich beträgt sie zwischen zehn und 20 Prozent. Beim Fliegen jedoch gibt es diese Steuer nicht. Einzige Ausnahme sind Flüge innerhalb Österreichs, die einer Umsatzsteuer von 13 Prozent unterliegen -doch diese Inlandsflüge fallen statistisch kaum ins Gewicht. Hingegen sei der internationale Flugverkehr seit jeher von der Steuer ausgenommen, erklärt Andrew Murphy, Experte der Organisation Transport and Environment in Brüssel – nicht nur in Österreich, sondern in den meisten Staaten weltweit. Warum? Unterschiedliche Länder verfügen über unterschiedliche Umsatzsteuerregeln und -sätze. Überquert ein Flugzeug mehrere Staatsgrenzen, würde dies die Berechnung der Steuer schwierig machen.

Ein ähnliches Problem gibt es auch beim grenzüberschreitenden Bahnfahren. Hier allerdings wurde eine Lösung gefunden, die es ermöglicht, Passagiere der Umsatzsteuerpflicht zu unterwerfen. Fährt beispielsweise ein Zug von Wien über Prag nach Berlin, fällt je nach Streckenabschnitt eine bestimmte Steuer an, erklärt ÖBB-Sprecher Bernhard Rieder: die österreichische, die tschechische und schließlich die deutsche. Beim Fliegen jedoch verändern sich die Routen häufiger als im Bahnverkehr, insofern wäre die Lösung nicht praktibabel. Es gäbe aber eine andere, weitaus unkompliziertere: Wie die Wifo-Forscherinnen Angela Köppl und Daniela Kletzan-Slamanig in einem Bericht für das Umweltbundesamt im Jahr 2016 anregten, könnte man die komplette Umsatzsteuer einfach im Land des Abflugs einheben. Eine sinnvolle Lösung -die allerdings internationale Kooperation erfordern würde. Die EU-weiten Regeln für Umsatzsteuern müssten geändert werden, wofür die Zustimmung jeder Regierung nötig wäre – Stichwort „Einstimmigkeitsprinzip“. Deshalb wird es auf absehbare Zeit wohl auch weiterhin heißen: Wer klimafreundlich die Bahn nimmt, wird dafür in steuerlicher Hinsicht nicht etwa belohnt, sondern vielmehr bestraft. Wegen der fehlenden Umsatzsteuer auf Flüge entgehen dem Staat Österreich jährlich rund 200 Millionen Euro, errechnete Wifo-Expertin Köppl.

Nicht nur die Umsatzsteuer scheitert an mangelnder Einigkeit, sondern auch die Abschaffung eines weiteren finanziellen Privilegs: Der Flugverkehr ist über weite Strecken vom sogenannten EU-Emissionshandel (ETS) ausgenommen. In dessen Rahmen müssen europäische Industrieunternehmen und andere große Emittenten Zertifikate erwerben, um CO2 ausstoßen zu dürfen. Der ETS gilt zwar auch für den Flugverkehr, aber nur, wenn sowohl Start als auch Ziel der jeweiligen Reise innerhalb der EU liegen. Um bis zu neun Euro wird ein Flugticket dadurch teurer, so eine Studie der EU-Komission vor einigen Jahren. Für Flüge in und aus Nicht-EU-Staaten jedoch gilt der ETS nicht. Immerhin handelt es sich in diesen Fällen um keine rein europäische Angelegenheit mehr. Die betroffenen Drittstaaten müssten zustimmen. Davon jedoch sind Länder wie die USA, China, Russland oder Indien derzeit weit entfernt. Im Jahr 2013 verboten die dort zuständigen Politiker ihren nationalen Airlines gar, sich den europäischen Regeln zu unterwerfen. Als Scharfmacherin fungierte damals übrigens eine US-Politikerin, die später als moderate Alternative zum polternden Donald Trump in den Ring stieg: Hillary Clinton, bis 2013 Außenministerin unter Barack Obama. Immerhin: Was Österreich betrifft, gibt es bereits ein kleines Gegengewicht zu den zahlreichen Privilegien für den Flugverkehr. Im Jahr 2011 -unter SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann – wurde die sogenannte Flugabgabe eingeführt, besser bekannt als Ticketsteuer. Die Regierung wollte damit einen gewissen Ausgleich zur fehlenden Kerosin-und Umsatzsteuer schaffen. Pro Ticket und Passagier waren sieben Euro auf der Kurzstrecke, 15 Euro auf der Mittelstrecke und 35 Euro auf der Langstrecke fällig. Rund 100 Millionen Euro spülte die Ticketsteuer jedes Jahr in den Staatssäckel.

Bis zum Frühjahr 2017. Da beschloss die Regierung unter SPÖ-Kanzler Christian Kern ohne viel Aufhebens, die Ticketsteuer zu halbieren. Bei Langstreckenflügen ist seither nur noch eine Abgabe von 17,5 Euro fällig. Eine Begründung für die großzügige Steuersenkung für eine ohnehin privilegierte Branche blieb die rot-schwarze Koalition schuldig. Auskunft gaben dafür Vertreter der Luftfahrtbranche : Eine geplante Milliarden-Investition in die Langstreckenflotte sei vorerst aufgeschoben, verkündete die Lufthansa-Tochter AUA – ausschlaggebend dafür sei unter anderem Österreichs Ticketsteuer. „Standortkosten und allen voran die Ticketsteuer sind Beschleuniger oder Entschleuniger (für Investitionen, Anm.)“, erklärte AUA-Sprecher Peter Thier gegenüber der Austria Presse Agentur: „Eine Reduktion würde eine Entscheidung leichter machen.“ Und so kam es auch. Eines zeigt die Episode um die Ticketsteuer recht deutlich: Wenn es um die Abschaffung von Privilegien geht, wird mit massivem Gegenwind aus der Branche zu rechnen sein.

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Eingeordnet unter Klimaschutz, Verkehr

Türkise Note

Aus dem profil 30/2019 vom 21.07.2019

Wer dieser Tage mit Parlamentariern spricht, hört manches Gemurre über das Umweltministerium, neuerdings geführt von der Expertenministerin Maria Patek. Das Haus, so die Kritik, betone auf seiner Website und in sonstiger Kommunikation allzu gern die umweltpolitischen Initiativen der ÖVP – während jene anderer Parteien unter den Tisch gekehrt werden.

Konkretes Beispiel: das Totalverbot von Glyphosat, kürzlich beschlossen von allen Parteien außer der ÖVP. Auf der Website des Ministeriums findet sich dazu kein Wort. Wohl aber wird etwa das Plastiksackerlverbot als Erfolg hervorgehoben, das von Ex-ÖVP-Umweltministerin Elisabeth Köstinger betrieben wurde.

Oder: das Wasserprivatisierungsverbot in der Verfassung. Dieses war zunächst ein SPÖ-Vorstoß, später zogen ÖVP und FPÖ mit. Auch hier: kein Wort auf der Ministeriums-Website – wiewohl sich andere Einträge durchaus um das Thema Wasser als öffentliches Gut drehen. Bläst durchs Umweltministerium immer noch der Wind der ÖVP? Keinesfalls, heißt es auf profil-Anfrage: „Wir weisen den Vorwurf vehement zurück. Für die Bereitstellung von Inhalten auf der Website sind Parteien völlig irrelevant und kein Maßstab.“ Und das Schweigen bei Glyphosat und Wasserprivatisierung? Das Glyphosatverbot bedürfe zunächst einer „einer rechtlichen Abklärung durch die EU-Kommission“, so Sprecherin Pia Mokros. Einen Eintrag zum Wasserprivatisierungsverbot indes werde man in den kommenden Tagen nachreichen. Gepp

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